Christine Zhang

Die willenlose Puppe

Die willenlose Puppe


Erstes Kapitel

Eisiger Nordwind fegte die Straßen entlang und erinnerte daran, dass der Winter nicht mehr weit entfernt war. Es war mitte November. Es schien, als wolle der schwere, dunkle Himmel die Stadt erdrücken. Ab und zu vielen ein paar braune Blätter von den kahlen Bäumen.
„Mist! Mist, Mist, Mist! “, schimpfte Diandra Faltchens laut und ärgerlich. „Schon wieder die schlechteste Klassenarbeit in Mathe. Mutter wird mir den Kopf abreißen! Was soll ich nur tun?“
Verzweifelt sah sie sich um. Sollte sie nun alles ihrer Mutter beichten, oder sollte sie die Wahrheit vertuschen? Nur noch eine einzige Straße trennte Diandra von ihrem Haus. Das gefürchtete Matheheft mit der rot unterstrichenen Sechs befand sich in ihrem Schulrucksack. Warum konnte sie die Sache nicht einfach begraben? Am liebsten würde sie alles, was mit Mathe zu tun hatte, einfach hinschmeißen. Aber das war ja doch nur ein Traum und ein sehnlicher Wunsch. Sie seufzte grottentief. Niedergeschlagen setzte Diandra ihren Heimweg fort.
Diandras Klasse hatte vor ein paar Tagen eine Mathematikarbeit über das Berechnen von Dreiecken und Pyramiden geschrieben. Diandra war sich so sicher, diesmal eine bessere Note als die sich immer wiederholende Sechs in Mathe geschrieben zu haben. Doch leider schien es so, als wäre diese Zahl eine sich festklammernde Klette. Soviel man sie auch schüttelte, man wurde sie einfach nicht los. Und nun hatte auch bei dieser Arbeit das viele Lernen nichts genützt. Diandra lernte immer so viel, und wenn sie dann vor der Arbeit stand, war ihr Kopf wie leergefegt. Einfach ein Blackout. Man könnte sogar meinen, dass Diandras Mathelehrer noch nicht einmal auf ihren Aufgabenzettel guckte, sondern einfach alles als Fehler anstrich und unter die beantworteten und nicht beantworteten Fragen eine dicke, fette, rote Sechs schrieb. Das war fast jedes mal so. Wenn sie Glück hatte, schrieb sie mal eine fünf oder eine vier. Aber das war, wie gesagt, nur äußerst selten. Und was sollte sie machen? Als sie schon fast vor ihrem Haus stand, entschied sie sich, noch einen Spatziergang zu machen. „Je länger ich es hinauszögern kann, desto besser!“, dachte sie sich und machte kehrt.
Diandra kam bei einem kleinen Trödelladen vorbei. Auf dem Tresen saß eine hübsche Puppe. Sie hatte rotbraunes Haar. Zwei blaue Schleifen hielten die Zöpfe zusammen. Das Puppenmädchen hatte ein geblümtes Sommerkleid an. Das auffallendste an ihr war das lieblich dreinblickende, aber auch etwas verträumte Gesicht. Diandra fand die Puppe sofort anziehend. Kurz entschlossen ging sie in den Laden.
Hinter dem vollbepacktem Tresen sah sie einen hochgewachsenen Mann. Er mochte Ende dreißig sein. Freundlich lächelte er sie an.
„ Ich würde gern die Puppe draußen haben“, sagte Diandra.
