Anita Voncina

Am Ende des Weges

Unzählige Male hatte er in der vergangenen Nacht auf das erleuchtete Zifferblatt des Weckers gesehen, der auf dem Nachttisch an seiner Seite des Ehebetts stand, und danach mit leerem Blick durch die Fensterscheibe in den klaren Sternenhimmel gestarrt. Stunden später im Dämmerlicht der frühen Morgenstunden empfand er die Hitze im Schlafzimmer dann nicht mehr ganz so unerträglich wie in der Finsternis der Nacht, und doch fühlte er den Schweiß noch immer, der seinen Pyjama am Körper kleben ließ wie einen nassen Sack. Die Vögel in den Obstbäumen seines Gartens begannen nun ihr morgendliches Konzert und er wusste, dass dies heute ein strahlender Tag werden würde.
     Er streckte die Hand aus, um den kleinen Knopf auf der Rückseite des Weckers zu drücken, der sonst in einer knappen Viertelstunde klingeln würde. Für einen kurzen Augenblick verharrte er reglos in dieser Stellung und verfing sich dabei in dem Gedanken, wie oft dieser schrille Ton ihn wohl in den vergangenen vierzig Jahren schon aus dem Schlaf gerissen haben mochte. Als er feststellte, dass er im Moment offensichtlich nicht dazu in der Lage war, diese Zahl wenigstens ungefähr zu errechnen, gab er auf. Anschließend mühte er sich damit ab, die Bettdecke zurückzuschlagen und hatte dabei für einen kurzen Moment das Gefühl, als könnte er sich damit von einer drückenden Last befreien. Bevor er sich daran machte, so leise wie nur möglich ins Bad zu schleichen, betrachtete er die Frau auf der anderen Seite des Bettes, sah, wie sie ruhig und gleichmäßig atmete, und empfand in seinem Inneren dabei eine so unfassbare, taube Leere, die er zuvor niemals für möglich gehalten hätte. Dann schloss er die Schlafzimmertür und öffnete die Tür zum Bad. Nachdem er das Licht angeschaltet hatte, warf er einen flüchtigen,  gedankenverlorenen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken. Es war ein bleiches Gesicht unter den dunklen, wirren Haaren, in denen sich die ersten grauen Strähnen zeigten, mit tiefliegenden, glanzlosen Augen unter den dichten Augenbrauen. Schnell wandte er sich ab, schaltete das Licht wieder aus und wusch sein Gesicht im fahlen Morgenlicht mit kaltem Wasser. Eine ganze Weile später, sorgfältig rasiert und gekämmt, zog er die Badtür wieder geräuschlos hinter sich ins Schloss. Im Gästezimmer nebenan schlüpfte er dann in die beige Cordhose und das rotkarierte, kurzärmlige Hemd, die ihm seine Frau  dort zurechtgelegt hatte, wählte ein dunkelbraunes Paar Socken aus, ergriff mit der einen Hand die Sandalen, mit der anderen die abgewetzte Ledertasche, schlich den Gang entlang, vorbei an den Zimmern der beiden erwachsenen Kinder, die um diese Zeit immer noch schliefen, stieg die Treppe hinunter und öffnete die Türe zur Küche.
     Einen Moment lang starrte er regungslos auf den für das Frühstück gedeckten Tisch mit der bunten Tischdecke und dem weißen Porzellangeschirr, so als sähe er diesen zum ersten Mal. Dann aber setzte er sich auf die hölzerne Eckbank, zog seine Aktentasche auf den Schoß und öffnete bedächtig die beiden Schnallen ihrer Klappe. Er fühlte, wie seine Hände plötzlich wieder feucht wurden, als er nach der grauen Plastikmappe fingerte und sie schließlich auf den Tisch legte. Das schlichte, weiße Kuvert, durch dessen Sichtfenster sein Name und seine Anschrift zu lesen waren, lehnte er nach einiger Überlegung an den Bauch der leeren Kaffeekanne, das dunkelblaue Sparbuch ebenso, den mehrmals zusammengefalteten, karierten Zettel, den er vor einigen Tagen aus dem Block neben dem Telefon gerissen und erst gestern beschrieben hatte, beschwerte er mit dem Kaffeelöffel neben seinem Teller. Langsam, so als wolle er nun auf keinen Fall etwas von der Zeit verschenken, die ihm noch blieb, stellte er die Aktentasche neben sich auf den Boden, lehnte sich an die gepolsterte Rückbank und schloss die Augen. Nun, da alle Vorbereitungen erledigt waren, hatte er plötzlich das unbezwingbare Bedürfnis noch eine kleine Weile einfach hier auf dieser Bank sitzen zu bleiben, an diesem gedeckten Tisch, in diesem Haus, das er damals mit seinen eigenen Händen gebaut hatte, und in dem er mit denen, die er liebte, so lange Zeit gelebt hatte. Seine Augen begannen unter den geschlossenen Augendeckeln zu brennen und er wischte sich mit seinen schwieligen Händen immer wieder die Tränen ab, die nun begannen unaufhörlich über seine Wangen zu laufen, auf den Kragen seines Hemdes tropften und dann über seine Brust rannen, die nun um jeden Atemzug rang und unter dem Hämmern seines Herzens zu zerspringen drohte.
     Als ihm bewusst wurde, dass die alles betäubende Leere, die sich schon seit geraumer Zeit in seinem Inneren ausgebreitet hatte, nun in Gefahr war von Gefühlen besiegt zu werden, die niemandem und nichts mehr nützen würden, erhob er sich schwerfällig, schlüpfte in seine Sandalen, umfasste den abgewetzten Griff der Aktentasche, durchquerte die Küche und den Flur und öffnete die Haustüre. Die frische Morgenluft ließ ihn den bohrenden Schmerz, den ihm nun jeder mühsame Atemzug verursachte, noch deutlicher spüren, und das Zwitschern der Vögel dröhnte lärmend in seinem Kopf. Nur mit großer Mühe erreichte er schließlich die Garage im vorderen Teil des großen Grundstücks. Mit zitternden Händen fingerte er dort in seiner Aktentasche nach dem Schlüssel für das Garagentor, öffnete und schloss es wieder hinter sich so lautlos wie möglich und  blieb dann für einen kurzen Augenblick reglos in der kühlen Dunkelheit des fensterlosen Raumes stehen. Hier, das wusste er, war er nun unumkehrbar am Ende des Weges angelangt.
     Eine geraume Weile später, als die Familie im Haus erwacht war, der Sohn, die Tochter, die Frau und, wie an jedem Morgen eines Wochentages,  in der Küche zusammentraf um gemeinsam zu frühstücken, wurde das entdeckt, was der Vater für die Seinen auf dem Tisch zurückgelassen hatte. Und noch während die Frau mit tränenblinden Augen auf das weiße Blatt mit dem dekorativen Briefkopf der Firma ihres Mannes starrte und sich dabei immer wieder von neuem an jener Stelle verfing, die besagte, man hätte diesem dort schon vor mehr als einem halben Jahr gekündigt, überflog der Sohn fassungslos die wenigen Zeilen des Vaters auf dem zusammengefalteten Zettel. Anschließend warf er einen kurzen Blick auf das aufgezehrte Guthaben im Sparbuch und begriff damit schließlich das ganze entsetzliche Ausmaß eines Kampfes, den der Vater in den vergangenen Monaten so erfolgreich vor aller Augen verborgen hatte, und doch daran zerbrochen war.
 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.06.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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