Hermann Schuh

In der Tiefe der Nacht



Auf dem Rückweg von einer Atlantikreise, von Madeira kommend und mit dem Wunsch so schnell wie möglich die Algarve zu erreichen, standen wir etwa 30 Seemeilen westlich des Cabo San Vicente, als die Nacht hereinbrach, dunkler als je zuvor, windstill und kalt.
   Ich hatte eine vierköpfige Crew an Bord, junge Typen, die ich in Puerto Rico getroffen hatte und die sich nichts sehnlicher wünschten, als mit mir zurück nach Europa zu segeln, für eine Hand gegen eine Koje. Es war mir recht, zumindest versprach dies ein leichtes Reisen, Unterhaltung, kurze Ruderwachen und nach meiner mehrmonatigen Reise eine willkommene Abwechslung sowieso.
   Und internationaler konnte meine Mannschaft nicht sein! Pat stammte aus Kanada, John aus England, Wil war Holländer und Tonino ein kleiner Italiener, der jeden Tag in Puerto Rico an die Pier zu meinem Boot gekommen war, und mich letztlich überredet hatte, auch ihn, obwohl das Schiff keine Koje mehr bieten konnte, mitzunehmen.
   Die Jungs bekamen während unserer Fahrt eine Menge Übung, die Dschunke nach allen Regeln der Kunst zu steuern, sowie unter und über Deck klar Schiff zu halten, zu kochen und sich miteinander zu vertragen. Jeder an Bord hatte seine Aufgaben und es gab kein Meutern und alle waren gut Freund. Endlich war ich ein Kapitän, der eine Mannschaft hatte, auf die man sich verlassen konnte. Es waren herrliche Tage. Und dann kam diese Nacht.
   Die Wachablösung war um Mitternacht. Tonino löste John ab. Ich war noch nicht müde und leistete Tonino Gesellschaft. Ich glaube, er war der einzige Mensch, den ich kannte, dessen Nase größer war, als seine Ohren.
   Alle anderen lagen in ihren Kojen und schliefen. Es war mir sehr daran gelegen, Tonino über den Schiffsverkehr aufzuklären, den wir mit Sicherheit erwarten konnten, je näher wir uns dem Cabo San Vicente, dem südwestlichsten Punkt Europas, näherten. Die Portugiesen nennen das Kap “Fim do mundo”,das Ende der Welt.
   Aber das nächtliche Meer war leer, keine Lichter weit und breit. Und weil wir ja noch etwa 30 Seemeilen weit auf dem Atlantik waren und weil eine aufkommende Müdigkeit mein Verlangen nach etwas Schlaf verstärkte, beschloss ich diesem Verlangen nachzugeben.
   Tonino, eingepackt in mein Ölzeug und triefend von nächtlicher Nässe, hatte seine Sache immer sehr gewissenhaft gemacht, aber ich sagte ihm, er solle von jetzt an ganz besonders gut Ausschau halten und er solle mich sofort wecken, wenn er ein Licht sähe, und überhaupt, ich würde ja sowieso nicht schlafen, sondern mich nur auf die Koje legen und vor mich hin dösen.
   Noch ein letztes Mal suchte ich in der Dunkelheit nach Lichtern am Horizont und stieg schließlich hinab in die Kajüte und legte mich auf eines der Sofas. Nach wenigen Minuten schlief ich tief und fest.
   Ich träumte, es wäre Nacht. Ich träumte von einem schwarzen, riesigen Schiff, das mich und mein Boot verfolgte und schnell, wie ein Stier auf einer gewaltigen Bugwelle daher stürmte. Ich sah deutlich die Umrisse eines Mannes, der mit weit ausgebreiteten Armen über dem hohen Bug des Schiffes aufragte. Er schrie und lachte und schrie. Seine grässliche Stimme erfüllte die ungeheuerliche Finsternis. Erstarrt und vollkommen hilflos sah ich das Ungetüm, wie es sich vor mir und meinem kleinen Schiff aufbäumte, um uns im nächsten Augenblick zu verschlingen.
   Und da passierte etwas, das ich mein Leben lang nie mehr vergessen werde. Irgendetwas, aber nichts Körperliches, stieß mich aus meinem Traum in die Wirklichkeit zurück.
Während ich über die wenigen Stufen der Kajüte nach oben stürmte, sah ich mit Entsetzen das schwarze Schiff aus meinem Traum. Im Bruchteil einer Sekunde sah ich Tonino auf
seiner Ruderbank, vornüber gebeugt und offensichtlich in tiefem Schlaf.
   Das schwarze Schiff! Bleiche Nebelschwaden vor sich her fegend, türmte es sich hoch über uns auf und schien uns in die Tiefe der See stoßen zu wollen. Instinktiv riss ich das Ruder nach Backbord, stieß Tonino von seinem Sitz, brüllte irgendwelche Worte in meiner Verzweiflung.
   Mein Schiff schien auf den Druck des Ruders nicht zu reagieren. Unsäglich langsam und in der Dunkelheit kaum merkbar, neigte es seinen Bug in die Fahrtrichtung des schwarzen Ungetüms, das jetzt seinen gewaltigen Rachen öffnete. Ich spürte, wie ich meinen Kopf zwischen den Schultern zu verstecken suchte. Ich krümmte mich in der Erwartung des Unausbleiblichen.
   Das schwarze Schiff, lautlos, geschmeidig. Eine unüberwindliche Wand aus Stahl oder Schatten? In dieser Sekunde schien das keine Bedeutung mehr zu haben. Auf rätselhafte Weise merkte ich, dass ich keine Angst verspürte, ja nicht einmal mehr an meine Crew und mein Schiff dachte. Es waren nicht Sekunden, die zu Minuten wurden, sondern die Zeit wurde zu einer Ebene ohne irgendeinen Begriff.
   Ich spürte dann, dass ich tief ausatmete. Ich spürte, wie ich noch immer das Ruderrad nach Backbord drehte, und fühlte die unerbittliche Nähe des schwarzen Schiffes. Ein Windstoß, entfacht von der schieren Masse des Ungetüms, blies mir feine Gischt ins Gesicht, die wie feine Nadelstiche auf meine Wangen trafen ins Gesicht.
   Auf einmal war das Ende da! Ich fühlte, wie sich mein Boot hob und weit zur Seite neigte. Ich lauschte atemlos in die unheimliche Stille in Erwartung des gewaltigen Schlages. Noch ein letztes Mal atmete ich tief die herbe Würze der See in mich hinein und ein wunderbares Gefühl durchströmte meinen Körper.
   Jetzt! Ich war versucht, meinen Arm auszustrecken, das schwarze Schiff zu erreichen, um mich dagegen zu stemmen, um mit der bloßen Hand das Unausbleibliche doch noch einmal abzuwenden.
   Aber es passierte nichts. Wir hatten nicht die leiseste Berührung, und während uns die Fahrtwelle des gewaltigen Schiffes gnädig auf die Seite schob, glaubte ich den Mann über dem Bug gesichtet zu haben, dessen wildes Gelächter durch die Nacht hallte und noch zu hören war, als das schwarze Schiff schon längst in der Tiefe der Nacht versunken war.
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.02.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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