Hella Schümann

Eine Kurliebe

 

 

Da mußte ich 56 Jahre alt werden, um dem Mann zu begegnen, den ich mein ganzes Leben lang gesucht hatte: Vornehm im Auftreten, verläßlich, zurückhaltend und intelligent, souverän und liebevoll, ein Mann mit Niveau. Außerdem gutaussehend für sein Alter, schlank und groß, kurz gesagt: Mein Traummann.

Jeden Abend schlafe ich mit ihm ein und jeden Morgen wache ich mit ihm auf.

Doch ich will von vorne beginnen.

Ich bin noch immer eine attraktive Frau. Zu meinem großen Bedauern bin ich zweimal geschieden. Das empfinde ich als Makel, denn ich bin so erzogen, daß man mit einem Mann sein Leben lang zusammen bleibt.  In meiner ersten Ehe wurde ich wie ein Aushängeschild benutzt. Immer, wenn wir mit anderen Menschen zusammen kamen, wurde ich vorgezeigt, um dann zu Hause wieder in die Ecke gestellt zu werden, wie eine alte ausgediente Robe. Ich kam mir schließlich so wertlos vor, mein Leben verlor jeden Sinn, so dass ich nach einem Selbstmordversuch meinen Mann verließ. Zwölf Jahre Ehe lagen hinter mir.

Die zweite Ehe war der reinste Horror. Mein Mann war Trinker und krankhaft eifersüchtig. Er behandelte mich wie eine Sklavin. Nach 13 Jahren Ehe fand ich endlich den Mut, diesen Mann zu verlassen.

Drei Jahre später sprach mich ein Kollege an und bat mich um ein Dienstgespräch. Da ich meine Unterlagen alle zu Hause hatte, lud ich ihn zu mir nach Hause ein. Aus dem Dienstgespräch, das übrigens tatsächlich stattgefunden hat, wurde eine ernste Beziehung. Tim war ganz anders als meine Ex-Ehemänner. Er nahm mich ernst und konnte über meinen Humor lachen (das kann längst nicht jeder).Seine liebevolle Art und sein Verständnis für mich taten mir gut. Unsere Beziehung war geprägt von langen guten Gesprächen und jeder lernte vom Anderen. Ich liebte seine frische fast knabenhafte Art genauso wie seine Zurückhaltung anderen Menschen gegenüber und wenn es darauf ankam konnte  er auch erwachsen sein. Ach ja, ich vergaß zu erwähnen, dass Tim siebzehn Jahre jünger war als ich. Mittlerweile sind wir 5 Jahre zusammen und das Gefühl füreinander ist immer noch so stark wie in der ersten Zeit.

Ich habe einen sehr anstrengenden Beruf, ich bin Lehrerin. Letzten Sommer wurde ich ernsthaft krank, ich konnte nicht mehr schlafen. Starke Gedächtnislücken machten mir zu schaffen und ich litt außerdem seit einigen Jahren an Migräne, die manchmal mit Halluzinationen einherging. Ich war völlig ausgebrannt. Ein halbes Jahr später wurde ich zur Kur geschickt, eine sechswöchige Kur in einer psychosomatischen Klinik im Schwarzwald. Der Abschied von Tim fiel mir schwer, denn wir waren noch nie so lange voneinander getrennt. Er verabschiedete sich mit den Worten: Gott sei dank, dann habe ich endlich Ruhe. Das tat weh. In der stillen Hoffnung, er würde mich in der Kur besuchen fiel es mir etwas leichter, Abschied zu nehmen. Er hat mich übrigens nicht besucht. Ach das tat mir weh, denn jedes Wochenende kam Besuch, nur nicht für mich.

Ich war schon einmal zur Kur gewesen und weiß also, was dort abläuft. Schneller als man denken kann hat man unter Umständen einen Kurschatten am Hals, aber nicht mit mir, denn ich weiß, wie man ein Kurschattenabschreckgesicht macht. Ich brauche keinen Kurschatten, denn ich habe ja Tim und den würde ich nie enttäuschen. Außerdem hatte ich ganz andere Probleme: Ich wollte vor allen Dingen entspannen und wieder fit für’s Alltagsleben werden, denn ein Jahr lang hatte ich mich von einem Tag zum anderen hinüber gerettet, bis es nicht mehr ging.

Nun war ich also in der Kurklinik angekommen. Rings um mich Gesichter ohne Eingang. Panik erfasste mich. Was machte ich hier eigentlich? Mir ging es doch gut, körperlich war ich fit, bis auf die Schlafstörungen, die Gedächtnislücken, die Migräne und die Halluzinationen. Wenn ich zu Hause gefragt wurde: „Was hast du denn? “ So konnte ich antworten, was ich wollte, von den Schlafstörungen bis zur Migräne, das hatten die anderen auch und noch viel schlimmer.

Ich kam mir verloren vor, lauter fremde Gesichter. Da blieb nur noch der Blick nach vorne, am besten gleich Anschluss suchen. Beim Umschauen fiel mir eine junge blonde Frau auf, die gerade zu mir herüber sah. Sie war mir auf Anhieb sympathisch, doch halt, sie hatte einen Nasenstecker und an jedem Finger einen Ring. Eigentlich habe ich nichts gegen Pearcing, wenn es gut aussieht ist es in Ordnung, doch hat die Art, wie man sich schmückt auch etwas mit dem Charakter zu tun. Will man auffallen, oder provozieren?... Egal, ich wollte Kontakt und da war er, mal sehen, ob Ingrid mir bei näherer Betrachtung auch noch gefiel. Es stellte sich heraus, dass wir beide die gleichen Hobbys hatten, malen und fotografieren. Was aber noch wichtiger war: Wir hatten den gleichen Humor und verstanden uns auch ohne Worte. Mit Ingrid verbrachte ich die meiste Zeit in der Klinik.

Unsere Unterkunft

Die Klinik war sehr liebevoll eingerichtet. Überall standen kleine oder große Statuen, Blumenschalen, allerdings mit künstlichen Blumen, und es gab viel Licht, durch große Fenster, viele Lampen und riesige Spiegel. Ich hatte ein Einzelzimmer mit Bad und mein Zimmer war sehr geschmackvoll eingerichtet, während in Ingrids Zimmer ein Teppichboden aus den 70ziger Jahren lag, mit schrillen Farben und einem schrecklichen Muster.