„ Ja, ja. Ein Prachtstück. Nur damit weiß der gute Villeroy wohl nichts zu tun. Sie gehörte früher seiner Mutter. Aber als sie verstarb, verkaufte er sie. Nun, sie kostet fünf Euro.“
Diandra nahm die Puppe und bezahlte.
Sie nannte das Puppenmädchen Desidera. „Meine Desidera!“, flüsterte sie das Puppenmädchen stolz betrachtend und strahlte.
Als Diandra zu Hause ankam, gab es ein großes Donnerwetter wegen der verhauenen Mathearbeit. Sie ging in ihr Zimmer und setzte Desidera auf die Kommode, während ihre Mutter sich durch weitere Erziehungsberater wälzte und immer wieder grummelte: „Was habe ich nur falsch gemacht?“.
Missmutig machte sich Diandra daran, ihre Hausaufgaben zu machen. Nach ein paar Minuten, stöhnte sie auf. „Warum gibt es auch so ätzende Hausaufgaben?“, fragte sie sich. „Die braucht doch sowieso keiner!“
Dann dachte sie jedoch an den morgigen Samstag. Wenigstens das war eine kleine Aufmunterung. Denn ihr geschiedener Vater wollte mit Diandra einen Tag ausgehen. „Vielleicht gehen wir in den Vergnügungspark? Oder ins Kino? Und dann noch in ein italienisches Restaurant und Pasta essen!“, malte Diandra sich aus. Plötzlich schrillte das Telefon in der Diele. Diandra hob ab und erkannte die Stimme ihres Vaters. „Hallo Daddy!“, begrüßte sie ihn vergnügt.
Die Stimme ihres Vaters triefte jedoch nur so vor Bedauern, als er um den heißen Brei redete.
„Wie geht’s?“
„Gut!“
„Wie geht’s in der Schule?“
„Gut“, log sie, und versuchte nicht an die Mathearbeit zu denken.
„Was ist mit Mam?“
„Ist etwas? Warum rufst du an?“, fragte Diandra vorsichtig.
Endlich kam er zur Sache. Aber als Diandra erfuhr, worum es ging, bereute sie es sofort gefragt zu haben.
„Es tut mir so Leid, Diane, aber Donata hat schon etwas für Samstag geplant“, druckste er.
„Donata?“, rutschte es Diandra verblüfft raus. „Was will die denn?“, dachte sie ärgerlich.
Donata Hillman war seit der Scheidung ihrer Eltern die Lebensgefährtin ihres Vaters. Diandra hasste sie wie die Pest, und machte sie auch für die Trennung ihrer Eltern verantwortlich. Donata, eine durchsetzungsfähige und attraktive Mittvierzigerin, versuchte vergeblich, sich mit Diandra zu versöhnen. Doch da biss sie auf Granit, denn Diandra war nicht bereit, sich mit Donata zu befreunden.
„Heißt das, du kommst nicht?“, brachte Diandra hervor.
„Ja“, sagte ihr Vater zerknirscht. „Ich verspreche dir, wir holen den Tag nach.“
„Ja, Küsschen, Daddy!“ Diandra hängte ein.
Sie war traurig. Hatte sie sich doch alles anders vorgestellt. Diandra hatte sich so gefreut. Das war einfach unfair. Wütend murmelte Diandra: „Ich wünschte, dass Donata Hillman in der Hölle schmort. Ich wünschte, sie wäre nicht da! Puff! Weg ist sie. Oh, wie ich sie hasse!“
Es war, als hätte Desidera, die Puppe, alles verstanden und blinzelte. Schnell schaute Diandra weg und machte sich, noch missmutiger als zuvor, wieder an die Hausaufgaben.


