„Seit vielen Jahren“, so fing die Tanne an zu erzählen „stehe ich nun schon in diesem schönen Wald und möchte gerne mal erzählen, warum ich so krumm gewachsen bin.
Als ich noch klein war, gesellten sich einige, schon größere Artgenossen zu mir. Nach einiger Zeit kam es dann dazu, dass sie mich Tag für Tag mit ihren weit auslaufenden Ästen bedrückten. Das tat mir weh, doch keiner wollte mein Jammern hören. Die anderen wurden stetig höher und obendrein wunderschön. Ich dagegen zunehmend krummer.
So konnte ich aber hören, was die Menschen sagten, wenn sie im Herbst kamen, um sich die schönsten Tannen auszusuchen. Jährlich sollten welche von uns abgesägt und dann in die warmen Stuben der Menschen gebracht werden. Jedes Jahr zur selben Zeit findet nämlich zur Wintersonnenwende ein Fest statt, das auch Weihnachten genannt wird. Tannenbäume werden dann in kunstvolle Ständer gestellt und mit Kugeln, Lametta, Süßigkeiten und Kerzen geschmückt. Unter den Baum werden kleine, aber sogar auch große Geschenke gelegt. So erzählte man sich. Das berichtete ich all den Schönen neben mir, und sie sahen sich schon in herrlichem Glanz bei den Menschen stehen.
Eines Tages kamen ein paar Männer
zu uns und der eine von ihnen rief:
‚Kommt
mal her, hier stehen prächtige Exemplare, gerade die richtige
Höhe für unsere Stadt!‘.
Die Erwählten wurden genauestens begutachtet und mit weißer Farbe markiert. Ich, zwischen all den Schönen, wurde von niemandem angesehen, ja, noch nicht einmal bemerkt. Es machte mich traurig.
Zudem hörte ich eine der
Tannen noch hochmütig sagen:
‚Habt
ihr gesehen, wie sie uns von allen Seiten bestaunten? Sie wollen uns
zum Fest der Menschen bringen!‘.
‚Ach!‘,
rief ich ihnen von unten entgegen ‚ auf meine Kosten seid ihr so
gewachsen, habt mich stets unterdrückt und mich krumm und schief
werden lassen!‘.
Die Schönen hörten gar
nicht auf meine Worte und wiegten sich eitel im Wind.
Einige Tage später kamen
erneut Männer, nur dieses Mal mit Äxten und Sägen
unterm Arm und fingen gleich an, am unteren Ende der ausgesuchten
Tannen zu sägen.
‚Aua,
aua!‘, jammerten alle durcheinander, doch keiner vernahm ihr
Gestöhne.
Doch wie sollte oder konnte ich
helfen? Es dauerte nicht lange, da lagen die Tannen abgesägt am
Boden. Letzte verzweifelte Seufzer drangen in meine Richtung. Ihr
Sterben machte mich sehr traurig, auch wenn sie mich nie gut
behandelt hatten. Sie wurden auf großen Lastwagen
abtransportiert, und ich sah sie nie mehr wieder.
Jetzt stand ich da, ganz alleine
und von allen verlassen. Mein krummes Aussehen kam jetzt erst
richtig zur Geltung. Es dauerte Tage, bis ich begriff, was geschehen
war.
Neugierig kamen die vielen Tiere
des Waldes näher und staunten, denn erst jetzt bemerkten auch
sie, wie krumm ich wirklich war. Die Vögel flogen herbei und
setzten sich abwechselnd auf meine Äste, die nach einer Seite
hingen. Die Hasen hoppelten im Kreise, Rehe und Hirsche zupften zart
an meinen Nadeln, als wollten sie mich trösten. Eichhörnchen
sausten kreuz und quer und zeigten mir ihre Zuneigung.
‚Was
ist bloß los!‘, rief ich ihnen zu, ‚was ist denn geschehen,
daß ihr alle vor Freude hüpft und springt?‘.
‚Wir
haben auf diesem Platz jetzt nur noch dich!‘, sagte mit tiefer
Stimme der Hirsch und das Reh stimmte nickend zu.
‚Du
hast uns immer vor Kälte, Wind und Schnee beschützt. Hast
dich sogar zu uns niedergebeugt und freudig zugeschaut, wenn wir hier
rumtollten!‘, bemerkte ein alter Hase.
Ein Eichhörnchen rief
begeistert:
‚Du
hast mir oft Tannenzapfen geschenkt und mich an dir rumtoben
lassen!‘.
Und so erzählten alle Tiere
von ihren Erlebnissen mit mir. Als krumme Tanne konnte ich noch viele
Jahre glücklich und zufrieden leben!“.
© Heidrun Gemähling