Rico Graf

Fensterbrett und Zigaretten

Das Fensterbrett ist ein Ding, dem er nie Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Weniger jedenfalls als dem Rauchen. Rauchen tat er nur selten. Meistens nur am Abend. Und dann gern aus dem Fenster blickend. Unser Protagonist wohnte im zweiten Stock und unter dem Fenster befand sich ein Innenhof, durch den natürlich auch mehrmals am Tage und in der Nacht die Leute entlanggingen. Da er (noch) keine Gardine besaß, um das Fenster zu bekleiden, tat er dies mit einer schlichten Bettdecke, um den Einblick unwillkommener Blicke zu verhindern. Weil ihm weiter ein Aschenbecher höchstens ein Produkt seiner Vorstellung im Hause blieb, drückte er die Kippen auf dem Fensterbrett aus und legte sie auf ihm ab. Das Fensterbrett übernahm sozusagen die Obhut der Kippen und daher war er nach dem Ausdrücken nicht mehr Herr über ihr Schicksal. Eines Abends jedoch musste er erfahren, dass es so einfach nicht war, sich der Verantwortung zu entziehen. Er hatte sich an jenem besagten Abend eine Zigarette angezündet, rauchte diese auf und drückte sie wie immer auf dem Fensterbrett aus. Es war sehr windig an diesem Abend. Die Kippe lag nun etwas neben einem etwas größeren Haufen von Gleichgesinnten, deren Nutzen sich bereits an vorangegangenen Abenden verbraucht hatte. Er schloss das Fenster, soweit dies möglich war, nachdem sich der Rauch und der Geruch verzogen haben. Denn da die Bettdecke über den oberen Rahmen des Fensters gelegt worden war, hing immer ein Teil an der Außenseite des Glases herab. Daher war eine Fensterschließung nicht möglich. Der Stoff war zu dick. Er pufferte die Rahmen voneinander ab und ließ nicht zu, dass der Schließmechanismus vollendet werden konnte.

