Michael Masomi

Anuschka - Kapitel 1

Ich lernte Anuschka im August 2003 kennen.
Es war so verdammt heiß, dass man es tagsüber nur in seiner Wohnung aushalten konnte. Es war ein Jahrhundertsommer, der Ende März anfing und weit bis in den Oktober reichte. Europa war fest im Griff des Fixsterns und die Hitze forderte viele Opfer. Deutschland rief einen Rekord nach dem anderen aus. Es war zu heiß, um im Freibad zu liegen - zu heiß, um auf der Straße ein Eis zu lutschen. In der Sonne hatte man das Gefühl, man befände sich in einem 50 °C heißen Backofen. Der Geruch von Teer lag in der Luft und die Abgase der Autos brannten beißend in der Lunge.
Die Sonne stach einem förmlich die Augen aus und sie stichelte auf der Haut, so dass man es - auch ohne Wissenschaftler zu sein – heraus fand, dass dies nicht gesund sein konnte. Also blieb man daheim.
Dennoch, ich musste raus. Meine Haare hatte ich mal wieder zu lang wachsen lassen und bei dieser Affenhitze störten sie total. Ich hatte mich entschieden, zu dem Friseursalon um die Ecke zu gehen. Ich fühlte mich schon etwas schuldig, da ich seit zwei Jahren den Laden nicht mehr betreten hatte. Doch was sollte ich machen? Die Matte musste ab!
Ich nahm noch einmal eine eiskalte Dusche, wusch mich mit dem kühlenden Gel von Adidas und stellte mich klatschnass vor die kleine Klimaanlage, die ich mir im Mai gekauft hatte. Klimaanlagen und Ventilatoren waren in jenem Jahr das Geschäft.
Ich zog mir ein leichtes, kurzärmeliges Hemd mit buntem Aufdruck an und eine aus Leinen bestehende dreiviertel lange, graue Hose. Danach kramte ich die Sonnenbrille in meiner Sehstärke heraus und tauschte sie gegen die normale aus. Ich sah aus wie ein kalifornischer oder australischer Surfer und starrte kopfschüttelnd in den großen Spiegel. ‚Mit 33 läufst du immer noch herum, als wärst du einem Rockvideo auf MTV entsprungen.’
Ich verließ meine Wohnung. Die Dunstglocke aus Abgasen und Teer schlug mir in den Magen. Die Hitze schien sofort alle Flüssigkeit aus mir heraus saugen zu wollen. Meine Zunge wurde trocken und auf meiner Stirn bildete sich ein Schweißfilm.
Eine Horde junger Mädchen kam mir mit Miniröcke und Bikinioberteilen entgegen. Sie lächelten mich aufreizend an. Verbotener Zucker!
Ich vermisste meine Canon, wischte mir den Schweiß aus den Augen und lief die Straße hinunter zu Fatimas Salon. Mit Schwung öffnete ich die gläserne Türe. Ein Schwall heißen Luftgemischs aus Haarspray, H2O2 und Kaffee kam mir zusammen mit Sertaps Grand-Prix-Hit entgegen. Wieder verkrampfte sich mein Magen.
Fatima Türkmatz, eine türkisch stämmige Frau, die zwei Jahre älter ist als ich, lächelte mich freundlich an. Seit Monaten klopfte sie von innen gegen die Scheibe, wenn ich an ihrem Lädchen vorbei ging und formte mit Zeige- und Mittelfinger eine Schere.
„Hi Richard!“ Wir kannten uns schon auf der Grundschule und hatten uns die folgenden Jahre nie ganz aus den Augen verloren. Vor fünf Jahren war ich durch Zufall in der Kneipe gelandet, in der Fatima ihre Meisterprüfung feierte. Wir tranken so einige Flaschen Wodka und ich versprach ihr, mir den Laden anzusehen, da er ja direkt bei mir um die Ecke lag.
Es ist ein kleiner Laden mit zwei Frisierstühle und zwei großen Spiegeln. Ich ließ mir alle drei Monate einen pfiffigen Schnitt von ihr verpassen, kam dann hin und wieder auf einen Kaffee vorbei.
Sie stand neben dem ersten Stuhl, in dem ein älterer Mann saß, dem sie gerade die Haare aus dem Nacken pinselte und der sie aus dem Augenwinkel beobachtete. Fatima ist sexy und sie weiß es auch, sie ist eine freie und selbstbewusste türkische Frau die unverheiratet ist.
1. weil sie ihre Landsleute schockieren will und 2. weil sie ihre machomäßigen Landesmänner nicht ab kann. Da sie aus Liebe heiraten und nicht verschachert werden will, ist sie immer alleine gewesen und war auf der Pirsch nach Mr. Right.
Am zweiten Stuhl - den für Frauen - arbeitete ihre Angestellte und beste Freundin Jaschim Özkan. Jaschim ist Mitte Zwanzig, sie ist die orientalische Ausführung von Angelina Jolie - mit etwas kleineren Brüsten.
„Das wird auch langsam Zeit!“ Jaschim lachte „Was macht die Kunst?“
„Ich kann davon immer noch prima leben. Komm doch mal ins Breuers, da hängen einige meiner Bilder aus.“
Sie legte den Kopf schief. Sie blickte mich abschätzend an.
„ Du brauchst auch nicht bezahlen, ich schenke dir eins!“
„Was soll ich mit Fotos von Frauen?“ Sie grinste mich frech an.
Ich mache Kollagen von Gesichtern - nur von Frauen und Mädchen. Wenn ich sie fotografiere, haben sie für einen Bruchteil etwas so Faszinierendes, dass ich jedes einzelne Bild in dem Augenblick als Meisterwerk bezeichne.
Ich kann es nicht beschreiben, was ich in ihren Gesichtern sehe, es ist etwas, was mich berührt und vor allem etwas, was auch bleibt, da ich es in den Kollagen wieder finde.
Einige waren so zauberhaft, dass ich sie einfach auf der Straße ansprechen musste und ablichtete. Ein Freund sagte einmal, ich würde die Typologie der Frauen heraussuchen. Ich weiß es nicht. Ich habe Kunst nie studiert. Ich mache es einfach aus dem Bauch heraus und verwandle die Fotos in bunte Licht- und Schattenspiele mit dem Paintprogramm vom PC.
