Thomas Wittwer

Die Gottesanbeterin Kapitel 2 Sommerwind - Revision1






Kapitel 2 Revision1


Martina hatte sich tatsächlich schon mit dieser Frage beschäftigt. Wenn Sie, die ja eigentlich gar keine Ahnung von Computern hatte, und erst recht keinen eigenen besaß, die Möglichkeit hätte selbst zu chatten, welchen Namen würde sie für sich wählen? Eine schwierige Frage. "Ich müßte mir das erst mal überlegen." ; antwortete sie zögernd. Hilfesuchend blickte sie nun zu Stefanie die sie lächelnd beobachtete. "Wenn du Zeit und Lust hast können wir ja ab und zu gemeinsam hier an meinem Computer chatten." ; Martina nickte begeistert. Die Möglichkeit mit anderen Menschen in Kontakt treten zu können ohne ihnen direkt gegenüber zu stehen oder gar Blickkontakt zu haben gefiel ihr. Auch die Idee mit der anderen Identität die ihr ein solcher Nickname ermöglichte beflügelte ihre erwachende Fantasie. Für sie schien dieses Chatten wie Karneval zu sein. Sie könnte in ein Köstum - in eine Rolle schlüpfen - und niemand käme hinter ihr Geheimnis wenn Sie es nicht wollte. Sie schaute zu Stefanie und ihre Blicke trafen sich für einen Moment. Normalerweise hätte sie den Blick sofort wieder abgewandt, aber diesmal war es irgendwie anders. Doch schon nach wenigen Sekunden senkte Martina ihren Blick. Hilfesuchend fixierte sie nun den Computer und sagte schnell ; "wäre jedenfalls echt nett von dir."
"Mach' ich doch gerne. Wir können dann ja morgen Abend nach meinem Vorstellungsgespräch weitermachen." Martina nickte zustimmend und wollte jetzt gehen. Endlich rauchen.
"Ja, ist gut. Ich muss dann jetzt auch langsam mal nach Hause." Die beiden erhoben sich. Martina zupfte ihren Pulli zurecht und wartete bis Stefanie vorausging. Sie griff nach ihrem Mantel und verabschiedete sich mit den Worten ;
"Also dann bis morgen Abend."
"Ja. Ich ruf dich an wenn ich zurück bin."

Martina blieb an diesem Abend noch sehr lange auf. Immer wieder kreisten ihre Gedanken um das Chatten und die Möglichkeiten die sich dadurch für sie boten. Als sie am nächsten Morgen um 06:10 Uhr zum zweiten Mal die Schlummertaste ihres Radioweckers drückte, hoffte sie das dieser Tag möglichst schnell vorübergehen würde. Keine 5 Stunden hatte sie geschlafen. Sie drehte sich noch einmal zur Seite und gelobte beim nächsten ertönen des Radioweckers aufzustehen. Es gelang ihr tatsächlich an diesem Morgen pünktlich die Straßenbahn und ihren Arbeitsplatz zu erreichen. "Genau wie an jedem Tag" ; sagte sie zu sich und steckte ihre Stempelkarte in den Anwesend-Bereich der Mitarbeitertafel. Sie mußte grinsen. Niemand bemerkte es. Martina arbeitete bei einem kleinen Verlag der Dekorbilder herstellte. Meist stellte sie die Aufträge für den Versand zusammen, aber manchmal durfte sie auch an einer der Maschinen arbeiten die diese bunten Aufkleber herstellten. Heute teilte der Abteilungsleiter sie für den Auslandsversand ein. Geschenkpapierrollen für Australien zusammenstellen. Nett. Da mußte sie sehr konzentriert arbeiten und konnte nicht, wie sie es sich erhoffte, abschalten und ihren eigenen Gedanken nachhängen. "Dafür geht die Zeit schnell um" dachte sie sich und ging in Richtung Versandlager. Die Stunden schlichen jedoch nur langsam dahin. Viel zu oft schaute Martina auf die Uhr. Sie war müde und irgendwie aufgewühlt. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zum gestrigen Abend bei Stefanie zurück. Sie stellte sich vor wie sie am Computer sitzen würde und mit den nettesten Männern flirten würde. Genau so, wie Stefanie es getan hatte. Sie spielte in Gedanken einiges durch und erschrak immer wieder über die Tatsache, das Sie gar nicht so spontan und locker war wie sie es sich erhoffte. Dann nahm sie sich einfach den nächsten Auftrag vor und versuchte es einige Zeit später wieder.