Zweites Kapitel

Es wurde Abend. Ein schlimmer Abend. Sehr, sehr schlimm. Doch der streunende Hund ahnte nichts. Er war auf der Suche nach Essensresten. Er schnupperte in den Büschen. Vor dem Hund eilte eine adrett gekleidete Frau mit einer ledernen Handtasche. Wie aus dem nichts, schnellte plötzlich eine kleine Gestalt aus den Büschen hervor.
„Aaaaaaaaaaaah!“ Ein endlos langer Schrei zerriss die Abendruhe.
Der Hund erkannte in im Licht der Straßenlaterne etwas Spitzes, dolchartiges in der Hand der kleinen Gestalt. Blitzschnell stieß die Hand mit dem funkelnden Objekt auf die bewegungsunfähige Frau zu. Der Schrei erstickte. Der Hund sah nur den starren Rücken der Frau. Ein dunkelroter Blutfleck bildete sich auf ihrem blattgrünen Kostüm. Die Frau fiel um und blieb reglos liegen. Als der Hund sich nach dem winzigen Wesen umsah, war es verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Der Hund rannte zu der Frau und beschnupperte neugierig die Handtasche. Er bellte und besah sich das Namenschild: Donata Hillman.


Drittes Kapitel

Der nächste Morgen war ein Samstag. Diandra ging in die Küche und schnappte sich die heutige Tageszeitung. Sie wollte sich gerade eine Scheibe Brot abschneiden, als sie bemerkte, dass das Brotmesser fehlte. Diandra nahm sich ein Brötchen und vergaß die Sache wieder. Als Diandra die Zeitung durchstöberte stieß sie auf einen Mordfall:


Gestern Abend, gegen 22 Uhr, wurde Donata H. auf mysteriöse Weise ermordet. Man spricht von dem perfekten Mord. Der Mörder hinterließ nicht die geringste Spur. Donata H. wurde in der Flewsback Street ermordet. Sie starb an einen Stich ins Herz. Nun fragen sich die Experten, ob es Mord oder Selbstmord war. Die Polizei hat keine Spur.
Informationen nimmt die Polizei unter dieser Nummer auf.

Es folgte die Telefonnummer. Diandra war gerade mit dem kurzen Artikel fertig, als das Telefon klingelte.
Es war ihr Vater. Er war aufgeregt und verzweifelt. Mr. Faltchens redete die ganze Zeit wirres Zeug. Diandra konnte dies nicht nachvollziehen und übergab den Hörer schließlich ihrer Mutter. Diandra ging in ihr Zimmer. Ihr Blick verweilte einen Augenblick an der Puppe. Sie saß, wie am Tag zuvor, auf der Kommode. Dennoch dachte Diandra : „Irgendwie haben sich Arme und Beine bewegt, und auch der Saum vom Rock ist merkwürdig aufgebauscht. Es ist so, als würde sie etwas vor mir verbergen.“
Sie ging auf Desidera zu, doch dann sagte sie laut: „Das ist doch absurd! Ich leide wohl an Sinnestäuschung.“
Jedoch hatte sie immer noch das Gefühl, dass das Puppenmädchen sie die ganze Zeit über anlächelte und ihr zuzwinkerte.
Gerade als Diandra ein Buch lesen wollte, kam ihre Mutter die Treppe hoch und meinte: „Du solltest noch ein bisschen für Mathe üben.“
Diandra seufzte abgrundtief. Widerstrebend holte sie das Mathebuch hervor und versuchte, die gestellten Aufgaben zu lösen. Doch der Lehrer, Matthew Gracecann, hatte ihnen einfach zu viele Aufgaben aufgebrummt, sodass ihr nach einiger Zeit im Kopf ganz schwindelig wurde. Sie dachte an das Gerücht über den hageren, mit den wenigen braunhaarigen Haarbüscheln , mit einer Hornbrille bebrillten Lehrer. Es hieße, dass Mr. Gracecann seit einiger Zeit geschieden lebte. Er sei aber über die Trennung nicht hinweg gekommen. Jeden Abend nun, ging er in eine Kneipe und ließ sich mit Bier voll tanken. „Vielleicht ist das wahr?“, dachte Diandra.
Um von Mathe abzulenken, steckte Diandra den Kopf zur Tür hinaus und rief zu ihrer Mutter: „Mom, Florentine kommt gleich!“
Florentine Greaters war von Kindeszeiten an ihre beste Freundein. Florentines Vater war Amerikaner, ihre Mutter aber Französin. Florentine hatte leicht gewelltes dunkles Haar. Sie hatte eine hübsche Gesichtsform und braune Rehaugen, die immer sanft blickten.
„Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!“, meinte Mrs. Faltchens nur. In solchen Sachen war sie hart wie ein Stein.
Da schloss Diandra wieder die Tür zu ihrem Zimmer und setzte sich. „Oh mein Gott, wie ich ihn hasse“, stöhnte Diandra wutschnaubend. „Ich wünsche dem blöden Gracecann die schlimmste Hölle auf Erden! Nur wegen ihm muss ich jetzt hier schuften. Wenn es ihn nicht gäbe, würde ich mit Flori auf dem Rummel sein.“
Plötzlich hörte sie ein merkwürdiges Geräusch hinter sich. Automatisch drehte sie sich um. Diandra sah ein breites Grinsen auf Desideras Gesicht. Dann schüttelte Diandra den Kopf und wandte sich ab. „Ich muss mal wieder zum Optiker!“

„Ich werde das Blutbad mit höchstem Vergnügen vorbreiten und ausführen!“, dachte der Mörder grinsend.


