Nadja Rohner

Der Schneesturm

„Wow! Tobias! Komm mal her und sieh dir das an!“ Ein Freudenschrei zog durch das ganze Haus und verhallte ungehört, was Samantha aber nicht wirklich störte. Mit glänzenden Augen stand sie am Fenster in ihrem Zimmer und blickte in die Morgendämmerung hinaus. Die ersten Sonnenstrahlen tasteten sich durch den Nebel und enthüllten die frisch verschneite Landschaft. Seit Tagen schon warteten die Menschen auf den lange angekündigten Schneefall. Nun, in dieser Nacht hatte der Himmel alles gegeben. Die Felder, die Bäume, die Häuser, alles war mit einer dicken Schneeschicht überzogen. Samantha blieb am Fenster stehen und sah zu, wie sich die Sonne langsam hinter dem Hügel hervorhob. „Es wird ein schöner Tag werden“, dachte Samantha, „die Sonne wird den Nebel schon vertreiben.“ Der Anblick, der sich ihr bot, war so überwältigend, dass sie alle Müdigkeit vergass. Sie wandte sich vom Fenster ab, zog sich einen Morgenmantel über, öffnete ihre Zimmertür und trat in den Flur. Nur ein paar Schritte nach links und schon stand sie wieder vor einer Tür. Samantha hob die Hand um anzuklopfen, liess sie aber auf halbem Wege wieder sinken, drückte die Klinke nach unten und schob die Tür energisch auf. „Tobi! Aufwachen! Der erste Schnee ist da!“, rief sie hinein. Aus dem Bett in der Ecke kamen einige gegrunzte Laute, die Decke bewegte sich ein wenig und dann tauchte ein Kopf mit verstrubbeltem Haar auf. „Was willst du denn schon hier? Lass mich in Ruhe, es ist Samstag! Ich will schlafen!“ Tobi war alles andere als erfreut über Samanthas Besuch. Sie lachte jedoch nur. „Schlafen kannst du wenn du tot bist. Na los, steh schon auf. Du musst sowieso noch vor dem Frühstück zum Bäcker, wir haben kein Brot mehr.“ „Kannst nicht du ausnahmsweise für mich gehen? Ich decke dafür den Tisch und wasche freiwillig ab.“  „Hättest du wohl gerne! Gestern habe ich für dich schon den Meerschweinchenkäfig ausgemistet! So wie die Viecher gestunken haben, bist du mir noch einen Riesengefallen schuldig.“ Grummelnd stand Tobias auf. „Schwestern“, dachte er, „man sollte sie allesamt einsperren“. Während er sich anzog verflog jedoch seine Wut. Im Grunde war seine Schwester gar nicht so übel. Die beiden hatten schon immer ein sehr gutes Verhältnis zueinander gehabt. Ausserdem sah man auf den ersten Blick, dass Samantha seine Schwester war, denn beide waren gross gewachsen, hatten blondes Haar, grüne Augen und sehr ähnliche Gesichtszüge. Als sie beide noch kleiner waren, waren sie oft umgezogen, weil ihr Vater Arzt war und oft in andere Krankenhäuser versetzt wurde. Damals hatten Tobias und Samantha wenige Freunde und spielten fast immer nur zusammen. Seit ein paar Jahren jedoch hatte ihr Vater eine feste Anstellung als Chefarzt in einer renommierten Klinik. Seitdem waren sie nicht mehr umgezogen, Samantha und Tobi hatten jeder für sich einige gute Freunde gefunden. Trotzdem sah sich Tobi immer noch ein bisschen als Samanthas Beschützer. Mit der Zeit hatten sie sich jedoch ein wenig auseinander gelebt. Umso mehr freuten sich die Geschwister nun auf den bevorstehenden Skiurlaub. Zum ersten Mal würden die Beiden nicht mit den Eltern wegfahren, sondern zusammen mit zwei Freunden Urlaub machen. Es war ein gutes Stück Überredungskunst gewesen, ihre Eltern davon zu überzeugen, dass Samantha mitfahren durfte. Bei Tobi gab es kein Problem, er war vor ein paar Wochen 18 Jahre alt geworden und konnte nun mehr oder weniger tun und lassen was er wollte. Seine Schwester war aber erst 15, ein Alter, in dem man noch nicht alleine in die Ferien fahren sollte, so war jedenfalls die Meinung von Samanthas Mutter. Ihr Vater sah das Ganze wesentlich gelassener, und so konnten sich die beiden Geschwister auf die Vorbereitungen stürzen. Sie hatten eine Ferienwohnung in einem kleinen Bergdorf gemietet. Im Sommer waren sie schon oft da gewesen. Es gab einige gute Pisten und für abends eine kleine Dorfdisco. Ausserdem galt das Gebiet als absolut Schneesicher.