16:00 Uhr. Endlich Feierabend. Martina kaufte auf dem Heimweg noch ein paar Kleinigkeiten ein und freute sich nun auf ihr Sofa. Endlich liegen. Zu hause schlüpfte sie in ihre heissgeliebten Wohlfühlsachen. Eine dunkelblaue, alte, abgetragene Jogginghose aus Baumwolle und ihr Sweatshirt mit dem Aufdruck "J O Y". Jetzt ging es ihr schon besser. Sie ging in die Küche und überlegte wonach ihr heute war. Da sie aber keine große Lust zu kochen hatte, beschloß sie, sich mit einer heissen Tasse Tütensuppe zufriedenzugeben. Ochsenschwanzsuppe. Martina mußte grinsen. Sie gab Wasser in eine große Tasse, stellte sie in die Mikrowelle und schaltete auf 2 Minuten. Diese Zeit nutzte sie um die Post, die sie achtlos auf den Küchentisch gelegt hatte, durchzusehen."Wieder nur Müll" ; dachte sie und warf alles in den Altpapier Karton. Sie holte noch ihren Lieblingssuppenlöffel aus dem Besteckkasten als die Mikrowelle sich mit P-I-N-G fertig meldete. Sie nahm die Tasse vom Drehteller und schüttelte und klopfte noch einmal die Tütensuppe. Vorsichtig schnitt sie die Verpackung an der Nahtstelle auf und schüttete den Inhalt in das eben noch sprudelnde Wasser hinein. Sie rührte neun mal um und ging dann langsam mit der dampfenden Tasse zu ihrem Wohnzimmertisch, setzte die Tasse auf dem Platzdeckchen ab und ließ sich ins Sofa fallen. Die Suppe mußte noch ziehen.
Darum griff sie nach einer Zigarette und schaltete den Fernseher ein. Sie zappte sich durch die Kanäle aber nichts von alledem was um 17:00 Uhr geboten wurde konnte ihr Interesse wecken. Gelegentlich rührte sie in ihrer Suppe und probierte. Der Liebesroman, der auf ihrem Wohnzimmertisch lag, schon gestern bereits unberührt, konnte sie auch heute nicht dazu ermuntern in ihm weiterzulesen.

Martina drückte ihre Zigarette aus und war schon wieder bei Kanal 1 im TV angelangt. Also wieder von vorne. Martina zappte gelangweilt weiter. Auf Kanal 6 oder 7 lief gerade Werbung. Ein Notebook zum Preis von 999 € wurde dort angeboten. So viel Geld für einen so kleinen Computer, dachte sie. Sie fragte sich wie teuer dann erst der von Stefanie gewesen sein mußte. Der war vergleichsweise riesig und stand neben ihrem Schreibtisch auf der Erde. Auch der Monitor auf Stefanie's Schreibtisch war viel größer. Sie schätzte den Wert von Stefanie's Computer auf rund 5000 € mit allem drum und dran. Dann aber ertappte sie sich bei dem Gedanken, daß so ein kleiner flacher Computer aber auch Vorteile hätte. Beispielsweise nehme er nur sehr wenig Platz in Anspruch, sehe sehr schick aus und wäre überall mit hinzunehmen. Sie grinste wieder. Ja, sogar auf's Klo könnte sie ihn mitnehmen. Aber 1000 € ? War ihr der Spaß wirklich soviel wert ? Sie verhandelte nun mit sich selbst und meinte, daß 1000 € ja wenig im Vergleich zu den 5000 € wären. Schließlich überwog wieder ihre Nüchternheit und sie beschloß erst einmal abzuwarten. Sie würde ja noch genug Gelegenheit an Stefanie's Computer bekommen, hoffte sie. Vielleicht könne Stefanie sie ja auch beraten. Das Telefon klingelte. Wer konnte das sein ? Stefanie vielleicht ?
" Ewert ? " ; meldete sie sich leise.
"Ich bin's Stefanie ! Na wie geht's dir ? " ; trällerte es aus dem Hörer.
" Hallo Stefanie, danke, gut " ; Martina freute sich.
"Ich wollte fragen ob es bei dir was neues gibt. Hast du dir schon einen Namen für's Chatten überlegt ?"
" Nein, noch nicht. Ich denke noch darüber nach. Vielleicht kannst du mir ja helfen."
"Klar doch. Ich überleg' mir was für dich... Ich muß gleich los... Ich meld' mich dann, wenn ich wieder zurück bin, ja ?"
" Ja, gerne. "
"Ich freu mich schon. Tschauh-hau. Mach's guh-hut !"
" Ja, ich freu mich auch schon. Tschauh-hau. " ; Martina legte den Hörer auf. Sie schlürfte nachdenklich ihre Suppe.

Welchen Namen sollte sie nur nehmen ? Irgendwas Originelles, was neugierig macht.
Aber was ? Auf gar keinen Fall -Graue Maus- oder sowas in der Art. Sie nahm sich die Fernsehzeitung und suchte einen Stift der irgendwo auf dem Tisch liegen mußte. Sie fand ihn neben der Fernbedienung des Videorekorders. Sie löste manchmal Kreuzworträtsel, aber danach war ihr jetzt nicht. Sie blätterte die Zeitschrift langsam durch, immer auf der Suche nach einer Überschrift oder einem Bild das ihr als Inspiration dienen konnte. Worte oder Bilder die ihr Interesse weckten kreiste sie kurzerhand ein. Daneben schrieb sie dann Beispielsweise Fliegenpilz oder was ihr sonst noch in den Sinn kam. Es schien zu funktionieren. Ihre Fantasie erwachte. Neben ihrem Telefon lag immer ein kleiner Notizblock den sie nun neben die Zeitschrift legte. Sie notierte darauf ihre Favoriten. Aber je mehr Gedanken sie sich dann zu einem Namen machte und überprüfte was der Name mit ihr gemeinsam habe, desto resignierter wurde sie. Von den 8 Favoriten auf ihrem Notizblatt hatte sie schon wieder 6 durchgestrichen. Blieben nur noch 2. Sommerwind und Fliegenpilz.