Ich stellte einfach so ein paar Bilder ins Internet und bei Breuers aus. Kurze Zeit später kam eine Kunstzeitschrift auf mich zu und machte eine Reportage. Danach taten ein Auftritt bei ARTE und einer bei 3Sat ihr Übriges, so dass sich die Zahlen auf meinem Konto von tief rot in tiefschwarz verwandelte. So muss ich keinem festen Job mehr nachgehen, sondern kann mein Leben genießen. Meine „Werke“ verkaufen sich fast von alleine. Doch irgendwie fühle ich mich nicht sehr wohl dabei, wenn ich mein Viertel sehe.
Abermals zuckte ich mit den Schultern, wobei ich Jaschim mit einem Lächeln bedachte. Das mache ich immer, wenn mir bei einem Gesprächspartner nichts mehr einfällt.
„Kriegst du einen Kaffee, Richard?“ Fatima lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Sie ist süß, wenn sie bei meinem Namen einen übertriebenen französischen Akzent benutzt.
„Bei der Hitze? Lieber einen türkischen Tee, wenn ihr habt?“
Ein Nicken, gefolgt von einem Lächeln.
Dieses Lächeln besitzt sie schon seit der ersten Klasse. Sie war damals eine niedliche Erstklässlerin und wenn ich mich recht entsinne, stand ich schon zu der Zeit auf sie.
Fatima drehte sich kurz zur Hintertüre um, die in den kleinen Raum führte, in dem sie Tee, Kaffee und Gebäck aufbewahrte und rief: „Anuschka! Machst du bitte einen Chai und einen Kaffee?“
„Ja, ja!“ drang eine seltsam rauchige Stimme durch den Vorhang. Die Stimme klang sehr jung, aber gleichsam verlebt.
Frustriert ließ Fatima die Hände sinken, erhob sie wieder und griff sich ins lockige Haar. „Du weißt, was -Ja, ja- heißt!“
„Ja!“ Ein Kichern.
„Praktikantin!“ erklärte Fatima mir, wobei sie die braunen Augen verdrehte. „Hätte ich mir doch nur eine andere ausgesucht. Es haben sich Viel versprechende beworben, aber ich hab mich wohl vom Aussehen blenden lassen. Sie ist gerade mal drei Wochen bei mir und ich habe die Nerven blank.“
Ich wollte etwas erwidern, da zischte Jaschim dazwischen: „Kleine Schlampe!“
Das sagte wohl alles! Ich konnte mir das Wesen hinter dem Vorhang bildlich vorstellen: Eine kleine, blonde Mantafriseuse mit dummen Augen und einem zu großen Busen unter ihrem zu kurzem Hals und ein bunt bemaltes Gesicht auf Kriegspfad. Mannstoll halt!
Der Vorhang schwang zur Seite. Von irgendwo her kam eine kühle Brise, schwoll mir entgegen und spielte mit meinen zu langen Haaren. Es war so, als hätte jemand die SloMo-Taste bei einem DVD-Player betätigt, oder wie in einer Sequenz aus einem John Wu Film. Die Zeit zog sich plötzlich wie Zuckerwatte, alles wurde irreal. Die Tür erstrahlte in einem Leuchten. Der Friseursalon wurde kleiner und schien sich zu verdunkeln. Ihr rechtes Bein, bekleidet in einem Leder oder Latexstiefel, kam über die Schwelle. Ihre Energie war die eines Bulldozers, der mich in die Magengrube rammte. Da schritt dieses Etwas aus dem Hinterzimmer und der Raum explodierte wie eine Supernova.
Sie war groß für ein Mädchen – nein, für eine Frau. Ihre schlanken Beine, die aus den Schäften ihrer Stiefel lugten, waren makellos braun von der Sonnenbank. Die wohl gerundeten Oberschenkel verstecken sich hinter einem Hauch von Stoff, der sich Mini schimpfte. Sie wuchsen zu einem Hintern, der sogar JLo und Beyonce vor Neid erblassen lassen würden. Der Mini hing vor den Hüften und gab wie bei Pink das Schambein frei. Ihr Bauch war glatt - kein Sixpack - aber muskulös wie es bei den Mädels der Zeit hipp ist. Zwei wirklich große Brüste wurden von einem engen Top gehalten, unter dem es keinen BH gab. Ihr Gesicht raubte mir den Atem.
Fatima guckte erschrocken zu mir herüber. Sie hatte meinen Gesichtsausdruck richtig gedeutet, das nahm ich noch wahr. Nachdem sie den Kaffee zu der älteren Dame gebracht hatte, spazierte diese Aphrodite auch schon auf mich zu und stellte den Chai auf den kleinen Tisch. Ich sah in ihr Dekolleté und ihre festen Brüste, so groß wie Honigmelonen, ließen mir das Wasser im Munde zusammenlaufen.
Kleine Schlampe!, hallte Jaschims Stimme durch meinen Kopf. Nein! Göttin protestierte meine Seele.
„Bitte schön!“ hauchte sie rauchig, streckte mir tückisch die Zunge heraus, in der eine kleine metallene Kugel gespickt war und verweilte mit einem wissenden Grinsen in dieser Haltung vor mir, so dass ich den Blick in ihr Schaufenster weiter genießen konnte.
„Danke.“ Ich schluckte verlegen, blickte ihr einen Moment in die wunderschönen Augen, um dann wieder in ihrem Ausschnitt zu landen. In der rechten Brustwarze steckte ebenfalls eine Perle an einen kleinen Ring. Ich verspürte einen sanften Stich in meiner Lendengegend. Mein erste Gedanke war: Ihre armen Lehrer!
Ihre Augen waren von Maskara und Lidschatten eingerahmt. Sie sah mir mit einem festen Voodooblick in meine Augen, der mich verrückt machte. Ihre Lippen waren groß und feurig rot.
„Wenn du da fertig bist, kannst du hier die Haare zusammen fegen!“ störte Fatima und die Zeit rastete in ihren gewohnten Geschwindigkeitsgrad ein.