 

 

 

Nach fast zwei Stunden Zugfahrt kamen sie endlich im Dorf an. „Kann mir mal jemand sagen wo wir hin müssen?“ fragte Florian und sah sich etwas verloren am Bahnhof um. Er war zum ersten Mal hier, obwohl er seit Jahren jeden Winter zum Snowboarden in die Berge fuhr. Tobi hatte ihn eingeladen mitzukommen, und Flo hatte nicht lange überlegt. Seit Jahren schon war er Tobis bester Freund. Er war zwischendurch noch ein paar Monate mit Samantha zusammen gewesen, aber irgendwann waren die Gefühle abgeflaut und nun verband sie nur noch gute Freundschaft.

 

„Warte mal.. Hmmm…“ Tobi suchte vergeblich in seiner Tasche nach dem Zettel, auf dem der Vermieter ihm den Weg zur Ferienwohnung aufgezeichnet hatte. „Komische Sache, vorhin war der doch noch da!“

 

„Hast du ihn etwa als Taschentuch benutzt und weggeworfen?“

 

„Nee du Knalltüte, dazu benutze ich meist grössere Geldscheine.“ Tobi verdrehte die Augen und wandte sich um. „Wo sind bloss Samantha und Tim? Die waren doch eben noch hinter uns.“

 

„Wahrscheinlich sind sie mal eben pinkeln gegangen.“

 

„Hey, Tim! Saaaaamanthaaa!“

 

„Was schreist du denn so?“ Samantha war hinter einer Plakatwand hervorgetreten. „Schaut mal was hier steht: Am Samstag in einer Woche findet ein Fondue-Essen in dem Restaurant bei der Bergstation statt. Was meint ihr, sollen wir da mal vorbeischauen?“

 

„Ich hätte auf jeden Fall Lust dazu“, antwortete Florian, und auch Tobi nickte zustimmend.

 

„Aber vorher sollten wir Tim finden und danach die Ferienwohnung.“

 

„Tim ist auf dem Klo, er kommt gleich“, sagte Samantha, „Ihm ist etwas übel von der langen Zugfahrt.“

 

„Willst du nicht zu ihm gehen und sein Händchen halten?“, fragte Tobi und gab seiner Schwester einen Klaps. Samantha fühlte wie ihr das Blut ins Gesicht schoss und sie errötete, eine Eigenschaft, die sie schon immer gehasst hatte. Warum musste Tobi sie auch immer mit solchen Anspielungen ärgern? Es war ein Fehler gewesen ihm zu sagen dass sie schon lange für seinen Kumpel Tim schwärmte.

 

„Da kommt er ja“, sagte Flo schnell. Ihm war der Blick nicht entgangen, den Samantha ihrem Bruder zugeworfen hatte.

 

Tim sah wirklich nicht gut aus. Er war sehr blass und machte den Anschein, als ob er sich jeden Moment übergeben würde. „Entschuldigt dass ich einfach abgehauen bin, aber mir ist kotzübel. Lasst uns schnell in die Wohnung gehen, ich muss mich etwas hinlegen.“

 

„Ich koch dir einen Tee“, bot Samantha an und Tim nickte dankbar. Tobi wollte etwas sagen, verkniff sich dann aber jeglichen Kommentar. Gemeinsam machten sie sich auf die Suche nach ihrer Unterkunft.