In der Eingangshalle waren Sessel und Sofas zu Gruppen aufgestellt und in der gemütlichsten Ecke ließen wir uns nieder. Sie wurde zu unserem Stammplatz. Ein wunderschöner alter Schrank zierte die Eingangshalle, er vermittelte mir ein Gefühl der Geborgenheit, als ich zum ersten Mal die Halle betrat.

Manchmal saßen in unserer Sitzecke drei ältere Damen, alle drei sehr nett und durch ihre unterschiedlichen Charaktere äußerst interessant. Ich fühlte mich zu ihnen hingezogen und anscheinend war das gegenseitig, denn wir fanden zusammen und blieben die ganzen sechs Wochen in der gleichen Runde.

Gudrun, Svetlana und Margret, die älteren Damen.

Dieses Damentrio war unzertrennlich. Sie machten fast alles gemeinsam. Morgens um sieben Uhr begegnete ich ihnen immer beim Wassertreten. Margret gab  den Ton an. Sie war eine starke Persönlichkeit, geprägt durch ein schweres Schicksal: Ihr Mann war im Alter unausstehlich geworden und sie musste sich alleine um einen behinderten Sohn kümmern, von dem sie immer mit großer Liebe sprach. Ihre laute Stimme, die manchmal etwas schrill klang, war durch die ganze große Halle zu hören. Eines Tages bekam sie von zu Hause, natürlich von ihrem Mann die Nachricht, dass ihr Enkelsohn wahrscheinlich Gehirnhautentzündung hätte. Was für ein schrecklicher Mann! Konnte er nicht mit der Nachricht warten, bis das Endergebnis der Untersuchung feststand? Margret weinte fürchterlich und auch ich konnte sie nicht trösten, als ich sagte: „Warte doch erst mal auf das Untersuchungsergebnis, vielleicht ist es ja nicht so schlimm." Einen Tag später, nachdem sie von Tränen leer war, kam die Erlösung, es war nur eine Magen- und Darmverstimmung gewesen.

Gudrun war total verängstigt und weinte viel. Sie wusste nicht recht, wo sie hingehörte. Dort, wo sie lange gelebt hatte, wollte sie weg, wegen der vielen schlechten Erinnerungen. Dort, wo sie hinziehen wollte, nämlich in ihre Heimat, fühlte sie sich nicht angenommen. Gudrun hatte wenig Geld und deshalb konnte sie es sich nicht leisten, den Teddy, den sie bei der Beschäftigungstherapie genäht hatte, selber zu kaufen. Das war eigentlich kein Problem, denn dann wurde der Bär an andere Interessenten verkauft, doch Gudrun fand so viel Gefallen an der Arbeit, dass sie gleich 3 Bären bastelte. Eines Morgens kam sie ganz aufgeregt in unsere Runde. „Stellt euch mal vor“, sagte sie: „Da kam eine Frau, die wollte unbedingt meinen gelben Honigbären kaufen, der sie so an ihre Kindheit erinnerte. Als sie hörte, dass ich meine eigenen Bären nicht bezahlen konnte, erstand sie noch den Braunbären, meinen Liebling und schenkte ihn mir. Jetzt frage ich euch, kann ich so was überhaupt annehmen?“ Sie war trotz unseres einstimmigen „Ja“ immer noch beunruhigt, weil doch der Bär so teuer war, wer schenkte ihr denn mal so etwas Teures!

Svetlana stammte aus dem Kosovo und hatte durch den Krieg dort das Lachen verlernt. Sie war sehr still, meist hörte sie nur zu. Doch als das Trio einmal Mensch ärgere dich nicht spielte, es waren schon drei Wochen Kur vergangen, hörte ich Svetlana zum ersten Mal herzhaft lachen. Von da an wurde sie gelöster und fing an zu reden.

Der Anfang

Noch jemand war mir in der Klinik aufgefallen, ich sah ihn ab und zu mit Margret reden, ein eleganter Mann, trotz Jeans und Sweatshirt. Sein Gesicht war von Schmerzen gezeichnet. Ich schätzte ihn auf 60 Jahre, doch wie sich herausstellte war er genau so alt wie ich. Er litt unter einer kaputten Bandscheibe, die ihm ständig starke Schmerzen verursachte und hatte Probleme mit dem Magen. Seltsam, noch nie hatte ich, wenn ich in einer festen Beziehung war und noch dazu in einer so schönen, glücklichen wie zur Zeit, Interesse für einen anderen Mann empfunden. Noch etwas kam hinzu, auch Männer in meinem Alter waren für mich uninteressant, ich hatte mein Leben lang immer jüngere gehabt und jetzt? Ein starkes Gefühl trieb mich zu diesem Mann, ich kämpfte mit mir, nur ja nichts nach außen dringen zu lassen. Es gab kein Entrinnen. Wir wohnten sogar auf dem gleichen Flur und begegneten uns ständig.

Eines Tages saß er neben Margret in der Halle und unterhielt sich sehr angeregt mit ihr. Eigentlich hatte ich vor, mich auf meinen Stammplatz zu begeben, doch jetzt zögerte ich. Gerade in dem Moment sah er mich an. Jetzt konnte ich nicht mehr umkehren. Ich fragte die beiden ob ich störe und er antwortete: „ Warum sollten Sie?“ So war der Anfang gemacht, wir waren wie zwei Magneten, soweit wir auch voneinander gingen, wir wurden immer wieder angezogen. Fast die ersten Worte, die er an mich richtete, waren: „Warum haben wir uns nicht früher getroffen?“ Genau das Gleiche hatte ich auch gedacht, und mit früher meinte er: Vor mehr als 34 Jahren, denn so lange ist er glücklich verheiratet.

Da er in Berlin aufgewachsen ist und bis zu seiner Heirat dort lebte, haben wir überlegt, ob wir uns dort begegnet sind. Die Wahrscheinlichkeit war sehr gering, doch da auch ich zu der gleichen Zeit ein Jahr lang dort wohnte und auch später immer wieder Berlin besuchte, fanden wir heraus, dass ich ihn in einer Fledermausaufführung als Statist gesehen haben muss. Sei Kommentar dazu war: „Warum hast du nicht gewunken?“

Als ich ihm einmal meine Lebensgeschichte in Stichpunkten erzählte, wie mich meine beiden Ehemänner wie ein Muster ohne Wert behandelt hatten, sagte er mit Nachdruck: „ Ich hätte sofort erkannt, was du für ein Mensch bist.“ Das konnte ich glauben, denn er hatte in der kurzen Zeit, die wir miteinander verbrachten, mich ziemlich gut analysiert. Als mir seine Antwort so richtig bewusst wurde und auch seine öfter wiederholten Worte: „ Hätten wir uns doch eher kennen gelernt“, brach plötzlich ein Gefühlssturm in mir los, mit großer Geschwindigkeit zog es mich in die Tiefe. Was hätte ich mir für ein Elend ersparen können, wären wir uns damals begegnet, wie anders wäre es mit Bernhard geworden, mit ihm wäre ich ein Leben lang zusammen geblieben, so wie seine Frau.

Beim Mittagessen musste ich darum den großen Speisesaal verlassen, weil die Tränen nur so herunter kullerten. Da ich ganz hinten im Raum saß und immer bei Bernhard vorbei musste, drückte ich mich an der Wand entlang dem Ausgang zu, so unauffällig wie möglich. Zum Glück war Bernhard noch nicht da. Oben im sechsten Stock begegnete ich ihm dann am Fahrstuhl. Mit einem leisen „Hallo“ ging ich schnell an ihm vorbei, in der Hoffnung, er würde meine Tränen nicht bemerken. Natürlich hatte er sie gesehen.

Den ganzen Nachmittag war ich mit Anwendungen beschäftigt und da ich außerdem noch eine Stunde ruhen sollte, beruhigte ich mich wieder etwas. Erst gegen Abend traf ich zufällig Margret auf der Treppe und sie fragte, was mit mir los sei, Bernhard hätte erzählt, dass ich geweint hatte. Sie wollten schon eine Schwester fragen, was mit mir sei, so große Sorgen hatten sie sich gemacht. Wer hatte sich jemals Sorgen um mich gemacht, das war ein schönes Gefühl und ich war sehr dankbar dafür.

 

Spaziergang mit Ingrid

Zum Angebot der Klinik gehörten Wanderungen mit einem Wanderführer. Zwei Stunden sind wir gewandert, Berg rauf und Berg runter, wir kamen an Stellen mit einem herrlichen Rundblick vorbei. An allen Wegkreuzungen waren Wegweiser aufgestellt, so dass der Weg leicht nachzuvollziehen war. Leider konnte Ingrid nicht mit, da sie zu der Zeit eine Anwendung hatte. Als ich voll Begeisterung  von dem Ausflug berichtete, beschlossen wir, am nächsten Wochenende auf eigene Faust zu wandern.

Ich dachte, es sei eine gute Idee, den gleichen Wanderweg noch einmal zu gehen, da ich ihn ja kannte, denn sonst verlaufe ich mich eigentlich immer. Damit es für mich nicht so langweilig wurde, beschloss ich, den Weg andersherum zu gehen, denn jeder Weg sieht rückwärts wieder anders aus. Das konnte ja kein Problem sein, da an jeder Wegkreuzung  ja die Wegweiser standen. Erst kam mir der Weg noch bekannt vor, aber wie gesagt, von hinten sieht er immer ganz anders aus. Seltsam, dass nirgends Schilder standen, sollten wir uns verlaufen haben? „ Wenn wir uns verlaufen haben, können wir es ja mal mit rufen versuchen,“ witzelte ich. Ein Spaß überholte den anderen. An jeder Kreuzung suchten wir nach einem Hinweis. Mal stand dort eine 12 , die wir eine Zeitlang verfolgten, da sie aber ins Tal führte und unsere Klinik auf dem Berg lag, nahmen wir die 4. Dann hörte man plötzlich Autos und ich machte den Vorschlag, an die Straße zu gehen und dort nach einem Hinweisschild zu suchen. Nicht einen Augenblick hatten wir Angst, im Gegenteil unsere gute Laune machte ständig Witze. Inzwischen waren drei Stunden vergangen. Ich hatte Recht, wir fanden einen Wegweiser und wussten so die ungefähre Richtung und wenn wir parallel zur Straße gingen, die auch hinter unsere Klinik her führte, dann wären wir bald zu Hause. Leider verlief die Straßenführung doch anders. Nach vier Stunden kamen wir total erschöpft, aber glücklich zurück. Ich war stolz auf mich, weil ich, die sich ständig verläuft, den Weg zurückgefunden hatte. Aber das nächste Mal würden wir mit Karte gehen, denn im Karten lesen bin ich gut. Übrigens, die Wanderung mit der Karte stellte sich als eine totale Pleite heraus, wir haben uns trotzdem verlaufen, weil manche Wege, die auf der Karte eingezeichnet waren nicht mehr existierten, oder plötzlich aufhörten.

Als wir endlich in der Klinik ankamen wurden wir von Iris empfangen mit den Worten: „Ich habe euch vom Fenster aus beobachtet, was habt ihr denn im Wald gemacht?“ „Was für eine dumme Frage“, dachte ich und antwortete übermütig: „ Wir haben im Wald geknutscht.“ Damals wusste ich noch nicht, welche Bedeutung dieser Satz haben würde.

 

Lena und der Elefantenbaum

Gleich am ersten Tag in der Klinik war mir eine Frau aufgefallen, die sehr flippig wirkte. Sie sah etwas schlampig aus und hatte eine ordinäre Lache, doch trotz allem gefiel sie mir. Alle Haare erwischte sie fast nie, wenn sie sie hochsteckte und sie hatte schreckliche braune Raucherzähne. Eines Tages, als ich mich allein auf den Weg in den Ort begeben wollte, und dabei einen herrlichen Umweg entdeckte, sah ich plötzlich Lena vor mir, sie ging schnellen Schrittes und ich hatte Mühe, sie einzuholen. „Woher kommst  du“, war die erste Frage, die sie an mich richtete. „Aus Bonn“, war meine Antwort. Sie lachte und lachte. „Kommst du auch aus Bonn“, vermutete ich. Genauso war es. Wir unterhielten uns den ganzen Weg sehr angeregt. Ich bin es gewohnt, zügig zu gehen, doch wenn Lena erzählte blieb sie jedes Mal stehen. Am Anfang war ich genervt, doch dann gewöhnte ich mich langsam daran, denn wir hatten doch alle Zeit der Welt, also, warum nicht mal stehen bleiben und ein wenig herum schauen?

Als wir im Kurpark ankamen blieb Lena wieder stehen und dabei fiel mein Blick auf einen Baum, den ich schon oft gesehen hatte, doch nie von hinten. Er sah aus wie ein Elefant. Ein schönes Motiv für meine Kamera. Wäre Lena nicht gewesen, ich hätte den Baum wohl nie so gesehen. Viele Leute habe ich noch auf diesen Baum aufmerksam gemacht.

 

Bernhard und die Tussi

Bernhard saß im Speiseraum ein paar Tische weiter mir schräg gegenüber. Wenn ich den Speisesaal betrat winkte er mir oft zu. Wir sahen uns über die Tische hinweg an, sooft es ging. Manchmal war ich allerdings im Gespräch vertieft mit meinen Tischnachbarn, oder Bernhard unterhielt sich mit seinen Tischnachbarinnen, von denen die eine sehr von Bernhard angetan war.

Eines Tages, als unsere Runde mal wieder in der Halle saß, fehlte Bernhard und Gudrun sagte etwas abfällig: „Bernhard ist mit der Tussi weggefahren.“ Margrett korrigierte: „ Du meinst wohl mit seinen Tischnachbarinnen.“

Es wurde Abend und Bernhard war immer noch nicht da. Margret und Gudrun waren richtig beunruhigt. Klang da vielleicht etwas Eifersucht durch, als Gudrun sagte: „ Ich verstehe das nicht, er ist doch verheiratet und dann fährt er mit dieser Tussi spazieren.“

Endlich kamen sie zurück, Bernhard und die Tussi. Die andere Frau war nicht mitgefahren, sie war krank geworden. Hatte da wohl jemand dran gedreht? Bernhard und die Tussi setzten sich zu uns und waren richtig fröhlich. Sie hatten einen schönen Tag gehabt, waren in Rüdesheim gewesen. „ Rüdesheim, “ rief Margret, „das ist ja gemein, mein Leben lang wollte ich schon nach Rüdesheim und da nimmst du mich nicht mal mit?“ Als die Tussi uns verlassen hatte ging erst richtig das Gezeter los. Bernhard genoss offensichtlich die Eifersüchteleien von Gudrun, die immer wieder betonte: „ Du bist doch verheiratet und fährst allein mit der Tussi nach Rüdesheim!“ Bernhard versprach Gudrun und Margret, mit ihnen noch einmal nach Rüdesheim zu fahren. Auch ich habe mich köstlich amüsiert, weil sich die beiden älteren Damen den ganzen Abend nicht beruhigen konnten. Als einmal eine kurze Pause eintrat wandte sich Bernhard an mich und fragte ernst: „ Hast du mich auch vermisst?“ „Nein“, war meine hoffentlich klare Antwort, denn ich hatte ihn sehr vermisst.

 

Mein kleines Geheimnis

Eines Tages hatte ich Fotos abgeholt, insgesamt habe ich während der Kur hundertsechzig analoge Fotos geschossen. Als ich Bernhard fragte, ob er die Bilder sehen wolle, sagte er: „Gerne, doch ich habe meine Brille nicht da.“ „Probier doch mal meine;“ sagte ich. So wurde es üblich, dass wir uns des Öfteren gegenseitig die Brille ausliehen. Ich reichte ihm den Packen Fotos mit beiden Händen hin und er griff unter meine Hände und streichelte sie sanft, während die Bilder in seine Hände glitten.

Viel später, als ich für ein Projekt auf meinem Computer, seine Hände fotografieren wollte und sagte: „Du hast schöne Hände“, antwortete er: „Streichelhände!“ Dabei sah er mich an, als ob er wissen wollte, ob ich sein zartes Streicheln bemerkt hätte. Ich sah vor mich hin und lächelte. Ich hatte es  genossen. Niemand in der Runde verstand Bernhards Worte und keiner machte wie sonst immer eine komische Bemerkung, es war seltsam still in der Runde, als ob sie spürten, das es nur uns beide berührte.

Bernhard und ich haben keinen Augenblick ausgelassen, um miteinander zu flirten. Ich wusste gar nicht, dass ich das kann, denn in meinem ganzen langen Leben konnte ich nie flirten, mir blieb sonst das Lächeln irgendwo stecken, ich war total verkrampft.

Lena sagte einmal: „Bernhard hat dich sehr gern, das sieht man.“

 

Ingrids Geheimnis

Ingrid und ich haben oft unsere Probleme ausgetauscht: Ich war das kleine Mädchen, das sich von „richtigen Erwachsenen“ leicht einschüchtern ließ. Bei der ersten Begegnung mit Bernhard merkte ich wie ängstlich und unsicher ich ihm gegenüber wirkte. Das änderte sich sehr schnell, in seiner Gegenwart wurde ich zur erwachsenen Frau, nur durch seinen Umgang mit mir, er brachte mir Respekt und Achtung entgegen.

Ingrid hatte Probleme mit ihren Kindern, sie konnte sie nicht loslassen und die Kinder haben von sich aus  und ganz plötzlich ihre Mutter losgelassen. Das war sehr hart für sie.

Nachdem ich Ingrid mal aus meiner Vergangenheit und von meinem schwulen Freund und einer lesbischen Freundin erzählt hatte, bekam sie den Mut mir zu sagen, dass auch sie lesbisch sei. Ich habe damit keine Probleme, außer, wenn sie sich in mich verliebt hätte, denn ich bin hetero und das weiß ich ganz sicher. 

 

Das erste Rendezvous mit Bernhard

Ich hatte mir ein Buch von Lorriot aus der Bücherei geliehen. Wir tauschten nicht nur die Brillen, sondern auch unsere Privatlektüre, deshalb bat mich Bernhard, ihm das Buch zu leihen. Da es aber nicht mein Eigentum war und ich kein Risiko eingehen wollte, fragte ich ihn, ob er mit mir in die Bücherei ginge, um das Buch auf seinen Namen umzuschreiben. Nach dem Buchtausch lud er mich zu einem Eis ein. Bernhard benahm sich wie ein Gentleman, er fragte mich, wo ich sitzen möchte, gab mir die Karte zuerst, fragte, welches Eis ich wünsche, ich konnte mich einfach entspannt zurücklehnen und alles nahm seinen Lauf. Immer selbständig zu handeln, obwohl man zur Unselbständigkeit erzogen wurde, ist auf die Dauer doch sehr anstrengend. Ich kam mir richtig verwöhnt vor und was noch viel wichtiger war, ich war erwachsen in seiner Gegenwart, das tat mir so gut.

Wir unterhielten uns über alles Mögliche, auch über Sex und wir stellten fest, dass wir ähnliche Ansichten hatten. Bernhard erzählte von seiner Frau, die ihn jeden Morgen und jeden Abend anrief und ich flachste: „ Will sie dich kontrollieren?“ Sie hatte große Sehnsucht nach ihm und er nach ihr. Auf die Frage, warum sie ihn nicht mal besuchen kommt, antwortete er: „Sie hat einmal in der Eisenbahn ein schreckliches Erlebnis gehabt, seitdem hat sie Angst Eisenbahn zu fahren. Mit dem Auto traut sie sich nicht auf die Autobahn, denn zu Hause fährt sie nur in der Stadt herum.“

 

Bernhard hat Langeweile

Bernhard zog sich oft auf sein Zimmer zurück, um zu lesen. Das war aber nicht der eigentliche Grund, schuld waren seine kaputten Bandscheiben, die es nicht zuließen, längere Zeit irgendwo zu sitzen und außerdem war ich oft mit Ingrid unterwegs. Wenn ich in der Halle saß, blieb Bernhard so lange wie möglich. Manchmal, wenn Ingrid und ich von einem Ausflug zurückkamen, erschöpft und strahlend, weil wir mal wieder ein Abenteuer überstanden hatten, das hieß: Verlaufen, dann saß Bernhard oft schon in der Halle, als hätte er auf uns gewartet.

Eines Tages sagte er zu mir: „ Jetzt kommt wieder so ein langweiliges Wochenende.“ Das tat mir in der Seele weh und so machte ich mir den ganzen Tag Gedanken, wie ich das ändern könnte. Erst abends fiel mir etwas ein: Er aß sehr gerne Eis und direkt auf unserem Flur befand sich ein Café. So fragte ich ihn, ob er mit mir hier im Haus Eis essen ginge, ich wolle mich revanchieren. Er freute sich darüber und so trafen wir uns am nächsten Tag am Café. Bernhard brachte Fotos von seiner Familie mit, weil ich ihn danach gefragt hatte und er erzählte von zu Hause, und dass er in seinem Garten gerne eine schöne Skulptur hätte. Da fiel mir ein, dass ich gerade vor kurzem eine schöne Statue gesehen hatte, einen Neptun, mit einer Nixe. Bernhard war sofort begeistert, er wollte unbedingt hingehen und sie anschauen, doch der Weg war weit. „Kannst du so weit laufen“, fragte ich besorgt. Er nahm zur Vorbeugung Schmerztropfen und wir machten uns auf den Weg. Es war ein schöner sonniger Tag und ich zeigte Bernhard ein Stück von der Landschaft, die ich inzwischen lieben gelernt hatte, und den Elefantenbaum. Ich machte ihn auf alle Schönheiten auf unserem Spazierweg aufmerksam. Manchmal sagte ich: „Dreh dich mal um, von hier habe ich ein Foto gemacht.“

Ich hatte das Gefühl, als hätte ich einen schlafenden Menschen geweckt, der zum ersten Mal die Natur genießt. Er wollte noch weiter gehen, wie ein kleiner Junge, der immer mehr haben will. So nahmen wir einen längeren Rückweg und während ich munter und locker neben ihm herging, merkte er plötzlich, dass er keine Kondition mehr hatte. Mich wunderte das nicht, denn er hatte ja drei Wochen fast nur auf seinem Zimmer verbracht. Trotzdem haben wir beide diesen Spaziergang sehr genossen. Viel später sagte er einmal: „ Ich musste erst so alt werden, um die Schönheit der Natur zu bemerken.“

Am nächsten Tag traf ich Bernhard, als ich gerade aus dem Ort kam und er wirkte sehr traurig. Er wollte spazieren gehen, endlich!!

Als er nach zwei Stunden zurückkam und sich zu mir in die Halle setzte, sagte er: „Ich habe geweint und dann bin ich den gleichen Weg gegangen, den wir beide gestern genommen hatten, ich musste nachdenken.“ Ich weiß, dass Bernhard mich sehr gern hat, so, wie ich ihn auch und das macht uns beiden zu schaffen, denn wir sind ja beide gebunden. Jeder respektiert die Beziehung des Anderen, deshalb halten wir zwischen uns  immer den gebührenden Abstand. Wir erzählen uns sehr persönliche Sachen, doch wir sprechen nie über die Gefühle füreinander. Das brauchen wir auch nicht, jeder, der uns ein bisschen aufmerksam betrachtet, kann es sehen. Wir gehen respektvoll, liebevoll, aufmerksam , vorsichtig und zärtlich miteinander um und aus Bernhards Augen sprüht das Glück wie tausend Funken, wenn er mich anlacht und es gibt für uns beide viele Gelegenheiten zum Lachen, wir sind beide glücklich und genießen diese Augenblicke.

An diesem Abend war ich mit Marlene, Lena und Christina im Kino. Bernhard, den ich gefragt hatte, ob er mit wolle, verneinte, er kann nicht so lange auf diesen Stühlen sitzen. Außerdem schien er immer noch traurig. Den ganzen Film über ging mir der traurige Bernhard nicht aus dem Sinn. Als der Film zu Ende war, kam mir eine gute Idee. Ich lief das letzte Stückchen Weg, als wir aus dem Kino kamen zur Klinik. Den anderen, die sich wunderten, dass ich es plötzlich so eilig hatte, sagte ich, ich müsse aufs Klo. Ich fürchtete, Bernhard würde schon schlafen. Schnell suchte ich in meinem Zimmer einen Briefumschlag heraus, steckte das Foto von der Skulptur herein, das Bernhard so schön fand und schrieb auf den Umschlag: Wenn Du jemanden zum Reden brauchst, kannst Du Dich jederzeit an mich wenden. Dann schob ich  ihn unter seiner Tür durch. Um sicher zu gehen, dass er die Botschaft noch vor dem Schlafengehen fand, rief ich ihn an. Am nächsten Morgen, als wir uns zufällig im Fahrstuhl sahen, erklärte ich ihm: „Ich wollte nicht, dass du traurig einschläfst.“ Er hat sich sehr gefreut über meine Idee.

 

Die letzte Woche

So oft es ging trafen Bernhard und ich uns jetzt in der Halle. Manchmal, wenn ich in die Halle wollte, rief ich ihn an und sagte: „ Wenn du lange Weile hast, kannst du ja in die Halle kommen, ich gehe jetzt runter.“ Er kam jedes Mal. Manchmal saßen wir uns gegenüber, so dass wir uns immer ansehen konnten und manchmal nebeneinander, jedoch immer mit Abstand. Als einmal nur noch zwei Plätze frei waren und Christina sagte: „Komm hier her, Bernhard.“ Da antwortet er: „ Ich setze mich lieber neben Luise( das bin ich), da ist so viel Wärme.“ Oft merkte ich, dass Bernhard mich durchschaute, denn ich mache Spielchen, wie mein Tim behauptet.

Bernhard liebte es, wenn ich meine langen Haare offen trug, er sagte einmal zu Ingrid: „ Sieht sie nicht schön aus mit den langen Haaren?“

In der letzten Woche schien er zu ahnen, was für ein gefährliches Spielchen ich mir ausgedacht hatte, denn es ergab sich nie mehr die Gelegenheit, mich neben Bernhard zu setzen. Ich wollte meine offenen Haare wie zufällig über seine Hände fließen lassen, die er, wenn wir nebeneinander saßen immer auf der Armlehne liegen hatte. Bis auf das Streicheln meiner Hände hatten wir uns nie berührt, doch halt, einmal, als ich nervös mit meinem Zopf spielte, nahm er mir den Zopf aus der Hand. Wenn wir gemeinsam auf dem Sofa gesessen hatten, konnte man noch ein dickes Buch zwischen uns schieben. Jetzt setzte er sich immer mir gegenüber hin, auch wenn ich alleine auf dem Sofa saß.

Ich erinnere mich auch an die schönen Augenblicke, wo wir uns ohne Worte verstanden, oder, wenn er als einziger mal wieder über meinen Humor lachen konnte.

 

Das Abschiedsfoto

Zweimal während der sechs Wochen gab es ein Gourmetessen. Ich freute

mich darauf, mein neues Kleid anzuziehen und war gespannt, wie es Bernhard gefallen würde. Gerade, als ich den Speisesaal betreten wollte, stand Bernhard

plötzlich neben mir. „ Was für ein schönes Kleid“, bemerkte er. Das tat richtig gut, aber es wurde noch besser: Ein paar Frauen, kamen auf mich zu, sogar welche mit denen ich sonst keinen Kontakt hatte und bewunderten mich in dem Kleid, ganz ohne Neid. Sie sagten mir, wie toll ich aussähe in dem Kleid und mit der Frisur. Ich hatte die Haare an der Seite zusammengebunden und sie fielen in großen Wellen über meine Brust.

Das Essen war ausgezeichnet, es gab Lachs in Spinatrolle, usw.

Nach dem Essen stand ich mit Bernhard in der Halle und Ingrid sagte: „Luise, ich möchte dich in dem schönen Kleid fotografieren, stell dich doch mal vor den Schrank.“ Ich fasste Bernhard um die Taille und zog ihn mit, indem ich sagte: „Das wird unser Abschiedsfoto.“ Auf diesem Foto strahle ich voller Glück, denn Bernhard hatte seinen Arm um meine Taille gelegt, ganz vorsichtig, als sei ich zerbrechlich. Er selbst sah so traurig aus, obwohl er versuchte zu lächeln.

 

 

Die Visitenkarte

Während der Kur habe ich oft gezeichnet. Als ich mich mit Bernhard einmal über mein Maltalent unterhielt, fiel mir ein, dass ich noch eine kleine Zeichnung von mir, in Form einer Visitenkarte, in der Tasche hatte. Als ich sie ihm zeigte, wollte er sie gleich in die Tasche stecken. Ich nahm sie ihm aus der Hand und fragte: „Warum willst du die Karte haben?“ Er antwortete: „ Dann schicke ich Dir eine E-Mail.“ Ich überließ ihm die Karte und damit er es auch ja nicht vergaß, fügte ich hinzu: „ Wenn du unser Abschiedsfoto haben möchtest, kannst Du mir ja schreiben.“ „Natürlich schreibe ich Dir“, war seine Antwort.

 

Das letzte Wochenende

Am Freitag hatten Ingrid und ich uns mit Tom verabredet zu einer großen geführten Wanderung. Ingrid wollte unbedingt herausfinden, ob der so sympathische Tom schwul sei.

Nämlich einmal haben wir ihn mit Sonntagsbesuch getroffen. Eine junge Frau mit einem Kind war dabei und eine älter Frau, offensichtlich seine Mutter, und Ingrid sagte: „ Ich möchte zu gerne wissen, was das für eine junge Frau ist.“

Ich ging auf Tom zu und fragte: „ Tom, stellst Du uns deinen Besuch vor?“ Es waren seine Mutter und seine beste Freundin mit Tochter. Er sagte nicht: „Das ist meine Freundin“, ein feiner Unterschied.

Nun, Ingrid und ich nahmen Tom bei der Wanderung in die Mitte und Ingrid erzählte ihm ihre Geschichte, die ich mindestens schon fünfmal gehört hatte. So ging ich ein ganzes Stück vor den beiden her und plötzlich fühlte ich den Abschiedsschmerz, der Abschied von Bernhard rückte ganz nah. Es waren nur noch fünf Tage bis zur Abreise, dann würde ich ihn wohl nie wieder sehen. Der Schmerz schüttelte meinen ganzen Körper. Ich sah die wunderschöne Landschaft ein letztes Mal und plötzlich hatte ich das Gefühl, als ginge Bernhard neben mir, er war ein Teil der Landschaft. Es war wie in einem Traum. Ab und zu, wenn der Schmerz zu groß wurde, konnte ich die Tränen nicht zurückhalten. Zum Glück kümmerte sich niemand um mich, Ingrid und Tom waren in ihr Gespräch vertieft und ich konnte hören, dass Ingrid sich gerade outete. Sie wollte Tom damit aus der Reserve locken. Die ganzen zwölf Kilometer habe ich Abschied genommen, von der Landschaft und von Bernhard, dem Mann, von dem ich mein Leben lang geträumt hatte.

Übrigens, Tom ist tatsächlich schwul.

Der letzte Spaziergang mit Bernhard

Um 15 Uhr waren wir verabredet. Zwei Minuten vor 15 Uhr verließ ich mein Zimmer und wartete auf Bernhard oben auf unserem Flur. Er musste ja an mir vorbei, da er am Ende des Flures wohnte. Als es 5 Minuten nach 15 Uhr war, und sich auf dem Flur nichts regte, ging ich an seine Tür und klopfte. Er liebt Pünktlichkeit. Keine Antwort. Sicher saß er schon in der Halle. Als ich aus dem Fahrstuhl stieg, saß er tatsächlich ganz allein in unserer Ecke, seit einer halben Stunde schon. Auf meinen Vorschlag gingen wir zu dem See, wo mir vor ein paar Tagen ein Gedicht eingefallen war:

Ich sitze am See

Smaragdgrünes  Wasser

Kräuselwellen

Wolken, die sich ineinander schieben

Die Seele umhüllt von Stille und Frieden.

Ich löse meinen Zopf

Der Wind fließt durch das

Haar wie ein Strom.

 

Bernhard hatte Schmerztropfen genommen, damit wir länger spazieren gehen konnten. Am See setzten wir uns auf die Bank. Vor ein paar Tagen hatte ich für alle Personen, die mir am Herzen lagen, einen Briefumschlag fertig gemacht. Er enthielt  ein Landschaftsfoto, das ich während der Kur fotografiert hatte, mit einem persönlichen Text.

Für Bernhard schrieb ich: Ich wünsche Dir ein schönes Leben im Kreise Deiner Familie, ohne Sorgen und Schmerzen.

Als wir auf der Bank saßen, las er die Karte und ich sagte: „Es stehen noch ein paar unsichtbare Worte auf der Karte, weißt du, welche?“ Er nickte. Dann sagte er noch einmal: „Warum haben wir uns nicht früher getroffen?“ Traurig antwortete ich: „Vielleicht sehen wir uns ja in einem anderen Leben wieder.“

Dann haben wir uns etwas versprochen, doch das soll unser Geheimnis bleiben. Nach einer Weile wollte Bernhard noch etwas weiter in den Wald gehen, es war ziemlich viel Betrieb am See. Der Weg, den wir dann gingen, wurde immer einsamer. Wir erzählten uns abwechselnd aus unsere Vergangenheit. Dann bemerkte ich, dass Bernhard sich ständig umsah. Hatte er etwas vor? Was auch immer es war, es kam nicht dazu, denn immer wieder begegneten uns Leute. Bernhard blieb unterwegs manchmal stehen und zeigte mir einen schönen Baum, oder einen schönen Ausblick. Er hatte etwas von mir übernommen, den Blick für die Natur. Auf dem Rückweg bemerkte ich plötzlich etwas seltsames: Bernhard, der so große Probleme mit seinem Rücken hat, ging mit einem Fuß in einer Furche und der Abstand zwischen uns, der bis jetzt immer normal groß war, hatte sich auf mindestens eine Armlänge vergrößert. Erst war ich versucht, ihn aus der Furche zu ziehen, doch dann verstand ich, er brauchte diesen Abstand. Hatte er plötzlich Angst vor meiner Nähe? Eine Weile war es still zwischen uns. Ich spürte noch einmal dieses Glück, einen geliebten Menschen in der Nähe zu haben, da sagte Bernhard aus vollem Herzen: „Das Leben ist schön.“ „Ja, das Leben ist schön.“ antwortete ich  und dachte weiter: „Wie gut, das wir uns getroffen haben, es ist schön, so geliebt zu werden.“

Als wir dann in die Halle kamen und uns zu den anderen setzten, fragte Gudrun.

„Wo kommt  ihr denn her?“  „Wir waren im Wald, und haben Händchen gehalten“, platzte es aus Bernhard heraus, und der Schalk blitzte dabei aus seinen Augen. Gudrun regte sich ganz fürchterlich auf: „ Bernhard, du bist doch verheiratet.“ Ich versuchte noch einen draufzusetzen: „Und ich habe einen festen Freund.“  „Das macht ja nichts, “ meinte Gudrun dazu, „aber Bernhard ist verheiratet.“ Was ist denn das für eine Moral, fragte ich mich.

 

Sigrids  Märchenstunde

Sigrid kam etwas später in unseren Kreis, sie wirkte vornehm und zurückhaltend, ein wenig introvertiert. Ich hatte sie einmal so traurig auf einer Bank sitzen sehen und da ich mich an dem Tag sehr einsam fühlte, setzte ich mich zu ihr und sie erzählte mir ihre Lebensgeschichte. Sie litt seit vielen Jahren unter dem Tod ihres geliebten Mannes und schämte sich, dass sie immer noch weinen musste, wenn sie an ihn dachte.

Eines Abends fing sie plötzlich an zu erzählen: Sie war mit ein paar Frauen aufgebrochen, um nach G. zu wandern, einem kleinen Ort, ungefähr drei km von der Klinik entfernt. „Stellt euch vor“, sagte sie, „wir sind dort nie angekommen.“ Eine von den fünf Damen musste unterwegs nötig auf die Toilette und da gerade in der Nähe ein Gasthaus war, entschlossen wir uns, dort eine kleine Rast einzulegen und dann weiter zuwandern. Der Wirt, ein etwas kauziger Typ, lud die Damen zu einem Drink ein und da gerade Mittagszeit war, bot er ihnen noch ein leckeres Mittagessen an. Gut, warum sollten sie nicht hier essen, statt, wie geplant in G. Der Wirt spendierte zum Essen noch eine Flasche Wein und dann noch eine, da er anscheinend Gefallen an der einen Dame fand. Nach dem Essen stellte er die Musikbox an und bat zum Tanz. Die Gesellschaft, die es nicht gewohnt war, Alkohol zu trinken, wurde immer lustiger und blieb bis zum Abend. Da erst fiel ihnen auf, dass sie ja eigentlich nach G. wollten. Zu spät, sie mussten schnellstens zur Klinik zurück. Der Wirt verabschiedete sich mit den Worten: „Wo müsst ihr denn hin?“ Und in ihrer Weinseeligkeit nannten sie den Namen der Klinik. Am nächsten Abend, als Sigrid gerade beim Abendessen saß, sah sie plötzlich den Wirt in der Tür stehen. Ach du liebe Zeit, der hatte sich anscheinend doch, wie vermutet in die eine Dame verguckt und wollte sie jetzt wieder sehen. Und was machte die sonst so stille, zurückhaltende Sigrid? Sie ging zu dem Wirt und fragte: „Was wollen sie denn hier?“ Noch bevor er antwortete eröffnete sie ihm: „Wissen Sie nicht, was das hier für eine Klinik ist? Hier sind lauter Verrückte.“ Der Wirt drehte sich auf dem Absatz um und flüchtete.

 Der letzte Abend

Ich wollte, dass alle aus unserem Kreis zusammen Abschied feierten, wir waren insgesamt 9 Leute. Da Margret nicht so weit laufen konnte und Bernhard nicht alles essen durfte, organisierte ich einen Transfer zu einem Esslokal. Um sicher zu gehen, ob auch Essen für Bernhard auf der Speisekarte stand, rief ich noch mal extra im Lokal an. Mir wurde versichert, dass immer Forelle blau vorhanden wäre.  Der erste Wermutstropfen kam, als Gudrun sagte, sie käme nicht mit, sie könne es nicht ertragen, mit uns Abschied zu feiern. Schade, ich hätte sie gerne dabei gehabt. Dennoch machten wir uns mit fröhlicher Stimmung auf den Weg. Im Restaurant angekommen, traf mich der zweite Schlag: Es gab ausgerechnet an dem Tag keine Forelle, da am Vortag so viel Betrieb gewesen war, dass die Forellen ausgingen. Die Wirtin gab sich alle Mühe, doch die Gerichte von der Karte waren deftige Hausmannskost, die Bernhard nicht vertragen konnte. Ich war sehr traurig darüber. Bernhard, der sowieso wegen seiner Krankheiten sehr dünn war, ausgerechnet er, bekam nichts zu essen. Er tröstete mich: „Sei nicht traurig, du kannst doch nichts dafür.“ Ich versprach ihm aus lauter Verzweiflung eine Banane, die ich noch auf meinem Zimmer hatte. Dann kam die Wirtin doch noch mit einem mageren Kochfisch an, den Bernhard auch aß. Wir beide sprachen den ganzen Abend kaum ein Wort. Der Abschied lastete schwer auf uns. Nach zwei Stunden wurden wir wieder zurückgebracht. Bernhard blieb im Gegensatz zu sonst, wenn er um 9 Uhr auf sei Zimmer ging, um mit seiner Frau zu telefonieren, mit uns in der Halle sitzen. Ein letztes Mal ging es sehr lustig zu und Bernhard wollte wissen, ob das immer so gewesen wäre. Ja, meistens bis 10 Uhr, dann gingen wir alle auf unsere Zimmer. Diesmal aber blieben wir alle, bis das Licht in der Halle gelöscht wurde, das war um 23 Uhr so üblich.

Bernhard und ich fuhren schweigsam mit dem Fahrstuhl in den 6. Stock. Ich wünschte mir, der Fahrstuhl würde stecken bleiben, doch leider befanden sich noch andere Kurgäste in unserer Gesellschaft. Vor meiner Tür sagten wir uns artig „ Gute Nacht“ und ich drückte Bernhard noch einen Zettel in die Hand mit meinem Abschiedsgedicht für ihn:

Deine Augen sind wie ein See

Ich möchte hinein tauchen

Verweilen

Deine Seele anrühren

Ich möchte die Hand auf deinen Schmerz legen,

Ihn auslöschen.

Deine Augen sind wie das Glitzern der Sterne

Wie Funken, die sprühend mein Herz entzünden.

 
Unsere letzten Stunden

Morgens um 8:30 Uhr holte uns der Transferbus an der Klinik ab und brachte uns zum Bahnhof. Fast schweigend saßen Bernhard und ich nebeneinander, wir hatten uns alles Wichtige gesagt. Ich kämpfte mit den Tränen, Bernhard wagte es nicht, mich anzusehen. Margret, die auch mit uns fuhr, stellte Bernhard die Frage, ob er auch schon an zu Hause dächte und sich auf seine Frau freute. Bernhard antwortete nur mit einem
„ Ja.“ Ich spürte, er hatte an etwas ganz anderes gedacht, seine Gedanken waren weit weg von zu Hause, auch er kämpfte mit dem Abschied. Eine dreiviertel Stunde Qual, der geliebte Mensch an meiner Seite und ich durfte ihn nicht anfassen, nicht Händchen halten, wie er mal wieder scherzhaft gesagt hatte.

Bernhard hatte vor ein paar Tagen Margret versprochen, sie in den Zug zu setzen, sie hatte Angst, falsch einzusteigen und da der Bahnhof gerade umgebaut wurde, war ihre Angst auch berechtigt. So fuhr er schon eine Stunde, bevor sein Zug ging, mit uns mit und immer, wenn er gefragt wurde, warum er schon so früh führe, sagte er: „ Ich will noch mit Luise am Bahnhof Händchen halten.“ Im Bahnhof ging Bernhard erst noch mit mir mit, ich musste als einzige mit der S-Bahn fahren und fand den Bahnsteig nicht. Bernhard sagte plötzlich: „ Das Kleid, das du heute trägst, hast du auch am ersten Tag angehabt.“ Da hatte er mich also schon bemerkt, gleich am ersten Tag? Ich konnte plötzlich seine Nähe nicht mehr ertragen. Es sollte schnell zu Ende sein, so bat ich ihn zu gehen. Er nahm mich in den Arm, ganz zart, ich war wie tot, ich wollte diese Berührung auskosten, doch ich spürte sie kaum. Bernhard ging schnellen Schrittes zu Margret, um sie wie versprochen in den Zug zu setzen. Wir winkten uns noch einmal zu, bis sich ein Zug dazwischen schob.

Ein Trost ist mir geblieben, Bernhard hat ja meine E-Mail- Adresse, er wird mir schreiben.

Das Ende

Inzwischen sind 9 Wochen vergangen, und die Gewissheit, dass er nicht schreibt, wird immer größer. Mir geht es damit sehr schlecht. Ich frage mich: „ Welcher böse Geist hat uns nur zusammengeführt? Wie kann Bernhard damit umgehen?  Ich denke Tag und Nacht an ihn, er ist immer bei mir, ich wache mit ihm auf, und gehe mit ihm schlafen.

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.05.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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