Raffael Scherer

Nicht wie jeden Morgen

Wie jeden morgen stand Herr Kohl mit dem Weckerklingeln auf. Er duschte, so wie jeden morgen, er putzte sich die Zähne, wie jeden morgen und zog sich an, wie jeden morgen. Er konnte ja nicht ahnen, dass sein Morgen komplett anders verlaufen sollte, als sonst. Er frisierte sich die Haare, wie jeden morgen, putzte seine Brille und schob seine Füße in die Pantoffeln, die direkt vor seinem Bett standen, wie jeden morgen. Er watschelte in die Küche, setzte Wasser auf und füllte Bohnen in die Kaffeemühle. Wie jeden morgen zog Herr Kohl gierig den Geruch auf, der seine Nase umgab, bevor er die Tüte wieder verschloss und feinsäuberlich in das Regal stellte, dann setzte er sich und drehte die Kaffeemühle. Und da geschah es. Ein neues Geräusch ertönte. Es war weder das Quietschen des Hebels der Mühle, noch das süße Knacken der Bohnen, nein, es war ein neues Geräusch hinzugekommen, immer wenn der Hebel direkt auf Herrn Kohl zeigte, ertönte ein Kratzen. Es unterschied sich nur in einer Nuance vom Knacken der Bohnen, aber es war da. Viele Jahre lang hatte Herr Kohl den Geräuschen der Kaffeemühle gelauscht, er kannte es genau. Dieses Kratzen gehörte definitiv nicht dazu. Er drehte und wendete die Kaffeemühle, er hielt sie schräg, klopfte dagegen, doch das Kratzen blieb. Er füllte den gemahlenen Kaffee in einen Filter und ließ Wasser darüber laufen. Während das Wasser langsam und gemächlich durch das braune Pulver hindurchsickerte und als braune Flüssigkeit unten wieder hinausfloss, tat Herr Kohl alles, um dem Kratzen auf die Spur zu gehen. Er wusch die Maschine, er zerlegte sie in ihre Einzelteile, er ölte das Hebelloch, doch nichts half, das Kratzen blieb. Verwundert saß Herr Kohl da, trank seine Tasse Kaffee und starrte die Mühle an. Wäre sie verrostet oder kaputt könnte er sie reparieren oder im Extremfall wegwerfen und eine neue kaufen, aber die Mühle funktionierte ja noch einwandfrei, so wie immer. Sie machte nur ein neues Geräusch. Herr Kohl mochte nicht, wenn sich Dinge einfach so änderten, ohne, dass er etwas dafür oder dagegen machen konnte. Er mochte die Routine, er liebte die Kontrolle über sein Leben, die er sich seit seiner Pensionierung erarbeitet hatte. Alles hier drinnen hatte er sich vor Jahren eingerichtet, alles hier hatte seinen Platz. Woher nahm diese Mühle sich die Freiheit einfach so zu tun was sie wollte? So etwas wollte er sich nicht bieten lassen. Nicht von einer Kaffeemühle. Er leerte seine Tasse und ließ sie beim abstellen entschlossen auf die Tischplatte sausen. Er warf die Kaffeemühle in den Müll. Aus den Augen aus dem Sinn, dachte er und lächelte triumphierend, als er mit dem Deckel die Mülltonne verschloss. Die Kaffeemühle hatte ihn ganz durcheinander gebracht. Normalerweise holte er nach dem Kaffeemahlen immer die Zeitung, das dauerte genau so lange bis das Wasser durchgeflossen war, sodass er dann gleichzeitig lesen und Kaffee trinken konnte. Also holte er die Zeitung und setzte sich an den Tisch. Er schlug die Zeitung auf ,während seine Hand wie von selbst zu der Tasse wanderte. Als seinem Mund jedoch kein Schluck des koffeinhaltigen Heißgetränkes vergönnt wurde, wurde Herr Kohl stutzig. Diese vermaledeite Kaffeemühle. Zeitung ohne Kaffee fühlte sich einfach falsch an. Herr Kohl zog sich seine Schuhe an, warf sich seinen Mantel über und marschierte los. Der Tag heute war für ihn sowieso schon gelaufen. Wenn er in den nächsten Tagen wieder seine Ruhe haben wollte, dann brauchte er eine neue Kaffeemühle. Er würde zwar ein wenig brauchen um sich an die Geräusche der Neuen zu gewöhnen, aber das war immernoch besser, als Zeitung ohne Kaffee, oder die alte Mühle, die ihn mit jedem Dreher zu verspotten schien. Der Laden, in welchem er damals seine Kaffeemühle gekauft hatte, führte das Modell nicht mehr, das Herr Kohl gehabt hatte. Schwerenherzens musste er sich also von dem gewohnten Geräusch verabschieden und mit einem neuen Vorlieb nehmen. Er kaufte eine Kaffeemaschine aus Holz, welche noch am ehesten der ähnlich sah, die er besessen hatte und trottete wieder nachhause. Er platzierte die Kaffeemühle genau dort, wo die alte immer gestanden hatte. Das heißt, er versuchte es. Dadurch, dass