 

 

Es wurde eine herrliche Woche, die die vier Freunde gemeinsam verbrachten. Am Sonntagabend würden sie wieder nach Hause fahren, deshalb beschlossen sie, als krönenden Abschluss an dem Fondue-Essen im Bergrestaurant teilzunehmen.  Es stand fast auf dem Gipfel und die Aussicht war bei guter Wetterlage atemberaubend schön. Leider zogen am Nachmittag schon dichte Wolken auf. „Sollen wir wirklich noch da rauf?“, fragte Flo die Anderen. „Dieses diffuse Licht gefällt mir gar nicht. Womöglich gibt es einen Schneesturm. Bei solchem Wetter in der Gondel zu sitzen ist nicht sehr angenehm.“

 

„Quatsch. Wenn es wirklich einen Schneesturm geben sollte können wir ja immer noch früher wieder nach Hause fahren.“, entgegnete Tobi. „Los, wir gehen!“

 

Und wie es halt so ist, wenn man schöne Stunden verbringt, kann es schon mal passieren, dass man die Zeit vergisst. Als das Restaurant um Mitternacht seine Pforten schloss, war die letzte Gondel bereits ins Tal gefahren.

 

„Verdammt“, fluchte Tim, „Jetzt haben wir echt ein Problem! Wie kommen wir wieder ins Tal?“

 

„Wir fahren runter“, beschloss Samantha. „Hier können wir ja nicht übernachten. Kommt, gehen wir mal raus.“

 

Als sie aus dem Gebäude traten schlug ihnen eiskalter Wind entgegen. Schneeflocken wirbelten herum, sodass man kaum die Hand vor den Augen sehen konnte.

 

„Seit ihr wahnsinnig? Bei diesem Wetter wollt ihr bis ins Tal fahren? Habt ihr eine Vorstellung davon wie weit das ist?“ Flo war alles andere als begeistert.

 

„Wir haben ja keine andere Wahl. Kommt schon!“

 

„Nein Tobi! Wir werden uns verirren“, sagte Samantha, „Bei diesem Sturm kommen wir leicht von der Piste ab!“

 

„Ich kenne den Weg.“

 

Tobi sah seine Freunde und seine Schwester der Reihe nach an. Er war zwar nicht der älteste, denn Flo war zwei Monate früher geboren und Tim war nur wenig jünger als er, aber er fühlte sich verantwortlich für die andern. Sie waren die Piste schon die ganze Woche mehrmals täglich heruntergefahren. Er würde seine Freunde schon heil von diesem Berg ’runterbringen!

 

„Hey, wir schaffen das schon! Zieht eure Skis und Boards an und dann bleibt dicht hinter mir!“

 

Ohne zu protestieren folgten sie ihm. Samantha versuchte, die Orientierung beizubehalten, aber schon nach wenigen Minuten wusste sie nicht mehr, wo sie sich befanden. Der Sturm schien immer heftiger zu werden, sie musste dagegen anbrüllen: „Tobi! Tobias! Bist du dir sicher dass wir hier richtig sind?“

 

„Ja, ich glaube schon.“

 

Flo brach in hysterisches Lachen aus. „Er glaubt dass wir richtig sind! Toll! Verdammte Scheisse, es geht hier nicht drum was du glaubst! Du hast gesagt du kennst den Weg!“

 

„Das tu’ ich auch! Da vorne kommt links ein Waldstück, das muss eine Abkürzung sein. Wenn wir da durchfahren müssten wir in etwa zwanzig Minuten im Tal sein!“

 

„Tobi, bist du sicher dass da wirklich eine Abkürzung ist?“ Samantha hatte Angst. Es war stockdunkel, der Sturm heulte und warf sie beinahe um. Schneeflocken prasselten gegen ihr Gesicht. Es fühlte sich an, als ob sie 1000 Nadeln gleichzeitig stechen würden. Tobi drehte sich um und glitt zu ihr. Er nahm sie fest in den Arm und flüsterte ihr ins Ohr: „Hab keine Angst Sam. Ich weiss schon was ich tue. Wir sind bald wieder zu Hause, okay?“

 

„Hoffentlich..“ , sagte Samantha nur.

 

Sie fuhren weiter, runter von der offiziellen Piste und in das Waldstück hinein. Der Hang war sehr steil abfallend und trotz der Bäume tief verschneit. „Hier lang“, schrie Tobi nach hinten. Plötzlich spürten sie es alle. Unter ihren Brettern knackte es. Es war das schaurigste Geräusch dass sie je gehört hatten. Das Knacken durchschnitt das Heulen des Sturms wie ein Dolch. Der Boden unter ihnen gab nach und alle vier stürzten den Abhang hinunter.