Anuschka drehte sich noch einmal zu mir um und lächelte. Das Gesicht dieser Sexgöttin verformte sich zu dem einer frechen Göre und der Zauber war verschwunden. Ich blieb sitzen und war verblüfft, so wie ich es einst über David Copperfield war.
„Wollen Sie sich die Haare schneiden lassen?“ Ihre Stimme war nun ein Piepsen.
„Würde ich sonst zum Frisör gehen?“
„Anuschka!“ forderte Fatima.
Das Mädchen ignorierte ihre Chefin und meinte zu mir: „Würde ich nicht machen, sieht cool aus!“
„Anuschka!“ Fatima schrie jetzt, wobei sie ihre Fäuste in die Seiten stemmte. Ihr Gesicht färbte sich langsam rot.
„Danke!“ Fatima schien auch für mich nicht mehr zu existieren.
„Ich würde vielleicht ein paar blonde Strähnchen rein machen, wegen des Sommers.“ Wieder die Zunge, obszön und verspielt.
„ANUSCHKA!“ Jetzt platzte Fati der Kragen.
Die Kleine drehte sich zu ihr um und fragte schnippisch: „Was?“
Fatima stockte der Atem. Sie wollte der Göre klar machen, wer hier der Chef vom Ganzen war, aber Anuschka nahm ihr mit einem einzigen Wort den Wind aus den Segeln. Sie rang nach Fassung. Ihr Blick verfinsterte sich.
„Einen anderen Ton, sonst kannst du gehen!“
„Pöh!“ machte sie nur, grinste mich an, winkte mir und verließ den Laden.
Verdutzt und erstaunt blickten wir ihr hinterher. Irgendetwas in mir amüsierte sich über den fragenden Blick von Fatima. Die Kleine hatte Courage. Ihren ersten Job einfach so hinzuschmeißen, das imponierte mir. Fatima folgte ihr nach draußen und rief ihr hinterher: „Du kannst dir morgen deine Papiere abholen!“
Sie kam wieder herein und knallte die Türe so zu, dass das Glockenspiel schepperte. „Miststück!“
Die Frau und der Mann starrten sie entsetzt an.
„Die Jugend von Heute!“ sagte die alte Dame knapp, der Mann nickte zustimmend.
Ich stand auf, trank meinen Tee aus und sagte: „Machst du mir einen Termin fürs Färben?“
Fatima holte tief Luft und flüsterte: „Was?“
„Du hast ja meine Nummer!“
Ich verließ den Laden ohne ein Aufwiedersehen. Auf der Straße schaute ich mich nach Anuschka um, die in Richtung Stadt davon stapfte. Ich ging in die andere Richtung nach Hause, kaufte mir in der neuen Eisdiele ein Eis und als ich zu hause war, duschte ich noch einmal kalt.
 