sie ein klein wenig größer war, passte sie nämlich nichtmehr ins Regal neben die Gewürze. Stöhnend sortierte er also die Gewürze aus diesem Fach aus und stellte sie in den Schrank gegenüber, wo das Geschirr stand. Nun waren zwar die Gewürze aufgeräumt, jedoch konnte er nur sehr umständlich die Teller herausholen. Mehrere Stunden vergingen, in welchen Herr Kohl die komplette Küche umstrukturierte, das Trockenlager wanderte dahin wo bisher die Töpfe waren, für die Töpfe vergrößerte Herr Kohl das Fach im Regal, wodurch er einen neuen Platz für die Rezeptbücher suchen musste. Als alles verräumt war, stand nichts mehr dort wo es einmal gestanden hatte. Herr Kohl setzte sich auf seinen Stuhl. Vor ihm auf dem Tisch lag immernoch die Zeitung und die Kaffeetasse. Alles durcheinander gebracht von dieser vermaledeiten Mühle. Sie stand da in der Küche. Herr Kohl konzentrierte sich zwar auf den Zeitungsartikel so gut es ging, sein Blick blieb jedoch immer wieder in der Küche an dem Mahlgerät hängen. Er musste also, um wieder klare Gedanken fassen zu können, den Stuhl verrücken, sodass kein Blick in die Küche mehr möglich war. Nun stand der Stuhl mitten im Zimmer. Also musste auch der Tisch nachrücken. Ein paar Stunden vergingen, in denen das Wohn- und Esszimmer so umgestaltet wurden, dass Herr Kohl Kaffeetrinken, Zeitung lesen und nicht in die Küche blicken konnte. Die tagtägliche Routine war sowieso schon im Eimer, das Mittagessen war zwei Stunden überfällig und somit auch der Spaziergang danach. Herr Kohl verschob das Bücherregal, das Sofa, den Fernseher, platzierte den Tisch samt Kerzen und Kerzenleuchter neu, sogar die Bilder wechselten ihre Wand. Als Herr Kohl fertig war, war er richtig verschwitzt. Also wusch er sich, wobei ihm dies zu jener Tageszeit, zu der er eigentlich im Garten nach dem Rechten sah, ziemlich seltsam vorkam. Da laut seiner Routine eigentlich immer erst nach dem abendlichen Zähneputzen das Handtuch hingehängt wurde, musste Herr Kohl nun auch noch nass durch die Wohnung rennen und ein frisches Handtuch holen. Jeder Tropfen, der auf seinen teuren Teppichboden fiel, machte ihn wütender und wütender. Sowas durfte nicht passieren. Ab jetzt müsse er immer mehrere Handtücher im Badezimmer haben. Also wurde ein Stapel Handtücher aus dem Schlafzimmer ins Badezimmer gebracht. Aber wohin damit? In dem einzigen Schrank dort waren die Hygieneartikel, von Zahnbürste über Shampoo bis hin zur Nagelfeile. Kein Platz für Handtücher. Also wurde das Schränkchen aus dem Schlafzimmer, das bisher zugleich als Nachttisch aktiv gewesen war, ins Bad überführt. Soweit so gut. Doch nun fehlte ein Nachttisch im Schlafzimmer. Der Wecker, sein Brillenetui und die Nachttischlampe standen nun auf dem Boden herum, da wo normalerweise seine Pantoffeln gelegen hatten. Lauthals schimpfend wurden also auch sämtliche Möbel im Schlafzimmer verschoben. Der Aufsatz des Schrankes wurde zum Nachttisch, das Bett wurde, aufgrund der neuen Nachttischgröße verrückt, wodurch auch der restliche Schrank eine Wand nach links wandern musste. Der Wecker, die Lampe und das Brillenetui wanderten in das neue Nachtschränkchen. Herr Kohl schwitzte erneut. Da er aber immernoch nicht dazu gekommen war sich anzuziehen, ging er kurzerhand erneut duschen. Zufrieden stellte er fest, dass er diesmal gleich ein Handtuch zur Hand hatte. Das verspätete Mittagessen wurde zum Abendessen und Herr Kohl musste zugeben, dass er die neue Struktur seiner Küche ziemlich praktisch fand. Dass er da nicht eher drauf gekommen war. Als er nun an einem völlig anderen Ort an seinem Esstisch saß, bemerkte er, was für eine tolle Sicht aus dem Fenster er bisher verpasst hatte. Es war schon spät und ein langer, mühevoller Tag gewesen. Doch jetzt, als er ins Bett ging, freute er sich doch ein wenig, dass sein Zuhause etwas schöner und praktischer geworden war. Morgen würde er ausschlafen, dachte er sich und ließ den Wecker im Schrank. So kam es, dass Herr Kohl zum ersten Mal seit vielen Jahren nicht wie jeden morgen mit dem Weckerklingeln aufstand.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.08.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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