 

 

Samantha flog. Sie flog immer weiter, über Berge und Täler, zwischen den Wolken. Da, plötzlich sah sie einen wunderschönen Vogel über ihr. Er gefiel ihr. Sie wollte mit dem Vogel fliegen. Ob sie höher steigen könnte? Auf ein Mal wurden ihre Glieder schwer wie Blei. Sie sank immer tiefer, doch der Vogel kam näher. Viel näher. Sie blickte zu ihm auf. Er war nun unmittelbar über ihrem Gesicht. Seine Flügel streiften ihr Gesicht, immer wieder. Sie hörte Stimmen. Konnte der Vogel sprechen? Sie wollte ihn rufen, doch ihre Zunge gehorchte ihr nicht. Um sie herum wurde es dunkeler, die Flügel streifen immer noch über ihr Gesicht, die Stimme wurde lauter… Und plötzlich war alles dunkel…“Samantha!!“

 

Samantha öffnete mühsam die Augen. Sie sah kaum etwas, musste blinzeln, weil ihr etwas kaltes, nasses ins Auge gefallen war. „Sam! Gottseidank. Hey, hörst du mich?“ Flo wischte ihr mit seinem Handschuh den Schnee vom Gesicht. „W-w-was ist passiert“, fragte Samantha mit zitternder Stimme. „Ich weiss es nicht. Wir sind irgendwie abgestürzt.“ „Wo sind Tobi und Tim?“

 

„Keine Ahnung. Ich war wohl ein paar Minuten bewusstlos. Als ich aufgewacht bin lagst du neben mir, auch bewusstlos.“ Flo sah sich um. „Wir müssen sie suchen. Bist du verletzt?“

 

„Mein Kopf brummt, aber es geht schon. Was ist mit dir?“

 

„Ich glaube mein Arm ist gebrochen. Jedenfalls tut er ganz schön weh. Aber es wird schon gehen. Ich hab ja noch einen. Komm, suchen wir deinen Bruder und Tim. Weit können sie ja nicht weg sein. Du suchst weiter oben und ich seh’ mich da unten mal um.“

 

Samantha und Florian begannen nach ihren Freunden zu rufen. Es dauerte nicht lange bis Sam etwas hörte. Sie rannte so gut es mit ihren Skischuhen eben ging in die Richtung, aus der sie das Geräusch vernommen hatte. „Tim? Tim bist du das?“ Wirklich, da lag Tim im Schnee. Er trug sogar noch einen Ski. Samantha kniete sich neben ihn, zog ihre Handschuhe aus und rüttelte ihn vorsichtig: „Tim, ich bin’s, Sam. Bist du verletzt?“ Als Antwort erhielt sie erst einmal nur ein Stöhnen. Dann öffnete Tim langsam die Augen. „Sam“, flüsterte er.

 

„Ja, ich bin hier. Mach dir keine Sorgen, alles wird gut“, antwortete sie. Dabei fiel ihr auf, dass sie so einen ähnlichen Satz wenige Minuten zuvor schon von ihrem Bruder gehört hatte. Er hatte sich geirrt. „Kannst du aufstehen Tim?“

 

„Ja. Ich glaube schon. Aber du musst mir helfen den Ski auszuziehen.“

 

Sam rutschte auf den Knien zu Tims Beinen hinunter und öffnete die Bindung. „Seltsam dass sie sich während des Sturzes nicht geöffnet hat“, dachte sie und stand auf um Tim hoch zu helfen. Er versuchte, sich an ihr hochzuziehen, liess sich dann aber mit einem kleinen Schmerzensschrei wieder zurücksinken. „Es geht nicht. Irgendetwas ist mit meinem Bein.“

 

„Warte, nicht bewegen. Ich seh’ mal nach.“ Samantha hatte von ihrem Vater viel über seinen Beruf gelernt. Später wollte sie auch Medizin studieren. Vorsichtig tastete sie Tims Bein ab und hoffte dabei innständig, dass es nicht gebrochen war. „Ich kann zum Glück keine Bruchstelle finden. Moment mal, es kann auch noch was anderes sein.“ Sie hob das Bein an und drehte es ein paar Mal nach links und nach rechts. „Ist der Schmerz beim Knie?“

 

„Ja“, antwortete ihr Tim mit zusammengebissenen Zähnen.

