Ich
lernte Anuschka im August 2003 kennen.
Es
war so verdammt heiß, dass man es tagsüber nur in seiner
Wohnung aushalten konnte. Es war ein Jahrhundertsommer, der Ende März
anfing und weit bis in den Oktober reichte. Europa war fest im Griff
des Fixsterns und die Hitze forderte viele Opfer. Deutschland rief
einen Rekord nach dem anderen aus. Es war zu heiß, um im
Freibad zu liegen - zu heiß, um auf der Straße ein Eis zu
lutschen. In der Sonne hatte man das Gefühl, man befände
sich in einem 50 °C heißen Backofen. Der Geruch von Teer
lag in der Luft und die Abgase der Autos brannten beißend in
der Lunge.
Die
Sonne stach einem förmlich die Augen aus und sie stichelte auf
der Haut, so dass man es - auch ohne Wissenschaftler zu sein –
heraus fand, dass dies nicht gesund sein konnte. Also blieb man
daheim.
Dennoch,
ich musste raus. Meine Haare hatte ich mal wieder zu lang wachsen
lassen und bei dieser Affenhitze störten sie total. Ich hatte
mich entschieden, zu dem Friseursalon um die Ecke zu gehen. Ich
fühlte mich schon etwas schuldig, da ich seit zwei Jahren den
Laden nicht mehr betreten hatte. Doch was sollte ich machen? Die
Matte musste ab!
Ich
nahm noch einmal eine eiskalte Dusche, wusch mich mit dem kühlenden
Gel von Adidas und stellte mich klatschnass vor die kleine
Klimaanlage, die ich mir im Mai gekauft hatte. Klimaanlagen und
Ventilatoren waren in jenem Jahr das Geschäft.
Ich
zog mir ein leichtes, kurzärmeliges Hemd mit buntem Aufdruck an
und eine aus Leinen bestehende dreiviertel lange, graue Hose. Danach
kramte ich die Sonnenbrille in meiner Sehstärke heraus und
tauschte sie gegen die normale aus. Ich sah aus wie ein
kalifornischer oder australischer Surfer und starrte kopfschüttelnd
in den großen Spiegel. ‚Mit 33 läufst du immer noch
herum, als wärst du einem Rockvideo auf MTV entsprungen.’
Ich
verließ meine Wohnung. Die Dunstglocke aus Abgasen und Teer
schlug mir in den Magen. Die Hitze schien sofort alle Flüssigkeit
aus mir heraus saugen zu wollen. Meine Zunge wurde trocken und auf
meiner Stirn bildete sich ein Schweißfilm.
Eine
Horde junger Mädchen kam mir mit Miniröcke und
Bikinioberteilen entgegen. Sie lächelten mich aufreizend an.
Verbotener Zucker!
Ich
vermisste meine Canon, wischte mir den Schweiß aus den Augen
und lief die Straße hinunter zu Fatimas Salon. Mit Schwung
öffnete ich die gläserne Türe. Ein Schwall heißen
Luftgemischs aus Haarspray, H2O2 und Kaffee kam
mir zusammen mit Sertaps Grand-Prix-Hit entgegen. Wieder verkrampfte
sich mein Magen.
Fatima
Türkmatz, eine türkisch stämmige Frau, die zwei Jahre
älter ist als ich, lächelte mich freundlich an. Seit
Monaten klopfte sie von innen gegen die Scheibe, wenn ich an ihrem
Lädchen vorbei ging und formte mit Zeige- und Mittelfinger eine
Schere.
„Hi
Richard!“ Wir kannten uns schon auf der Grundschule und hatten uns
die folgenden Jahre nie ganz aus den Augen verloren. Vor fünf
Jahren war ich durch Zufall in der Kneipe gelandet, in der Fatima
ihre Meisterprüfung feierte. Wir tranken so einige Flaschen
Wodka und ich versprach ihr, mir den Laden anzusehen, da er ja direkt
bei mir um die Ecke lag.