Es dauerte nicht lang, als es plötzlich an der Türe klingelte. Unser Protagonist war etwas überrascht. Wer konnte das nur sein? Er öffnete die Haustür und lauschte dem Geräusch der näher kommenden Schritte. Ein großer Mann baute sich vor ihm auf. Das Gesicht in finstere Züge gelegt und mit einem verärgerten Funkeln in den Augen. „Findest du das witzig?“, fragte er. „Was witzig?“, fragte der Verwunderte zurück. „Na das hier!“, brüllte der Typ und zeigte unserem Raucher eine Kippe. Dieser reagierte reflexartig mit: „Das ist nicht meine Kippe! Woher wollen Sie wissen, dass das meine Kippe ist?“ „Weil ich gerade unten im Innenhof entlanglief und mir plötzlich dieser Zigarettenstummel auf den Kopf fiel! Und als ich nach oben blickte, sah ich, dass alle Fenster geschlossen waren, nur deines, Freundchen, war einen Spalt weit offen und da war mir alles klar!“ „Nu, nu, nu!“, sprach der vermeintliche Kippenproduzent, „Wenn das meine Kippe wäre, dann müsste es hier doch aber nach Zigarettenrauch riechen! Und das ist ja wohl nicht der Fall?“ „Wie soll ich den hier riechen, wenn dein Zimmer hinter dir versteckt ist?“ „Gern kannst du eintreten und dich selbst davon überzeugen, dass ich die Wahrheit sage!“ Der böse Mann nahm ihm beim Wort und trat ohne Zögern ein. Unserem Protagonisten folgend, lief er in das besagte Zimmer. Es roch natürlich nicht nach Rauch, denn dieser hatte sich ja bereits vor einiger Zeit verflüchtigt. Jedoch ahnte der Angeklagte, dass der Anklagende sicherlich einen Blick aufs Fensterbrett erhaschen würde wollen und deswegen musste er, in Gedanken die anderen dort noch liegenden Stummel verfluchend, schneller sein als sein wütender Ankläger, um diese, dem Fensterbrett die Macht über sie entreißend, eilig und ungesehen in den Innenhof zu katapultieren. Der Herr der Kippen sprach: „Siehst du? Kein Rauch! Keine Kippen! Das Fenster ist nur deswegen etwas auf, weil ich eine Decke nutze, statt einer Gardine und wie du siehst, bedeckt diese zum Teil auch die äußere Glasseite, was wiederum dazu führt, dass ich das Fenster immer einen kleinen Spalt offen habe!“ Noch beim Sprechen öffnete er es und sah sogleich die gefährlichen Potenziale auf dem Brette und wischte sie, galant und unauffällig, weg, sodass sie der Gravitation ihre Ehre machen konnten. Der andere Mann blickte, die in sich aufbauende Überzeugung langsam annehmend, zum Fensterbrett, wobei hierbei anzumerken sei, dass der Blickwinkel dieses geradeso erfassen konnte. Er zuckte mit den Schultern und setzte zu einer Entschuldigung an: „Ich sehe, ich habe diese Unterstellung wohl zurückzunehmen. Es tut mir sehr leid. Du kannst unmöglich der Übeltäter sein! Denn es fehlt an Beweisen, dass du tatsächlich geraucht hast!“ „Vielen Dank. Ich meinerseits möchte deine Entschuldigung annehmen und biete dir gern an, dich wieder hinauszubegleiten. Vielleicht findest du ja noch den wahren Übeltäter!“ Der andere nickte nur und lief gen Wohnungstür. Sie verabschiedeten sich nun lächelnd und fast freundschaftlich, wobei unser Protagonist die Türe öffnete, um den Mann herauszulassen, als beide erkannten, dass sie ein dritter Mann, noch bösartiger, noch größer, noch mit einem viel finsteren Gesichte, anstarrte, die Augen Gifte spuckend, oh, das heiße Blut war ihm zu Kopf gestiegen. „Könnt ihr beide mir erklären, was das soll?“ „Was soll was?“, fragten beide verwundert. „Das hier!“, der dritte Mann hielt einige Kippen in der Hand und warf sie angeekelt zu Boden, bevor er fortführte: „Die sind mir gerade alle ins Gesicht gefallen! Und nur dies Fenster hier im zweiten Stock war geöffnet gewesen! Ich bin sehr wütend und will die Sache sofort geklärt haben!“ „Nu, nu, nu!“, beruhigte ihn übrigens der zweite Mann, „Da bist du wie ich ein Angeschmierter (wie wahr)! Wenn ich erklären darf: Auch ich lief vorhin den Innenhof entlang. Mir fiel ein Zigarettenstummel, jedoch nur einer, auf den Kopf und ich machte die gleiche Schlussfolgerung wie du: Das geöffnete Fenster deutet auf den Bösewicht zu, der so verantwortungslos ist. Ich ging sodann hierher und wollte mich beschweren, doch der gute Mann hier überzeugte mich, dass es unmöglich seine Kippe hätte sein können, da es nicht nach Rauch gerochen hat in seinem Zimmer.“ Der dritte Mann blieb indes skeptisch. „Verehrter Herr, mir zeichnet sich noch nicht so recht in klarer, glasklarer Form ab, inwieweit zwischen einem Zigarettenstummel und einem Zigarettengestank, verzeiht den Ausdruck, ein Zusammenhang bestehen muss?“ Die Augen des zweiten Mannes flackerten leicht auf. Machte sich eine Unsicherheit in ihm breit? Rüttelte sie nun am Fundament der Überzeugung? Er blickte unseren Protagonisten an und dann wieder den dritten Mann: „Aber, sehr geehrter Herr, ist es nicht einfach logisch, dass die Zigarette stummelartig aus dem Fenster fliegt, nachdem sie aufgeraucht wurde?“ „Warum?“, fragte der dritte Mann, „Wer sagt, dass sie sofort aus dem Fenster fliegen muss. Ich wurde gerade von einer Hand voll Kippen belästigt. Wurden die auch etwa alle geraucht und sofort aus dem Fenster geworfen?“ Die Überzeugung brach in den Augen des zweiten Mannes zusammen. Sein Gesicht hatte nun auf einmal die Helle einer Nacht… Der dritte Mann meinte: „Eigentlich ist die Sache doch ganz einfach zu überprüfen. Wir gehen zusammen in das Zimmer und überzeugen uns weniger von irgendeinem Rauch oder irgendeinem Geruch, sondern vom Fensterbrett selbst! Dann sehen wir, ob da Kippen liegen oder nicht und ob überhaupt je welche dort gelegen haben, denn so etwas Dreckiges macht ja Dreck.“ Unser Übeltäter schluckte. Was hatte er für eine Wahl? Also gingen die drei Männer in das besagte Zimmer, allen voran unser Raucher, dem der Kloß im Magen saß. Er öffnete das Fenster und ließ die beiden Herren das Fensterbrett betrachten. Es bestätigte sich, was der dritte Mann vermutet hatte: Die alten Stummel in der Obhut des Fensterbretts hatten ihren Dreck hinterlassen. Verklebte Asche war ganz eindeutig hie und da zu erkennen und vermittelte die so ungewollte, bittersüße Wahrheit. Das Fensterbrett hatte nie und nimmer die Verantwortung übernehmen können für diese kleinen dreckigen Stummelchen. Mit dem Fensterbrett und den Zigaretten war es nämlich wie mit so vielen anderen Dingen im Leben. Man überließ sie einer Pseudovertretung für sich selbst und machte sich die Illusion, das würde funktionieren. Und wenn die Realität einen wieder einholte, dann nicht etwa, weil man stehen geblieben ist, sondern weil selbst der schnellste Mensch der Welt nicht vor ihr flüchten, letztlich eben nicht vor sich selbst flüchten kann! Was nun mit unserem allabendlichen Raucher nun geschah, sollten wir besser nicht nachfragen, da der Blick auf unser eigenes Fensterbrett und unsere eigenen Zigaretten vielleicht viel wichtiger ist?

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.02.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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