 

„Dann hast du wahrscheinlich einen Bänderriss. Das kommt, weil sich der Ski nicht gelöst hat. Wo genau die Verletzung ist weiss ich nicht, aber du solltest so schnell wie möglich operiert werden.“

 

„Gute Idee, hast du zufällig ein Skalpell dabei?“

 

Samantha musste gegen ihren Willen lächeln. „Dann müssen wir dich eben stützen. Ich glaube, ich höre die Andern kommen. Warte einen Moment, ich bin gleich wieder bei dir.“

 

Sie ging den Stimmen entgegen die sich langsam von unten her näherten. „Flo, Tobi? Seid ihr es?“

 

„Sam! Ist dir was passiert? Bist du verletzt? Ist alles in Ordnung?“ Tobi rannte auf sie zu und umarmte sie stürmisch. „Ich hab mir solche Sorgen gemacht! Mam und Paps hätten mich umgebracht wenn dir was passiert wär. Geht’s dir auch wirklich gut?“

 

„Ich hab wohl ’ne kleine Gehirnerschütterung, aber sonst bin ich okay. Und du?“

 

„Es ist nicht so schlimm..“

 

„Was hast du? Komm schon, du brauchst es nicht vor mir zu verstecken. Ich bin mir einiges gewohnt.“

 

Wortlos drehte sich Toby auf die Seite. Es war fast stockdunkel, so dass Sam nicht auf den ersten Blick sah was passiert war. Sie nahm nur wahr dass Tobis Gesicht blutverschmiert war. Vorsichtig liess sie ihre Finger über Tobis Wange gleiten. Da war nichts. Sie fuhr ihm durchs Haar, und plötzlich spürte sie es. Ein Riss zog sich über die Schläfe. Er war lang, bestimmt sieben oder acht Zentimeter und, so weit sie es beurteilen konnte, auch ziemlich tief.

 

Erschrocken zog sie ihre Hand zurück, fasste sich aber gleich wieder. „Da hast du ’ne ganz schöne Schramme. Aber das wird schon wieder, es sollte nur bald genäht werden. Papa sagt, solche Verletzungen muss man innerhalb von sieben Stunden nähen, weißt du, denn sonst wird die Narbe nicht so schön..“ Der Rest des Satzes ging in einem verzweifelten Schluchzer unter.

 

„Ach Kleine, nicht weinen!“ Tobi versuchte, seine Schwester zu beruhigen. „Wir fahren jetzt ins Tal und dann suchen wir uns irgendwo Hilfe.“

 

„Das geht nicht! Tims Bein ist verletzt, er kann niemals bis ins Tal fahren. Ausserdem weiss ich nicht wo meine Ski sind, ich hab sie beim Sturz verloren.“

 

Flo nickte. „Wir kommen bei diesem Wetter niemals wieder lebend ins Tal! Keiner weiss wo wir sind. Ich schlage vor, wir suchen uns einen Unterschlupf. Hier in der Gegend stehen doch massenhaft Sommerhäuschen. Sie sind zwar jetzt eingeschneit und wohl auch nicht beheizt, aber wenigstens hätten wir ein Dach über dem Kopf.“

 

„Natürlich! Dass mir das nicht früher eingefallen ist!“ Tobi war auf einmal ganz aufgeregt. „Sam, weißt du noch? Als wir im Sommer hier waren haben wir doch diese kleine Hütte gesehen! Du sagtest noch sie sehe aus wie ein Puppenhaus! Wenn ich mich nicht irre ist sie hier ganz in der Nähe. Wir müssten nur den Abhang hier hinaufklettern und dann sollte sie irgendwo auf der Wiese da oben stehen.“

 

„Weißt du was? Du kannst mich mal!“, schrie Flo Tobi an. „Du hast schon einmal behauptet den Weg zu kennen. Und was passiert? Du bringst uns beinahe um!“

 

„Jetzt mach aber mal halblang! Wir sind über ein Schneefeld gefahren unter dem zu viel morsches Holz lag. Das ist dann durchgebrochen und die ganze Ladung ist weggerutscht, den Abhang hinunter. Und wir standen leider oben drauf. Wie hätte ich das wissen sollen?“

 