Es
ist ein kleiner Laden mit zwei Frisierstühle und zwei großen
Spiegeln. Ich ließ mir alle drei Monate einen pfiffigen Schnitt
von ihr verpassen, kam dann hin und wieder auf einen Kaffee vorbei.
Sie
stand neben dem ersten Stuhl, in dem ein älterer Mann saß,
dem sie gerade die Haare aus dem Nacken pinselte und der sie aus dem
Augenwinkel beobachtete. Fatima ist sexy und sie weiß es
auch, sie ist eine freie und selbstbewusste türkische Frau die
unverheiratet ist.
1.
weil sie ihre Landsleute schockieren will und 2. weil sie ihre
machomäßigen Landesmänner nicht ab kann. Da sie aus
Liebe heiraten und nicht verschachert werden will, ist sie immer
alleine gewesen und war auf der Pirsch nach Mr. Right.
Am
zweiten Stuhl - den für Frauen - arbeitete ihre Angestellte und
beste Freundin Jaschim Özkan. Jaschim ist Mitte Zwanzig, sie
ist die orientalische Ausführung von Angelina Jolie - mit etwas
kleineren Brüsten.
„Das
wird auch langsam Zeit!“ Jaschim lachte „Was macht die Kunst?“
„Ich
kann davon immer noch prima leben. Komm doch mal ins Breuers, da
hängen einige meiner Bilder aus.“
Sie
legte den Kopf schief. Sie blickte mich abschätzend an.
„ Du
brauchst auch nicht bezahlen, ich schenke dir eins!“
„Was
soll ich mit Fotos von Frauen?“ Sie grinste mich frech an.
Ich
mache Kollagen von Gesichtern - nur von Frauen und Mädchen. Wenn
ich sie fotografiere, haben sie für einen Bruchteil etwas so
Faszinierendes, dass ich jedes einzelne Bild in dem Augenblick als
Meisterwerk bezeichne.
Ich
kann es nicht beschreiben, was ich in ihren Gesichtern sehe, es ist
etwas, was mich berührt und vor allem etwas, was auch bleibt, da
ich es in den Kollagen wieder finde.
Einige
waren so zauberhaft, dass ich sie einfach auf der Straße
ansprechen musste und ablichtete. Ein Freund sagte einmal, ich würde
die Typologie der Frauen heraussuchen. Ich weiß es nicht. Ich
habe Kunst nie studiert. Ich mache es einfach aus dem Bauch heraus
und verwandle die Fotos in bunte Licht- und Schattenspiele mit dem
Paintprogramm vom PC.
Ich
stellte einfach so ein paar Bilder ins Internet und bei Breuers aus.
Kurze Zeit später kam eine Kunstzeitschrift auf mich zu und
machte eine Reportage. Danach taten ein Auftritt bei ARTE und einer
bei 3Sat ihr Übriges, so dass sich die Zahlen auf meinem Konto
von tief rot in tiefschwarz verwandelte. So muss ich keinem festen
Job mehr nachgehen, sondern kann mein Leben genießen. Meine
„Werke“ verkaufen sich fast von alleine. Doch irgendwie fühle
ich mich nicht sehr wohl dabei, wenn ich mein Viertel sehe.
Abermals
zuckte ich mit den Schultern, wobei ich Jaschim mit einem Lächeln
bedachte. Das mache ich immer, wenn mir bei einem Gesprächspartner
nichts mehr einfällt.
„Kriegst
du einen Kaffee, Richard?“ Fatima lenkte meine Aufmerksamkeit
wieder auf sich. Sie ist süß, wenn sie bei meinem Namen
einen übertriebenen französischen Akzent benutzt.
„Bei
der Hitze? Lieber einen türkischen Tee, wenn ihr habt?“
Ein
Nicken, gefolgt von einem Lächeln.
