Reinhard Schanzer

Die Wurst

Seinen Vater hatte er nie gekannt.
Er hatte ihn auch nie vermißt, denn seine kleine Welt hatte ja alles, was er brauchte:
Da waren seine Großmutter und sein Großvater, die sich beide recht liebevoll um ihn kümmerten, wenn ihre Zeit es erlaubte. Außerdem gab es einen Onkel und mehrere Tanten, die aber nur abends nach der Arbeit oder am Wochenende nach Hause kamen.

Zu einer von diesen Tanten hatte er gelernt, Mama zu sagen. Er hatte nie groß über den Sinn dieses Wortes nachgedacht und daß diese Tante eigentlich seine Mutter war, wurde ihm erst in viel späteren Jahren bewußt.
Mutti und Vati hatte er nur seine Großeltern genannt.

Er war am Rande eines kleinen Dorfes aufgewachsen, wo jeder jeden kannte. Seine Großeltern hatten eine kleine Landwirtschaft mit zwei Kühen, einem Kalb, zwei Schweinen, einer Ziege und einigen Hühnern. Davon konnten sie eher schlecht als recht leben.

Er wuchs in ziemlich ärmlichen Verhältnissen auf, aber das spielte für ihn überhaupt keine Rolle, denn er kannte es ja nicht anders. Er hatte nie etwas vermißt.
Die beiden Kühe wurden bei der Feldarbeit vor den Wagen oder vor den Pflug gespannt.
Ein Pferd für diese Arbeiten konnten sich seine Großeltern nie leisten und einen Traktor erst recht nicht. Nur der größte Bauer im Dorf hatte bereits einen Traktor, aber der hatte ja auch über 10 Kühe und ein Pferd.

Die Milch von den beiden Kühen - falls sie überhaupt welche gaben - wurde zu Butter geschlagen und mit den Eiern von den Hühnern und dem Hafer vom Feld verkauft, um dafür in dem kleinen Krämerladen im Dorf andere Lebensmittel kaufen zu können.
Brot wurde mehrmals im Jahr selbst gebacken, dazu hatte seine Großmutter immer den kleinen Stein- Backofen angeheizt, der sich vor dem alten Bauernhaus befand.
Die meiste Zeit aber gab es Kraut und Kartoffeln. Davon hatte man genug, denn das hatte man auf den eigenen Feldern angebaut.  Wirklich hungern mußte also niemand.
Fleisch gab es nur einmal in der Woche und zwar Sonntags.
Zwar auch nur ein kleines Stückchen, denn das größere Stück war immer dem Großvater vorbehalten, aber wie bereits gesagt - er vermißte es nicht.

Elektrisches Licht gab es ebenfalls nicht, aber Großvater hatte immer eine Karbidlampe, die - falls sie überhaupt funktionierte - mit ihrem spärlichen Licht an langen, finsteren Winterabenden die kleine Stube in eine ganz heimelige Atmosphäre tauchte.
Zum Geschichtenerzählen reichte es allemal und auch die nicht mehr ganz so neue Ausgabe vom „Altbayrischen Heimatkalender" konnte man damit noch lesen.

Lesen konnte er natürlich noch nicht, aber darin waren auch immer einige Bilder, u.a. auch von dem schrecklichen, pechschwarzen „Kohlenklau", vor dem er immer etwas Angst hatte.
In dieser kleinen Stube waren dann auch die beiden Katzen, die sich schnurrend eng an ihn schmiegten und sich gerne von ihm kraulen ließen.

Im Sommer dagegen ging er oft mit der Großmutter in den Wald, um Heidelbeeren zu pflücken und Pilze, Reisig und Tannenzapfen zu sammeln.
Wenn der kleine Leiterwagen endlich voll war, ging es wieder nach Hause und er half seiner Großmutter beim ziehen, so gut er konnte.
Die Heidelbeeren wurden für ein paar Pfennige an den kleinen Krämerladen verkauft, die Pilze, das Reisig und die Tannenzapfen dagegen zum Kochen und Heizen verwendet.
Es war immer eine ganz tolle Atmosphäre, wenn die Tannenzapfen in dem großen Holzofen knisterten und einen angenehmen Geruch in der kleinen Stube verströmten.