„Hört auf!“ Samantha hielt sich die Ohren zu „Wenn ihr euch jetzt streitet hilft uns das keinen Schritt weiter. Los, wir holen jetzt Tim und dann suchen wir die Hütte.“

 

Gemeinsam kraxelten sie den Abhang etwas weiter hinauf. Bald hatten sie Tim wieder gefunden und ihm von ihrem Plan erzählt. Sam und Tobi halfen ihm aufzustehen und nahmen ihn in die Mitte. So konnte Tim einigermassen gut laufen. Es war sehr anstrengend den ganzen Abhang so hinaufzusteigen, aber sie schafften es trotzdem. Der Schneesturm hatte mittlerweile etwas nachgelassen, aber es war noch kälter geworden.

 

„Da vorne müsste die Hütte sein. Wir sind bald da. Flo, alles in Ordnung mit dir?“ Tobi sah besorgt auf seinen Freund der sich neben ihm in den Schnee gekauert hatte.

 

„J-ja. Es geht schon. Mein Arm tut nur so weh. Es wird immer schlimmer.“

 

„Halt Tim mal kurz alleine“, sagte Samantha zu Tobi, stapfte durch den Schnee zu Flo hinüber und kniete sich neben ihn. „Flo, komm, hör mir zu. Es ist nicht mehr weit, wir haben es bald geschafft. Sobald wir da sind werde ich mich um deinen Arm kümmern, okay?“

 

Flo nickte. Sam half ihm aufzustehen und sie gingen weiter, immer auf die Erhebung zu, die sie auf der anderen Seite des Schneefeldes ausmachen konnten.

 

 

„Hey, kommt hier her! Hier ist die Tür!“ Tobi trat mit aller Kraft gegen die verschlossene Holztüre. Sie war zwar gut verriegelt, aber seine Tritte schienen zu wirken. Plötzlich sprang sie mit einem Krachen auf und Tobi purzelte über die kalten Steinplatten.

 

„Tobi! Ist dir was passiert?“ Sam erschien im Türrahmen und bückte sich um ihrem Bruder aufzuhelfen.

 

„Nein. Alles in Ordnung. Ganz schön dunkel hier drin.“

 

„Allerdings. Komm, wir holen Tim.“

 

An der Türe kam ihnen Flo entgegen. „Ihr habt die Tür aufgekriegt? Super! Ich werde mich hier drin mal etwas umsehen während ihr Tim holt.“

 

Als Samantha und Tobi mit Tim zurückkamen hatte er bereits eine Kerze und Strechhölzer gefunden. Im Schein des flackernden Lichtes konnten sie sich nun richtig in der Hütte umsehen. Viel gab es aber nicht zu sehen. In einer Ecke stand ein Doppelbett mit zwei Wolldecken, in einer anderen ein Tisch und zwei Stühle. Daneben eine Küchenzeile mit einem Gasherd und einem Abwaschbecken. In einer Wand befand sich ein alter steinerner Kamin. Die Einrichtung war sehr spartanisch, es gab weder elektrischen Strom noch fliessend Wasser.

 

„Nicht gerade das Grand-Hotel hier. Aber wenigstens werden wir nicht erfrieren. Flo, ihr habt doch auch einen Kamin zuhause? Ja? Gut, dass wirst du Feuer machen. Tim, wir legen dich am besten gleich ins Bett“, sagte Samantha. Zusammen mit Tobi brachte sie Tim zum Bett und half ihm, seine nassen Kleider auszuziehen. Erst jetzt merkten sie, wie sehr sie frohren.

 

