Andrei Roum

Am Anfang

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                                                                                            Andrei Roum


Am Anfang war das Wort. Oder besser gesagt, ein paar Worte. Oder noch genauer, fünf: „Der Zähler ist für dich an, Malvina!“
Malvina selbst sah den Zähler nicht – darauf stand: 80 Minuten. Die Stimme hat nicht gehört, die die Worte gesagt hat. Sie spürte nur einige Wellen, die sie in ein riesiges buntes und farbenfrohes Theater namens Leben trugen. Diese Wellen diktierten implizit: „Kümmere dich zuallererst um Make-up, Tattoos und Jeans mit aufgerissenen Knien.“
Und Malvinas Leben begann sich wie ein fröhliches Karussell zu drehen.
„Das Wichtigste im Leben ist Liebe“, sendeten die Wellen Signale. Und Malvina verliebte sich in Pierrot. Er küsste ihre mit Lippenstift verschmierten Lumpenlippen und streichelte ihre hölzernen Knie durch ihre löchrigen Jeans hindurch. Die Malvina duftete nach frischem Lack und Pierrot war begeistert. Malvina und Pierrot bemerkten in ihrem Liebesrausch nicht, dass es auch viele andere Malvinas und Pierrots in der Nähe gab. Sie unterschieden sich nur durch die ihnen zugewiesenen Nummern. Und von wem? Einem Wellensender mit dem globalen Namen KI. Bei manchen hat sich der Lack bereits abgeblättert, bei anderen ist das Haar aus Bastfasern auf dem Kopf herausgekommen. Und es waren noch 5-10 Minuten auf dem Life Timer. Die dritten wurden – nach ihrem Daseinsablauf  – im Feuerraum verbrannt.
Ah, Liebe ist so eine schöne, aber launische Sache! Der romantische Pierrot verliebte sich in eine andere Malvina, die sich nicht viel von der vorherigen unterschied – mit den gleichen löchrigen Knien und Tätowierungen, aber mit einer anderen Nummer. Sie war dieselbe sinnlose Holzpuppe. Die Wellen haben so vorherbestimmt! Die verlassene Malvina riss sich vor Trauer die Haare (oder besser gesagt das Werg), aber nichts konnte geändert werden. Das ist das Schicksal der Malvinas. Doch das Glück kehrte dennoch in die trauernde Puppe zurück. Sie wurde von Pierrot Nr. 2047 abgeholt. Er hatte aber nur noch 25 Minuten auf dem Life Timer. Aber er wirkte edel, mit einer roten Schleife um den Hals und fuhr auf einer modischen Spielzeug-Blechdose, Auto von Miserati. Der neue Pierrot war im Geschäft und produzierte Fäden für den Fädenzieher hinter den Kulissen. Aber er wusste nichts davon. „Pecunia  non olet“— Geld stinkt nicht. Das Leben war reich und müßig. Die glückliche Malvina fühlte sich inspiriert und begann auf der Terrasse mit Blick auf den Kirschgarten des Ferienhaus ihres Freundes Gedichte zu verfassen. Auf dem Puppenportal Stories.Pu wurde sie sogar für eine weitere Minute nominiert! Ihre Gedichte waren beim hölzernen Publikum beliebt und Malvina hatte bereits 40.000 Kommentare erhalten, von denen die meisten spontane Reime waren. Ihr neuer (klappriger) Freund zuckte schweigend und angewidert angesichts dieser schrecklichen Verse zusammen, als Malvina sie ihm stolz zeigte und damit ihre wachsende Beliebtheit akzentuierte.
Am Wochenende ging das glückliche Paar im Park spazieren. Es waren Klickgeräusche von Pop-its zu hören. Jemand drehte Spinner. Jogger liefen über die sandigen Wege. Müde gingen die Liebenden in ein Café unter einem großen Kastanienbaum. Malvina trank einen modischen Tiki-Cocktail in einem kupfernen Elyx-Glas, stilisiert als Ananas, und der neue (schäbige) Freund trank einfachen Kaffee. Und das sogar ohne Milch. Und so wäre ihr reiches und eintöniges Leben bis zur letzten programmierten Minute geflossen, als etwas Unvorstellbares für die Wesenheiten aus dem Holzreich geschah. Und genau das geschah bei Malvina. Ihre Gedichte wurden immer trauriger. Sie beklagten sich zunehmend über die verstreichenden Minuten in einem sinnlosen Life on Time. Ihre Popularität begann zu sinken. Zu diesem Unglück kam noch ein weiteres  hinzu. Der Freund hat sich irgendwo den Baumwanzenvirus eingefangen. Er hat sein Geschäft verloren. Und sein hölzerner Körper wurde innerhalb der verbleibenden zwei Minuten seines Lebens von dem Käfer vollständig zu Boden gefressen. Die Überreste wurden im Ofen des Puppentheaters verbrannt.

Malvina weinte Tag und Nacht. Alle haben sie vergessen. Sie wurde allein gelassen, niemand kümmerte sich um ihr bitteres Schicksal. Und dann, eines Tages, nachdem sie  in den Park gegangen war, wo sie mit dem verstorbenen Pierrot Nr. 2047 ihre Freizeit verbrachte, ging sie in dasselbe Café, in dem sie gerne einen Tiki-Cocktail in einem kupfernen Elyx-Glas bestellte. Doch dieses Mal bestellte sie aus Pietät zum Gedenken an den Verstorbenen einfaches Mineralwasser ohne Gase. Und dann passierte es! Plötzlich wurde ihr Tisch durch das von oben kommende Licht erleuchtet, und eine Flasche Wasser flog in die Luft, kippte um und ergoss sich auf Malvina. Sie war völlig durchnässt und sie dachte, dass dies eine spöttische Attraktion des Cafébesitzers war, der um den Rückgang ihrer Popularität als Dichterin wusste. Doch dann hörte sie eine leise Stimme in ihren Ohren: „Du musst wiedergeboren werden und ewig leben. Dein neuer Name ist Maria.“ Verrückte Kunststücke! - dachte sie benommen. Sie vergaß zu bezahlen, sprang  aus dem Café und lief schnell nach Hause. Zu Hause fiel sie auf ihr Bett und versank in einem tiefen Schlaf. Als sie aufwachte, spürte sie Veränderungen in ihrem Körper. Sie befühlte sich selbst, und es war kein Holz, sondern lebendes Gewebe. Und am wichtigsten war, dass sie in ihrem Herzen, das wirklich schlug, eine unbeschreibliche Freude verspürte. Was ist mit ihr passiert? Warum mit ihr? Aber diese Fragen wurden von der großen Dankbarkeit bewältigt, die ihr neues, wiedergeborenes Wesen erfasste. Es klopfte an der Tür und echte Menschen kamen herein, keine Puppen. Sie sagten zu ihr: „Maria, komm mit uns.“ Und sie nahmen sie mit ins ewige Leben. „Willst Du etwas sehen, Maria“, sagte einer der geistlichen Brüder. Und er richtete ihren Blick nach unten. In einem tiefen, dunklen Verlies saß ein zottiges Wesen mit Hörnern und Hufen und zog die Fäden im Puppentheater, in diesem äußeren Holzreich.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.03.2024. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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