Drittes Kapitel

Es war gegen halb elf. Ein Nachtluft liebender Spaziergänger ging auf den leeren Straßen umher. Plötzlich hörte er vor sich ein Geräusch. Es war ein Mann, der sich übergeben musste. Er torkelte. Der Spaziergänger wollte dem Unbekanntem gerade helfen, als er vor dem Betrunkenem eine sich bewegende Gestalt sah. Der Beschwipste schaute aus glasigen Augen auf. spatzieren
Der Spaziergänger sah etwas im Mondschein glänzen. Dann folgte ein gellender Schrei. Der Betrunkene sackte zusammen, die Augen quollen aus ihren Höhlen hervor. Er röchelte. Der Mann ging im Zeitlupentempo zu Boden, dabei fiel ihm etwas Braunes aus der Hosentasche.
Der Spaziergänger war bewegungsunfähig. Dann erwachte Leben in ihm. Er stieß einen entsetzten Schrei aus. Der Mörder drehte den Kopf um. Er steckte die Mordwaffe unter etwas Helles.
Der Spaziergänger sah ein hämisches Grinsen auf dem bleichen Gesicht des Mörders. Dann verschwand die Gestalt zwischen den Büschen.
Der Spaziergänger rannte zu dem Betrunkenen. Allerlei Gedanken schossen wie Gewehrkugeln durch seinen Kopf, als er ankam. „Ist er tot? Ja! Es war kein Puls mehr zu fühlen. Man kann nichts mehr tun.“
Dann dachte er an das braune Etwas. Es war ein Portemonnaie. Er schlug es auf und sah das Photo des Toten und seinen Namen: Matthew Gracecann.

Viertes Kapitel


Als Diandra am nächsten Tag zur Schule schlenderte, erfuhr die ganze Klasse vom Direktor, dass ihr Mathelehrer auf mysteriöse Weise umgebracht wurde.
„Ein Zeuge sagte aus, er habe ein Puppengesicht gesehen“, verkündete der Direktor.
Die ganze Klasse fing an zu murmeln. Die Stimmung war bedrückend.
„Das ist doch absurd, eine Puppe!“, meinte Diandra nur.
Nach der Schule gingen Florentine und Diandra nach Hause. Sie hatten beide zum Teil den selben Weg. Florentine verabredete sich mit Diandra und versprach sie abzuholen.

Diandra wartete und wartete. Als Florentine zu ihrer vereinbarten Zeit immer noch nicht kam, wurde Diandra wütend. Zum Zeitvertreib spielte Diandra mit der Puppe. „Mensch, ich bin vielleicht sauer! Warum kommt Florentine nicht? Oh, ich wünschte, sie würde wenigstens mal anrufen. Das ist doch sonst nicht ihre Art. Warum kann sie nicht auch mal auf meine Zeit Rücksicht nehmen?!“, murmelte Diandra zornig.
Nachdem sie nun endlich genug hatte, legte Diandra Desidera in eine Glasvitrine.
Diandras Mutter rief zum Essen. Niedergeschlagen tappte Diandra in die Küche.
„Du, Mom, Florentine ist heute nicht zu unserer Verabredung gekommen. Sie ist doch sonst immer so pünktlich!“
„Vielleicht ist ihr etwas dazwischen gekommen und sie hat dich vergessen. Ruf doch nach dem Essen bei ihr an.“
Nach dem Abendessen ging Diandra in die Diele. Sie kam an der Vitrine mit der Puppe vorbei. „Irgendwie lächelt sie so heimtückisch!“, dachte Diandra und rieb sich die Augen.
Sie wählte Florentines Nummer. Als sie es zum fünfzehnten Mal tuten hörte, legte sie auf.
Verwirrt las Diandra noch ein Buch, ohne es richtig wahrzunehmen, putzte sich die Zähne und kleidete sich anschleißend um. Unruhig legte Diandra sich in ihr Bett. Sie konnte die dunklen Gedanken einfach nicht loswerden. Sie wälzte sich ständig hin und her. Kurz nach Mittenacht, schlief sie ein, gefolgt von schrecklichen Alpträumen.


Fünftes Kapitel

Da die Lehrer Fortbildung hatten, war schulfrei.. Heute war Diandra mit ihrem Vater, der sich wieder vom Tod seiner Lebensgefährtin erholt hatte, verabredet. Er holte sie um 11 Uhr ab. Diandra schulterte ihren kleinen Cityrucksack.
Ihr Vater hupte. Sie stieg in den Passat ein. Mr. Faltchens lächelte kurz. Diandra erwiderte es.
„Er ist wohl immer noch traurig, wegen der Hillmann!“, dachte Diandra verdrossen.
„Was wollen wir zuerst machen?“, fragte er und holte sie somit in die reale Welt zurück.
„Ähm,...“, stotterte Diandra , „ich weiß nicht. Warum gehen wir nicht in den Vergnügungspark und dann anschließend Griechisch essen?“
„Gute Idee!“, stimmte Mr. Faltchens ihr zu.