Als er knapp 5 Jahre alt war, kam des öfteren ein fremder Mann ins Haus, vor dem er auch Angst hatte. Dieser Mann kam fast jedes Wochenende, zumeist mit einem alten Moped.
Die meiste Zeit unterhielt sich dieser fremde Mann mit seiner vermeintlichen Tante und beide lachten oft über den größten Unsinn.
Dem kleinen Jungen war er jedoch stets Unheimlich und er war immer heilfroh, wenn er endlich wieder weg war. Erst dann war seine kleine Welt wieder in Ordnung.

Dieser fremde Mann hatte es sich irgendwann in den Kopf gesetzt, daß der kleine Junge Papa zu ihm sagen sollte, aber dieses Wort kam nie über seine Lippen.
Zwar wußte er überhaupt nicht, was dieses Wort bedeutete, aber er konnte es trotzdem nicht über die Lippen bringen.
Eines Tages war Kirchweihfest im Nachbardorf, das eine eigene, schöne Kirche hatte.
Es war ein herrlicher, sonniger Sonntag im Frühling. Seine Mamatante hatte ihn in einen selbstgenähten Anzug gesteckt, seine Haare gekämmt und ihn fein herausgeputzt.
Auf einem ausgefahrenen Feldweg ging es zu Fuß ins nahegelegene Nachbardorf, von wo man schon die Glocken läuten hörte.
Nur... Der fremde Mann kam dabei leider auch dorthin mit.

Da gab es viele Stände und Buden mit allerlei Sachen, die der kleine Junge noch nie vorher gesehen hatte: Bunte Luftballons, glitzernde Spielsachen, Bonbons, Lebkuchenherzen und etliches mehr.
Von überall her wehten ihm völlig unbekannte, wohlriechende Düfte in die Nase. Die Augen wollten ihm übergehen beim Anblick dieser vielen unbekannten Dinge.

An einem dieser Stände kaufte der fremde Mann ein Lebkuchenherz, das er seiner Mamatante um den Hals hing, an einem anderen Stand kaufte er eine kleine, geräucherte Salami.
Auf dem Heimweg zog er diese Wurst aus der Tasche, schnitt sie mit seinem Taschenmesser an und ließ den kleinen Jungen kurz daran riechen.
Es war ein ganz unbeschreiblicher Geruch. Dem kleinen Jungen, der noch nie in seinem Leben so etwas köstliches gerochen, geschweige denn gegessen hatte, lief bereits das Wasser im Munde zusammen und seine Augen wurden groß und glänzend.

Mit einer Hand wollte er nach dem angeschnittenen Wurstzipfel greifen, aber der Mann zog seine Hand plötzlich zurück.
Der fremde Mann sprach zu ihm: „Wenn Du jetzt Papa zu mir sagst, dann bekommst du die ganze Wurst und darfst sie ganz alleine aufessen".

Der kleine Junge war völlig hin- und hergerissen: Da war dieser unbeschreibliche Geruch von dieser Wurst, andererseits war da dieses Wort, das er aus unerklärlichen Gründen noch nie über die Lippen brachte. Was sollte er nur tun?

Ratlos blickte er seine Tante an, die ja in Wirklichkeit seine Mutter war.

„Dann sag doch schon endlich Papa zu ihm, dann bekommst Du auch die Wurst", meinte sie leichtfertig.

Der kleine Junge spürte einen ganz dicken Kloß im Hals, die Tränen schossen ihm in die Augen und er lief weinend weg. Quer über die Blumenwiese hinweg zum Waldrand, wo er über eine Wurzel stolperte und dabei seinen nagelneuen Anzug verschmutzte.

Es dauerte eine Weile, bis seine Mutter ihn eingeholt hatte und wieder zurückbrachte.

Wegen dem verschmutzten neuen Anzug bekam er heftige Schelte von ihr, aber das war ihm eigentlich völlig egal in diesem Augenblick.
Er konnte beobachten, wie dieser fremde Mann mit seinem Taschenmesser Scheibe für Scheibe von dieser köstlichen Hartwurst abschnitt und lachend ganz alleine aufaß, bis nichts mehr davon übrig war.

Das Wort Papa hat er seitdem nie über seine Lippen gebracht, aber den Duft von dieser Wurst hat er sein Leben lang nie vergessen...

Diese Geschichte ist der erste Teil einer Biographie mit dem Titel: "Der Bastard"

Etwas mehr Leserkommentare wären sicherlich ein Anreiz, weitere Geschichten zu schreiben.
Ehrliche Meinung (auch Kritik) ohne Lobhudelei ist gefragt.
Schließlich möchte man ja wissen, ob und wie diese Story`s beim Leser überhaupt ankommen?
Reinhard Schanzer, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.07.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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