Dieses
Lächeln besitzt sie schon seit der ersten Klasse. Sie war damals
eine niedliche Erstklässlerin und wenn ich mich recht entsinne,
stand ich schon zu der Zeit auf sie.
Fatima
drehte sich kurz zur Hintertüre um, die in den kleinen Raum
führte, in dem sie Tee, Kaffee und Gebäck aufbewahrte und
rief: „Anuschka! Machst du bitte einen Chai und einen Kaffee?“
„Ja,
ja!“ drang eine seltsam rauchige Stimme durch den Vorhang. Die
Stimme klang sehr jung, aber gleichsam verlebt.
Frustriert
ließ Fatima die Hände sinken, erhob sie wieder und griff
sich ins lockige Haar. „Du weißt, was -Ja, ja- heißt!“
„Ja!“
Ein Kichern.
„Praktikantin!“
erklärte Fatima mir, wobei sie die braunen Augen verdrehte.
„Hätte ich mir doch nur eine andere ausgesucht. Es haben sich
Viel versprechende beworben, aber ich hab mich wohl vom Aussehen
blenden lassen. Sie ist gerade mal drei Wochen bei mir und ich habe
die Nerven blank.“
Ich
wollte etwas erwidern, da zischte Jaschim dazwischen: „Kleine
Schlampe!“
Das
sagte wohl alles! Ich konnte mir das Wesen hinter dem Vorhang
bildlich vorstellen: Eine kleine, blonde Mantafriseuse mit dummen
Augen und einem zu großen Busen unter ihrem zu kurzem Hals und
ein bunt bemaltes Gesicht auf Kriegspfad. Mannstoll halt!
Der
Vorhang schwang zur Seite. Von irgendwo her kam eine kühle
Brise, schwoll mir entgegen und spielte mit meinen zu langen Haaren.
Es war so, als hätte jemand die SloMo-Taste bei einem DVD-Player
betätigt, oder wie in einer Sequenz aus einem John Wu Film. Die
Zeit zog sich plötzlich wie Zuckerwatte, alles wurde irreal. Die
Tür erstrahlte in einem Leuchten. Der Friseursalon wurde kleiner
und schien sich zu verdunkeln. Ihr rechtes Bein, bekleidet in einem
Leder oder Latexstiefel, kam über die Schwelle. Ihre Energie war
die eines Bulldozers, der mich in die Magengrube rammte. Da schritt
dieses Etwas aus dem Hinterzimmer und der Raum explodierte wie eine
Supernova.
Sie
war groß für ein Mädchen – nein, für eine
Frau. Ihre schlanken Beine, die aus den Schäften ihrer Stiefel
lugten, waren makellos braun von der Sonnenbank. Die wohl gerundeten
Oberschenkel verstecken sich hinter einem Hauch von Stoff, der sich
Mini schimpfte. Sie wuchsen zu einem Hintern, der sogar JLo und
Beyonce vor Neid erblassen lassen würden. Der Mini hing vor den
Hüften und gab wie bei Pink das Schambein frei. Ihr Bauch war
glatt - kein Sixpack - aber muskulös wie es bei den Mädels
der Zeit hipp ist. Zwei wirklich große Brüste wurden von
einem engen Top gehalten, unter dem es keinen BH gab. Ihr Gesicht
raubte mir den Atem.
Fatima
guckte erschrocken zu mir herüber. Sie hatte meinen
Gesichtsausdruck richtig gedeutet, das nahm ich noch wahr. Nachdem
sie den Kaffee zu der älteren Dame gebracht hatte, spazierte
diese Aphrodite auch schon auf mich zu und stellte den Chai auf den
kleinen Tisch. Ich sah in ihr Dekolleté und ihre festen
Brüste, so groß wie Honigmelonen, ließen mir das
Wasser im Munde zusammenlaufen.
Kleine
Schlampe!, hallte Jaschims Stimme durch meinen Kopf. Nein! Göttin
protestierte meine Seele.
