Pierre Heinen

Live Dabei - Teil VI

VI

„Ken, was ist hier los?“, fragte der Produzent überrascht und klopfte sich den Schnee vom Mantel. Er schloß die Tür hinter sich.

„Er geht jetzt in die Küche“, meldete einer vor der Bildschirmwand.

„Was will er denn dort?“, fragte ein anderer.

„Er ist vielleicht nur durstig“, beruhigte sich der Moderator, der die inzwischen auf dreiundvierzig Prozent angestiegene Einschaltquote nicht aus den Augen verlor.

„Unser Karl Wals ist nicht Karl Wals, denn den hat man heute ermordet gefunden und unser Karl Wals sieht dem Täter ziemlich sehr ähnlich, das ist hier los“, raunte der Regisseur dem Produzenten roh entgegen und blickte wieder zu den Schirmen.

„Er öffnet alle Schubladen. Er scheint nach etwas zu suchen!“ informierte der Mann an den Schirmen erneut und ließ Karl keine Sekunde aus den Augen.

Alle blickten auf den Mann im übergroßen Smoking, der in der Küche herumschritt.

„Er hat sich das lange Küchenmesser aus der Geschirrschublade genommen!“

„Scheiße“, fluchte der Produzent.

Mit dem Messer in der rechten Hand nahm er den hölzernen, dreibeinigen Hocker, stellte ihn unterhalb der Kamera und stieg auf ihn drauf. Grinsend blickte er in die Linse der Kamera. Sein gesamtes Gesicht war unscharf über den gesamten Bildschirm verteilt.

„Live. Ihr werdet live dabei sein“, hauchte er hämisch in die Kamera.

Er wandte sich ab, stieg vom Hocker und ging mit der Waffe auf dem Rücken um den Tisch. Eine Gänsehaut lief jedem der Männer vor der Bildschirmwand über den Rücken.

„Die Polizei ist eingetroffen!“, verkündete einer, der ebenfalls die Kamera vor dem Container beobachtete.

Ein Streifenwagen war beigefahren und zwei Beamte waren ausgestiegen.

„Herein mit ihnen“, befahl der Produzent, hoffnungsvoll, daß diese eine Erlösung seiner Qualen bringen konnten und zerdrückte seine soeben angezündete Zigarette hastig im Aschenbecher auf einem Tisch.

Zwei mit Schnee bedeckte Männer betraten den Raum, klopften sich das gefrorene Wasser etwas von der Uniform.

„Ich bin der Produzent der Show“, stellte sich der Produzent vor und reichte ihnen beiden die Hand.

„Ich bin Bill Moore, der leitende Polizeibeamte in dem Fall“, präsentierte sich der Polizist.

Er holte ein Akte unter dem Mantel hervor. Wortlos zeigte der Produzent auf dem Bildschirm in der Küche der Station, auf dem der Mann noch immer mit dem Messer herumwanderte. Der Polizist nahm eine Photographie aus der gelblichen Akte und verglich sie mit dem Mann auf dem Bildschirm.

„Das ist eindeutig John Smellog“, schlußfolgerte er „Er ist gestern aus einer Nervenheilanstalt geflohen. Dies ist eindeutig der Mörder von Karl Wals! Seine Fingerabrücke wurde im Hotelzimmer gefunden!“

„Ein Verrückter!“, sagte der Produzent, dessen stark strapazierten Nerven sich auch langsam in einer Kur wohl gefühlt hätten. Er sackte fast in sich zusammen.

„Wir müssen da rauf!“, sagte der Polizist kühl, aber in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

„Es gibt aber keinen Weg. Der Helikopter fliegt bei einem Schneesturm nicht und bei der Lawinengefahr da draußen, ist Klettern nicht drin“, klärte ihn der Verantwortliche der Bergwacht auf.

„Können wir die anderen wenigstens warnen?“, fragte der Polizist weiter.

„Die sind von der Außenwelt abgeschnitten“, erklärte ihm der Moderator.

„Da oben läuft ein Mörder herum und ich will da rauf, bevor ihre Show in einem Blutbad endet“, sagte der Polizist mit Nachdruck.

„Es gibt aber keinen Weg“, versuchte der Produzent ihm zu versichern.

„Können wir wenigstens irgendeine Verbindung herstellen?“, hakte der zweite Polizist nach.

„Nein. Es gibt keinen Anschluß da oben“, sagte der Mann von der Bergwacht und seufzte.

„Hat keiner ein Handy dabei?“. fragte der zweite, etwas schmalere und kleinere Polizist erneut.

„Nein“, versicherte ihnen der Produzent erneut.

Der Polizist schaute den Produzenten an. Beide blickten zum Bildschirm hinüber. Eine ausweglose Situation stellte sich ihnen gegenüber und keiner hatte eine Idee wie man sich aus solcher herauswinden könnte.

John Smellog verließ die Küche und schlich an den Wänden des Ganges entlang ins Kaminzimmer. Er setzte sich auf die Couch vor dem Kamin. Das Feuer brannte sehr schwach und sobald wieder eine Sturmbö an den hölzernen Läden klapperte zog sogleich ein leichtes Hauchen durch den Schornstein und die Flammen loderten wieder etwas auf. Die Glut leuchtete auf.

„Er wartet auf etwas“, meinte der Produzent.

„Er wartet bis alle Schlafen. Karl Wals hat er auch getötet als er eingeschlafen auf dem Bett lag“, informierte ihn der Beamte.

Still schaute man sich John an. Wenn man genau hinschaute, konnte man sein Grinsen sehen.

„Irgend etwas müssen wir doch machen können, oder?“, fragte sich der Moderator.

„Was ist mit der Seilbahn?“, fragte der Kameramann, der inzwischen auch schon ins Zimmer gekommen war.

„Seilbahn?“, erkundigte sich der Beamte neugierig und sah den Produzenten an „Gibt es eine Seilbahn zur Station hinauf?“

„Es gab eine. Die Seile und Stützen sind noch intakt, wenn auch nicht mehr gewartet, aber der Antrieb ist hin“

„Kann man es reparieren?“, forschte der Beamte weiter.

„Die Techniker meinen, es würde viel Zeit und Geld kosten ...“, sagte der Produzent und blickte dem Beamten in die Augen.

„Hören sie mal zu. In ihrem TV-Knast da oben, läuft ein psychisch gestörter Mann mit einem Messer umher und das Leben ihrer neun Kandidaten hängt an einem seidenen Faden. Sie werden jetzt sofort ihren Arsch in Bewegung setzten und diese Techniker herbringen“, fuhr der Beamte den Produzenten an.

Dieser zündete sich wieder eilig eine Zigarette an, steckte sich die Packung in die Tasche seines Mantels, den er eilig angezogen hatte und verließ mit schnellen Schritten wortlos den Raum. Der Polizist sah sich den Mann auf dem Bildschirm an.

John ließ das Messer zwischen den Fingern gleiten. Er wartete. Seelenruhig genoß er die Vorfreude auf die folgenden Ereignisse. Ständig lächelte er, mit Gedanken daran, sich im warmen Blut der Leichen baden zu können. Er krempelte den linken Ärmel hoch, legte das Messer vor sich auf den Tisch. Mit seiner rechten Hand nahm er sich die Prothese der linken Hand ab und starrte auf den Stummel, der sich vom Ellbogen an, noch an seinem Körper befand. Damals hatte er sich die Hand abgetrennt. Damals, als er noch Metzgerlehrling in der Metzgerei seines Adoptivvaters war. Damals.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.08.2007. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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