Sommerwind fand sie schön. Überhaupt war der Sommer ihre Jahreszeit. Wenn es heiß war und der Wind ihre Haut kühlte, das Gefühl mochte sie. Aber passte der Name zu ihr ? Sommer, gute Laune, Ausgelassenheit, -verliebt sein. Nein, das waren nicht wirklich ihre Attribute. Dennoch strich sie den Namen nicht durch. Sie machte sich weiter auf die Suche, diesmal im Fernsehen, um wenigstens noch einen dritten Namen auf ihren Zettel schreiben zu können. Wieder zappte sie sich durch die Kanäle und stoppte bei einem Bericht über einen Vulkan.
"Vulkanausbruch... heiß wie ein Vulkan... Nicht schlecht."
Aber sie hatte nicht den Mut es zu notieren. Stefanie hätte sie sicher ausgelacht. Es verging eine ganze Weile bis sie sich auf ihrem Sofa aufsetzte und doch noch einen dritten Namen auf ihren Zettel schrieb. -Heuschrecke- . In Scharen konnten sie zu einer Plage werden, aber eine einzige war harmlos. Das paßte zu ihr, harmlos. Heuschrecke fand sie nun bereits sogar besser als Sommerwind. Sie verglich ihren Namen mit -Imker-, -Willy Wutz- und -Stachelbeere. " Ist in Ordnung "sagte sie zu sich und legte zufrieden den Block wieder neben das Telefon. 19:15 Uhr war es mittlerweile.
Sie zog sich um. Jeans und Pulli. Stefanie würde sicher bald anrufen. Hoffentlich.
Gegen 20:00 kam dann der ersehnte Anruf.
Mantel anziehen, Licht ausmachen und Tür schließen geschahen nahezu gleichzeitig. Martina rannte über die Straße und ging schnellen Schrittes die knapp 100 Meter bis zu Stefanie's Wohnung. Jemand verließ gerade das Haus und Martina haste die Treppe hinauf in den ersten Stock. Sie wurde an der Wohnungstür bereits erwartet. "2 Minuten , nicht schlecht"; feixte Stefanie. Sie bat die etwas außer Atem geratene Martina herein und nahm ihren Mantel entgegen. Die beiden machten es sich im Wohnzimmer gemütlich. Während Stefanie von ihrem Vorstellungsgespräch erzählte schenkte sie Martina Tee ein.
"Der Meissner war ganz nett. Er meinte, ich würde gut ins Team passen."
"Ich drück dir jedenfalls die Daumen"; sagte Martina und bemerkte in diesem Moment, daß sie ihren Zettel mit den 3 Namen vergessen hatte. Egal. Konnte sie ja auswendig.
"Hoffentlich lassen die mich nicht so lange zappeln ... Ach ... hätt ich fast vergessen!"
Stefanie huschte in den Flur und holte einen zerknitterten Zettel aus ihrer Jacke.
"Ich hab mir 2 Namen für dich überlegt ! "; sagte sie und faltete ihn auf.
"Ich hab mir auch welche überlegt, aber fang' du zuerst an."; sagte Martina.
"Gut - Wie findest du denn 'Sunshine' ?"; fragte sie erwartungsvoll.
Martina gefiel der Name. Aber was Englisches ? -Heuschrecke- fand sie besser.
"Nett. und der zweite ?"; fragte sie neugierig. Stefanie grinste. "Amazone."
"Cool"; sagte Martina sichtlich begeistert. Da kam -Heuschrecke- nicht mehr mit.
"Und jetzt du. Welche Namen hast du dir überlegt ?"; fragte Stefanie.
"Also ich hab' 3 zur Auswahl: Fliegenpilz ... und Sommerwind ..."
"Und der dritte ?"; fragte Stefanie neugierig, sicher das 'Amazone' siegen würde.
"... und Heuschrecke."; Martina war erleichert. Sie trank einen Schluck Tee.
Stefanie überlegte kurz. Heuschrecke war ihr zu klein und harmlos. Andererseits war der Name 'Amazone' für Martina auch nicht gerade das Gelbe vom Ei. Ihre Fantasie spielte ein wenig mit den beiden Begriffen und plötzlich funkte es. Ja. Perfekt !
"Ich hab's !!!"; sagte sie begeistert. "Was denn ?"; fragte Martina gespannt.
"Wie würde dir 'Gottesanbeterin' gefallen ?"




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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.03.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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