Hallo, dies ist das 1 Kapitel meiner Novelle Anuschka.
Wenn es euch gefällt, könnt ihr auf Lulu.com, das gesamte Buch als E-Book für 2,50 € downloaden.
Es sind 101 Din A 4 Seiten und ich habe fast vier Jahre daran gearbeitet.
Die Liebe eines Mannes zur einer durchtriebenen Lolita treibt ihn und andere ins Verderben.
Viele erotische Szenen, aber auch Nachdenkliches über unsere Kultur, unser Leben, und den Krieg im Irak, der keiner ist.
Die Geschichte eines Mannes, der sich nicht in der Welt zurecht findet. Vielleicht die Geschichte einer ganzen Generation?
Michael Masomi, Anmerkung zur Geschichte

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Michael Masomi).
Der Beitrag wurde von Michael Masomi auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.01.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Michael Masomi als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Mein Parki - Heute / Alltag nach vielen Jahren (Parkinson-Gedichte 2) von Doris Schmitt



Das Buch handelt von Gedichten über Parkinson nach vielen Jahren. Das 1. Buch wurde 2015 veröffentlicht und beschreibt die ersten Jahre mit der Krankheit Parkinson.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Gesellschaftskritisches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Michael Masomi

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der Junge aus dem Schnee von Michael Masomi (Märchen)
Ali von Claudia Lichtenwald (Gesellschaftskritisches)
Auf den Spuren meines Vaters von Anna Steinacher (Wahre Geschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen