Wilhelm Pfeistlinger

Zwischenzeit


Erzählung


Stille ergab sich. Matt seufzend ließ er seinen Kopf ins ausgewaschene Spitalskissen zurücksinken und starrte das einfache Holzkreuz auf der Wand gegenüber an. Zwischen zwei Plastikhaken einer geschmacklosen Wandgarderobe und einem billigen Einbauschrank hing es. Im Anblick des schmucklosen Schmucks zwischen den Nischen menschlichen Bedarfs verlor sich Stille. Die Bitte seines Arztes, er wolle die an ihm offenbar gewordenen Fortschritte der modernen Kardiologie durch ein ihm, dem großen Dichter und Publizisten doch zweifelsohne leicht von der Feder fließendes Vorwort zur neuen Hochglanzbroschüre des Krankenhauses entgelten, welches dem Heftchen “die Krone aufsetzen“ und “nicht zuletzt die Herzen vieler Menschen dem unaufhaltsamen Siegeszug der Medizin öffnen würde“, diese ihm wortgenau im Gedächtnis haftende Bitte des Klinikvorstandes würde bei aller Bemühung noch ein Weilchen auf ihre Erfüllung warten müssen. Ansätze für einen Essay hatte er im Kopf, nicht aber den Ansatz eines Anfangs. Plattitüden, im besseren Fall Gedanken, im besten Fall die eine oder andere Erkenntnis, doch nicht der Deut eines Zusammenhangs. “Auf das Thema muss ich bestehen, auf sonst aber schon gar nichts“, so der Auftraggeber, eine international anerkannte “Kapazität“ seines Faches. “Vom Sinn des Krankseins“, als könnten Kranksein und Sinn abstrakt abgehandelt oder aus solipsistischer Erfahrung allgemeingültig vermittelt werden. Kranke können und sollen über ihren Zustand sinnieren und darüber reden. Die Gesunden können und sollen sich im besten Fall darauf konzentrieren, die richtigen Fragen zu stellen und jede nur mögliche Antwort zu respektieren. “Menschen!“ kommentierte Stille leise seine Reflexionen. Immer noch starrte er das einfache Holzkreuz an, bis langsam Plastikbraun der Möbel und Holzbraun des Kreuzes ineinander verschwammen, sich in die kreidefarbenen Tönungen der Wand auflösten und schließlich alle Schattierungen ins fahle Dunkel der letzten lauen Oktobernacht entdämmerten.

Wille traute seinen Ohren nicht. Nicht nur die Fugen und Ritzen waren durchlässig, Tür und Mauerwerk selbst dröhnten und bebten von ihren Geräuschen. “O ich genieße gerne laut“, hatte sie ihm vor drei Jahren gesagt, als die Affäre begann, das halbgeöffnete Fenster ließ ihre verräterischen Atemstöße mit doppelter Schärfe durch sein Herz fahren, die spitzen Töne der Lust am Rande des Rausches der Fülle, seit drei Jahren wurden sie ihm ins gierige Ohr entgegengeschrieen, wann immer sie es wollten, heute hätte er doch gewollt, er hat doch angekündigt, dass er seine Frau zu deren Mutter zu schicken verstanden habe und er daher ausnahmsweise vor zehn Uhr abends komme, nun begann das Bett auch noch rhythmisch mitzuquietschen, hört sie denn nicht den Anrufbeantworter ab?, die Vibrationswirbel wurden immer wilder, schneller und lauter, sie, Matratze, Gestänge, Atem, Ton, Schrei, Luft, Stöße, aber wo bleibt der Kerl ?, das ist der Gipfel, der Kerl hält sein Maul, ist er denn nur ihr Lustobjekt?, was für ein Liebhaber , ob wohl jetzt ?, jetzt!, der herrliche Frauenleib implodierte im Urknall der Schöpfung, so schön begann alles, ist es jetzt aus zwischen ihnen ?, jetzt, der Pulsschlag des Lebens, hat sie denn kein Herz ? jetzt, gar kein Herz, gar keins ...! Wille stürzte nieder. Schäumend vor Schmerz begann er zu wimmern, bis er schließlich in heftiges Weinen ausbrach. Seine Tränen tränkten den Boden mit Zorn und überschwemmten die Schwelle mit Fragen an die Frau, die er so sehr begehrt und sein eigen gewähnt hatte.

Stille überreichte seinem Arzt ein verschlossenes Kuvert. Sie blickten einander an und dachten beide dasselbe. “Sie sehen heute morgen eher schlecht aus“, gelang Wille trotz seiner Müdigkeit um den Bruchteil einer Sekunde als erstem die Formulierung des gleichen Gedankens. “Schlecht geschlafen ?“, erweiterte Stille sofort die wechselseitige Beobachtung zur Frage und kam damit seinerseits dem Primar zuvor. “Lässt sich nicht auch auf Stein wie ein Stein schlafen?“ Die semantischen Verrenkungen des Sprachjongleurs überging Wille zwar, doch klinkte er sich wieder ins Gespräch ein: “Und Sie, haben Sie schlecht geträumt?“ “Als Sie einschliefen, muss ich wohl aufgewacht sein. Sie können sich ja vorstellen“, gab der Dichter wissend zu verstehen, worauf Wille scherzhaft ablenkend reagierte: “Sie Ärmster der Armen, das muss ja in der Dämmerung gewesen sein, wie grausam ? Vielleicht sollten wir eine Schlaftablette für alle Fälle vorsehen, wer weiß, für heute Nacht, mal sehen, das müsste doch zumindest beruhigend wirken, wenn schon kein Placebo zu erwarten ist, gut, also wollen wir mal, alles Gute, lieber Stille, alles Gute.“ Die Wiederholung des Genesungswunsches verebbte in den Gängen der Anstalt, denn der Arzt hatte bereits kehrtgemacht, was den Abmarscheifer der kleinen weißgekleideten Privatarmee an seinem Rockzipfel in deutlich hörbarer Weise erhöhte, Rascheln, Räuspern und Murmeln im Raum entfesselte, in denen die Weisung “Notieren Sie, 3 mg Dormil 20 Minuten vor dem Einschlafen!“ in bruchstückhafte Wortfetzen zerfiel, bis ein Raunen der sich in gebotener Rattenschwanzformation in Bewegung setzenden Kohorte ihren hörbar nervösen Anführer zur Bemerkung herausforderte: “Ich hoffe, Sie haben verstanden, 2 mg Dormil 30 Minuten vor dem Einschlafen!“

Stille murmelte bloß ein “Alles Gute, lieber Professor“ hinterher, in der Hoffnung auf eine Sprache ohne Schallwege, auf die Unmittelbarkeit der Stimme des Herzens.

Wille war verzweifelt. Verzagt, verwirrt, verbittert, in Gedanken weder bei ihr noch nicht bei ihr, öffnete er seine Post, ließ die Umschläge routinemäßig zu Boden gleiten, musterte die ersten Seiten jeweils eines kurzen Blicks und schleuderte die Papiere daraufhin wie gewohnt in die Schreibtischablage, an diesem Abend zumeist, ohne sich die Inhalte auch nur umrisshaft angeeignet zu haben. Stilles Kuvert war eines der letzten, das er aufbrach. “Wird auch Zeit“, ließ er den Umschlag fallen, “ dabei ist es noch so kurz!“ Das Kuvert mit der Aufschrift “Anstaltseigen“ verfing sich in der Stulpe seines Hosenbeins. “Na warte, du Schlampe, zwischen uns ist es aus“, wechselten seine Gedanken neuerlich das Thema. Schroff griff er zum Telefonhörer, begann ihre Nummer zu wählen, fasste sich nach der zweiten Ziffer ans Herz, ließ nach der dritten Ziffer den Hörer fallen und kam noch vor der fünften Ziffer mit der linken Seite seines Schädels auf dem karg beschriebenen Anstaltspapier zu liegen.

Stille umweht selbst im Tosen novembernächtlicher Eisstürme die Grabsteine des Städtischen Friedhofs. Auf einem der monumentalsten der Marmorblöcke sind am rechten oberen Rand drei Zeilen zu lesen: “Vom Sinn des Krankseins: Gesunden lernen, sterben lernen. Zwischenzeit. Roman. Stille“ . Darunter steht in mächtigen, zentriert gesetzten Lettern: “Wilhelm Wille, Arzt und Heiler. Er ruhe in Frieden.“

Stille starb drei Tage nach seinem Arzt und letzten Auftraggeber. Die Diagnose der Todesursache auf seinem Totenschein gleicht jener auf dem Totenschein Willes: Herzversagen.

Stille ordnete vier Tage vor seinem Tode testamentarisch an, dass auf seinem Grab nur ein schlichtes Holzkreuz errichtet werde. Kein Stein, keine Aufschrift.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.03.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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