Chiara Fabiano

Leid erleben und leiden lassen

An einem verregneten Tag, führte ihr Weg sie wie gewohnt in den kleinen Buchladen, welcher sie verzauberte, als würden die Worte der, in den Regalen stehenden Bücher auf sie einreden. Flüsternde Stimmen stahlen sich in ihre Ohren, erzählten ihr die Geschichte, wovon sie handelten. Auf einmal kam eine Frau um die Ecke und es stellte sich heraus, dass es die Besitzerin war, die sonst versteckt in ihrem Kämmerchen arbeitete und zu Ladenschluss herauskam. Sie schenkte ihr ein Lächeln. Sie fragte sich, warum die Frau nie in ihrem eigenen Laden war, was sie jedoch nicht wusste war, dass ihre kleine Tochter fünf Monate zuvor an Krebs gestorben ist. Dennoch sah die Frau aus, als wäre sie gerade aufgewacht aus einem tiefen Schlaf. Sie sah nur die Bücher. Die Frau jedoch, sah ihre Tochter in dem Mädchen, dass gerade ihr Buch in den Händen hielt und es begutachtete, wie ihre kleine Tochter es einst getan hatte. Sie hatten das selbe Alter, und auf einmal schmerzte es tief in ihr und das gleiche Gefühl der Leere kehrte in ihren Körper zurück. Man sah es ihr nicht an, nicht das Leiden, nicht den Schmerz. Alles was man sah, war eine junge Frau und ihr bezauberndes Lächeln.

Als sie in der Schule saß, beobachtete sie ein Mädchen. Alleine saß es, tief versunken in ein Buch. Pummelig war es, sie lachte, war froh darüber nicht aussehen zu müssen wie sie. Ein Pummelchen, alleine, ohne Freunde. Sie war die Sorte Mensch, die sich in andere Welten flüchtet, um zu vergessen wie unbeliebt sie in der wahren ist, dachte das Mädchen. Innerlich lachte sie, machte sich lustig über sie, und als ihre Freundin zu ihr kam, lachten sie gemeinsam über das Pummelchen ohne Freunde. Was sie nicht wussten, war, dass das Menschen eine schwere Krankheit hatte. Doch als sie aufblickte, lächelte sie die beiden an. Man sah nichts. Nicht ihre Unzufriedenheit mit sich selbst, nicht wie andere zu sein. Nicht über die Einsamkeit oder über das Erlebte. Sie lächelte, und dieses Lächeln war alles was man sah.

Ihre Eltern sorgten sich. Als sie auf dem Sofa saß, sah man die Rippenknochen unter ihrer Haut. Sie hatte heute von einem Pummelchen erzählt, das keine Freunde hatte und im selben Atemzug hatte sie erwähnt wie glücklich sie war nicht so zu sein, wie das dicke Mädchen. Ihre Eltern dachten sie wäre glücklich. Sie glaubten es sogar. Sie war beliebt, hatte viele Freunde, alle Jungs würden sich um sie reißen. Was sie jedoch nicht wussten war, dass ihre Tochter unter einer schlimmen Magersucht litt. Sie sahen nicht ihre Selbstzweifel, sahen nicht ihre Komplexe und den Druck so zu sein wie die anderen. Sie fühlten nicht ihre Bauchkrämpfe, sahen nicht den Schwindel. Alles was sie sahen, waren die Worte ihre Tochter, die Worte glücklich zu sein.

An einem Sonntagmorgen machten sie einen Spaziergang, und kamen an einem Haus vorbei. Dabei dachten sie sich, wie unfair das Leben sei und fragten sich, warum sie nicht selbst solch ein Haus hätten, wobei sie es sich selbst doch so gönnen würden. Was sie nicht sahen war die Arbeit, die der alte Mann in dieses Haus investierte. Jeden Stein legte er mit eigener Hand, jede Fliese flieste er selbst, jedes Stück rasen säte er selbst. Jeden Monat bezahlt er Geld an die Bank, um zu bezahlen, was er ein Leben lang aufbaute. Sie sahen bloß das prunkvolle Haus, dessen Schein wortwörtlich trübte.

Er lebte auf der Straße, jeden Tag zogen sie an ihm vorbei, lachten ihn aus, nannten ihn einen Penner. Voller Verachtung und Ekel betrachteten ihn die schicken Büroleute, die jeden Tag mit ihren Mänteln zur Arbeit gingen. Sie lebten ihr Leben, erfreuten sich Hygiene und einem warmen Bett. Sie alle waren froh, nicht so tief gesunken zu sein, wie der Penner auf der Straße. Was sie nicht wussten, war, dass auch er mal all diese Sachen genoss, bis seine Frau mit seinen Kindern bei einem Autounfall starb. Sie alle sehen nur die Decke auf dem Boden, den Dreck unter seinen Fingernägeln. Das ist alles was sie sehen.

Was ist Leid? Erkennen wir es, wenn es direkt vor uns steht? Wir wollen anderen Menschen helfen, Kriege beenden, Streite lösen. Doch unter uns gibt es vielleicht viel größeres Leid. Leben bedeutet Schicksale. Beginnen wir die Welt mit anderen Augen zu sehen. Schließen wir die Augen für das offensichtliche und öffnen wir sie für das, was sich dahinter verbirgt.
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.07.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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