„Wir haben nur zwei Wolldecken, aber sie sind wenigstens schön gross, sodass wir auch zu zweit darunter Platz finden. Es wird ziemlich eng werden auf dem Bett, aber dann wird uns sicher schön warm“ Samantha hatte die Organisation übernommen. Sie war am wenigsten verletzt. Abgesehen von den pochenden Kopfschmerzen ging es ihr gut. Im Geiste dankte sie ihrem Vater, der ihr so viel über Medizin und erste Hilfe beigebracht hatte. Sie hatte zwar nicht die besten Hilfsmittel zur Verfügung, aber wenigstens konnte sie ihre Freunde und ihren Bruder notdürftig verarzten. Vorsichtig sah sie sich Tims Bein an. Das Knie war dick geschwollen und nahm allmählich eine blaue Färbung an. „Hast du starke Schmerzen?“ fragte sie Tim. Dieser schüttelte den Kopf: „Es geht schon. Jetzt, wo ich das Bein ruhig halten kann ist es nicht mehr so schlimm.“ „Okay. Ich geh mal eben nach draussen und hole etwas Schnee damit wir das Bein kühl halten können. Dasselbe gilt für Flo’s Arm.“ Samantha verschwand nach draussen und Tim liess sich wieder aufs Bett zurücksinken. Er könnte Samantha gegenüber nicht zugeben wie schlecht es ihm ging. Was würde sie dann wohl von ihm denken? Schon seit Wochen war er in sie verliebt, aber er hatte sich nie getraut ihr seine Liebe zu gestehen. Er musste jetz stark sein. Sam wollte bestimmt keine Heulsuse. Wann war dieser Alptraum endlich vorbei?

 

„So, hier ist der Schnee. Ich musste nicht lange danach suchen“, witzelte Samantha, legte eine handvoll Schnee in ihren Schal und band ihn um Tims Knie. Anschliessend war Flo an der Reihe. Als er die Jacke ausgezogen hatte, sah man deutlich eine Schwellung am Unterarm. „Da ist wohl die Bruchstelle“, sagte Sam. „Ich kann nichts weiter tun als den Arm mit Schnee zu kühlen. Du solltest ihn einfach schön ruhig halten, am besten gar nicht bewegen.“ „Schade, dabei hatte ich heute Abend echt Lust auf einen kleinen Boxkampf“, scherzte Flo und legte sich neben Tim aufs Bett. Samantha wandte sich zu Tobi um. Er sass vor dem Kaminfeuer an einen Stuhl gelehnt. Mit einem Taschentuch hatte er seine Kopfwunde abgedeckt. Seine Augen waren geschlossen. Sam ging zu ihm und setzte sich neben ihn. „Tobi?“

 

„Hmm?“

 

„Wie geht’s dir?“

 

„Mir ist schwindlig.“

 

„Du hast viel Blut verloren. Deine Jacke ist voll davon.“

 

„Ich weiss.“

 

Ein paar Minuten sassen sie schweigend nebeneinander. Dann blickte Sam zu ihrem Bruder hinüber und sah erschrocken, wie Tränen über seine Wangen kullerten.

 

„Hey, Tobi! Was hast du denn?“ Sie rutschte zu ihm und nahm ihn in den Arm.

 

„Es ist meine Schuld. Flo hatte Recht. Ich hab’ euch beinahe umgebracht.“ Tobi schluchzte.

 

„Du konntest doch nicht wissen dass das passieren würde! Es ist nicht deine Schuld! Du hast versucht, uns zu helfen. Ohne dich wären wir da draussen gestorben.“

 

„Sie hat Recht, Tobi“ Flo war wieder aufgestanden und kauerte sich zu Tobi  nieder. „Es tut mir leid dass ich dir die Schuld gegeben habe. Das war nicht fair.“

 

Tobi weinte noch immer. „Wir bringen ihn am besten auch ins Bett“, flüsterte Samantha Flo zu, „Er wird sich dann schon wieder beruhigen.“

 

Sie lagen nun zu viert im Doppelbett, eng aneinander gekuschelt. Langsam wich die Kälte und wohlige Wärme breitete sich aus. Sie wirkte beruhigend und ermüdend zugleich. Bald waren alle vier eingeschlafen.

 

 

Sam erwachte erst am nächsten Morgen wieder. Tobi schlief noch, Flo werkelte am Kamin herum und Tim lag neben ihr und sah sie an. „Guten Morgen Süsse!“, sagte er leise. Sam lächelte. „Hallo“, antwortete sie ihm, „Konntest du nicht schlafen?“

 

„Nicht wirklich. Ein paar Stunden habe ich geschlafen, aber dann bin ich aufgewacht weil in meinem Knie ein Presslufthammer arbeitet.“

 

„Ging mir genauso“, mischte sich Flo ein. „Ich konnte nicht mehr schlafen, also hab ich Feuer gemacht. Es war ausgegangen.“

 

„Gut“, sagte Samantha, „Wir sollten uns jetzt überlegen wie es weitergeht. Ich bin dafür das du, Flo, oder Tobi mit mir versucht ins Tal zu gelangen um Hilfe zu holen. Wenn ich doch nur mein Handy dabei hätte.“