„Bitte
schön!“ hauchte sie rauchig, streckte mir tückisch die
Zunge heraus, in der eine kleine metallene Kugel gespickt war und
verweilte mit einem wissenden Grinsen in dieser Haltung vor mir, so
dass ich den Blick in ihr Schaufenster weiter genießen konnte.
„Danke.“
Ich schluckte verlegen, blickte ihr einen Moment in die wunderschönen
Augen, um dann wieder in ihrem Ausschnitt zu landen. In der rechten
Brustwarze steckte ebenfalls eine Perle an einen kleinen Ring. Ich
verspürte einen sanften Stich in meiner Lendengegend. Mein erste
Gedanke war: Ihre armen Lehrer!
Ihre
Augen waren von Maskara und Lidschatten eingerahmt. Sie sah mir mit
einem festen Voodooblick in meine Augen, der mich verrückt
machte. Ihre Lippen waren groß und feurig rot.
„Wenn
du da fertig bist, kannst du hier die Haare zusammen fegen!“ störte
Fatima und die Zeit rastete in ihren gewohnten Geschwindigkeitsgrad
ein.
Anuschka
drehte sich noch einmal zu mir um und lächelte. Das Gesicht
dieser Sexgöttin verformte sich zu dem einer frechen Göre
und der Zauber war verschwunden. Ich blieb sitzen und war verblüfft,
so wie ich es einst über David Copperfield war.
„Wollen
Sie sich die Haare schneiden lassen?“ Ihre Stimme war nun ein
Piepsen.
„Würde
ich sonst zum Frisör gehen?“
„Anuschka!“
forderte Fatima.
Das
Mädchen ignorierte ihre Chefin und meinte zu mir: „Würde
ich nicht machen, sieht cool aus!“
„Anuschka!“
Fatima schrie jetzt, wobei sie ihre Fäuste in die Seiten
stemmte. Ihr Gesicht färbte sich langsam rot.
„Danke!“
Fatima schien auch für mich nicht mehr zu existieren.
„Ich
würde vielleicht ein paar blonde Strähnchen rein machen,
wegen des Sommers.“ Wieder die Zunge, obszön und verspielt.
„ANUSCHKA!“
Jetzt platzte Fati der Kragen.
Die
Kleine drehte sich zu ihr um und fragte schnippisch: „Was?“
Fatima
stockte der Atem. Sie wollte der Göre klar machen, wer hier der
Chef vom Ganzen war, aber Anuschka nahm ihr mit einem einzigen Wort
den Wind aus den Segeln. Sie rang nach Fassung. Ihr Blick
verfinsterte sich.
„Einen
anderen Ton, sonst kannst du gehen!“
„Pöh!“
machte sie nur, grinste mich an, winkte mir und verließ den
Laden.
Verdutzt
und erstaunt blickten wir ihr hinterher. Irgendetwas in mir amüsierte
sich über den fragenden Blick von Fatima. Die Kleine hatte
Courage. Ihren ersten Job einfach so hinzuschmeißen, das
imponierte mir. Fatima folgte ihr nach draußen und rief ihr
hinterher: „Du kannst dir morgen deine Papiere abholen!“
Sie
kam wieder herein und knallte die Türe so zu, dass das
Glockenspiel schepperte. „Miststück!“
Die
Frau und der Mann starrten sie entsetzt an.
„Die
Jugend von Heute!“ sagte die alte Dame knapp, der Mann nickte
zustimmend.
Ich
stand auf, trank meinen Tee aus und sagte: „Machst du mir einen
Termin fürs Färben?“
Fatima
holte tief Luft und flüsterte: „Was?“
„Du
hast ja meine Nummer!“
Ich
verließ den Laden ohne ein Aufwiedersehen. Auf der
Straße schaute ich mich nach Anuschka um, die in Richtung Stadt
davon stapfte. Ich ging in die andere Richtung nach Hause, kaufte mir
in der neuen Eisdiele ein Eis und als ich zu hause war, duschte ich
noch einmal kalt.