 

Tim lachte. „Das haben wir uns alle schon gesagt. Wozu haben wir eigentlich eines wenn wir es doch zu Hause vergessen?“

 

Samantha beugte sich über Tobi und rüttelte ihn sanft. „Hey grosser Bruder! Aufwachen! Tobi!“ Sie wandte sich zu Tim und Flo um. „Scheisse! Er wacht nicht auf!“ Sie fühlte nach seinem Puls. Er war nur noch schwach zu spüren. „Sein Kreislauf macht schlapp. Wir müssen ihn wachkriegen!“ Sam gab ihm eine schallende Ohrfeige und begann ihn wieder zu rütteln. „Tobi, komm schon! Lass mich jetz nicht allein! Mach die Augen auf, verdammt! Bitte Tobi!“ Allen fiel ein Stein vom Herzen als Tobi blinzelnd die Augen öffnete. „Hey! Bist du wieder okay?“ „Ich weiss nicht. Ja. Doch. Aber mir ist schwindlig.“ Er versuchte sich aufzurichten, fiel aber wieder zurück. „Bleib noch ein paar Minuten liegen. Es wird gleich besser werden“, sagte Sam ihrem Bruder. Dann wandte sie sich an Flo: „Was meinst du, schaffst du es mit mir bis ins Tal? Tobi ist zu schwach und Tim kann ohnehin nicht laufen.“

 

„Ja. Ich komme mit dir.“

 

Samantha und Tim zogen sich an und machten sich auf den Weg. Die Sonne schien und liess die verschneiten Berge glitzern. Nichts erinnerte mehr an den Schneesturm der vergangenen Nacht, der die Vier beinahe das Leben gekostet hätte. Samantha und Florian brauchten etwa anderthalb Stunden bis ins Dorf. Sie fanden schnell den Weg zum Arzt, dem sie ihre ganze Geschichte erzählen konnten. Dann ging alles sehr schnell: Der Arzt alarmierte umgehend den Rettungsdienst. Samantha und Flo wurden von einem Ambulanzwagen ins nächstgelegene Spital gefahren und Tim und Tobi wurden mit einem Rettungshubschrauber geborgen und ebenfalls ins Krankenhaus geflogen. Tim wurde sofort operiert, Flo bekam einen Gips, Tobi’s Kopfwunde wurde versorgt und Samantha bekam endlich etwas gegen ihre Kopfschmerzen. Ausser Tim durften alle schon am selben Tag wieder nach Hause.

 

 

Zwei Wochen später waren Tobi und Flo wieder auf dem Berg und sahen sich bei Tag den Unfallort und die Hütte an. „Siehst du“, bemerkte Tobi triumphierend, „Wir sind gar nicht falsch gefahren! Der Weg durch den Wald wäre wirklich eine Abkürzug gewesen.“

 

„Entschuldige dass ich dir nicht geglaubt habe. Du hast deine Sache gut gemacht und konntest nichts für den Unfall, so wie Sam gesagt hat. Wo ist sie eigentlich?“

 

Tobias lachte. „Sam? Sie hat ein Date mit Tim. Eigentlich wollten sie ja schwimmen gehen, aber das macht Tims Knie noch nicht mit. Nun sind sie eben im Kino.“

 

„Läuft da was?“

 

„Ich glaube schon, ja“, antwortete Tobi. „Naja, wieso auch nicht? Ich gönne es ihnen. Sam ist alt genug, schliesslich hat sie am besten die Nerven bewahrt als wir in der Hütte waren. Manchmal sind Schwestern eben doch nicht so übel.“

 

 

1./2.1.2006    by Nadja

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.01.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

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Meine Gedanken bewegen sich frei von Andreas Arbesleitner



Andreas ist seit seiner frühesten Kindheit mit einer schweren unheilbaren Krankheit konfrontiert und musste den größten Teil seines Lebens in Betreuungseinrichtungen verbringen..Das Aufschreiben seiner Geschichte ist für Andreas ein Weg etwas Sichtbares zu hinterlassen. Für alle, die im Sozialbereich tätig sind, ist es eine authentische und aufschlussreiche Beschreibung aus der Sicht eines Betroffenen.

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