Sechstes Kapitel

Mr. Faltchens und seine Tochter warteten in der Schlange vor der Geisterbahn. Es war einer ihrer letzten Aktivitäten. Beide hatten sich schon den ganzen Tag vergnügt.
Endlich waren sie an der Reihe. Diandra stieg in den Zweipersonenwagen. Ihr Vater ließ sich neben sie nieder. Dann ging die Fahrt los. Sie fuhren durch eine künstlich errichtete Höhle. Alles war nur mattbeleuchtet. Vor ihnen bahnte sich urplötzlich ein leuchtendes Skelett auf. „Jetzt geht es los!“, stöhnte es, bevor das Plastikskelett wieder zurücksank.
Diandra stieß einen unterdrückten Schrei aus. Rechts und links sahen sie Foltermaschinen aus dem Mittelalter. Direkt neben ihnen wurde gerade ein Mann gerädert. „Klak klak“, machte es bei den einzelnen Knochenbrüchen durch das schwere Rad auf ihm.
Sie fuhren weiter. Es wurde laut geschrieen. Auf einmal wurde es hell, und sie sahen eine junge rothaarige Frau auf einem brennendem Scheiterhaufen.
„Hexenhinrichtung“, flüsterte Diandra .
Es ging weiter. Die zwei erkannten, dass ein Mann an einem Stick am Galgen hang.
Sie hörten Röcheln und Stöhnen. „Verschonet mich!“, tönte eine blecherne Stimme aus dem Mund des Straftäters. Seine Arme und Beine waren mir Stricken an vier Pferden gebunden. Dann zog jedes Pferd in eine Richtung und der Mann wurde auseinander gerissen. „Vierteilen!“, hauchte Diandra .
Bei der nächsten Szene sahen sie eine ältere Frau, die ausgepeitscht wurde. „Ich flehe euch an, helft mir“, heiserte die Gesprächsanlage im Mund der Puppe.
Plötzlich hörte Mr. Faltchens und Diandra das plätscherndes Geräusch des Wassers. Sie schauten auf en schauriges Bild. Ein Mann hielt einen anderen fest und ließ ihn ertrinken.
Als nächstes zeigte man das Köpfen. Daraufhin folgte das Verstümmeln. Dann sahen Diandra und ihr Vater einen Mann, der laut schrie. “Ich bin kein Dieb!“ Die neben ihm stehende Puppe zog ein Messer und schnitt ihm die Ohren ab.
„Oh Gott!“ Diandra krallte sich an ihren Vater.
Sie erfuhren noch, dass Räubern die Nase, Meineidigen einen Finger und Betrügern , Schlitzohren, die Ohren aufschlitze.
Nun kamen sie zur heutigen Zeit.
Eine Frau schüttelte ein weißliches Pulver in eine Teetasse. Dann versteckte sie das Döschen mit der Aufschrift “Arsen-Gift“ in ihrer Rocktasche. Ein nobel gekleideter Herr kam in das Zimmer, trank, und fiel um.
Es ging weiter. Vater und Tochter hörten ein krächzendes Lachen. Bald darauf sahen sie eine Pistole in der Hand eines Mannes. Er zielte auf ein junges Dienstmädchen. Sie flehte um Gnade. Dann fiel ein Schuss.
„Aaaaaaaaaaaaaah“, hallte es blechern und gespenstisch zugleich von den Wänden wieder. Eine Frau, dargestellt von einer Puppe, in mittleren Jahren schrie sich die Kehle aus dem Leib. Sie trug einen beigefarbenen Mantel und einen dunkelbraunen Rock. Die Frau umklammerte ängstlich ihre Handtasche. Vor ihr hatte sich ein großer dunkel gekleideter Mann aufgebaut. Er hielt ein Messer in der rechten Hand und ging auf die Frau zu.
„Neeeiiin!“, ein lebensechter Schrei zeriss das technische Stöhnen, Wehklagen und Ächzen der Todgeweihtren.
Ein kalter Schauer rann über Diandras Rücken und ihre Nackenhaare stellten sich auf. Sie blickte sich suchend nach dem Menschen um, der geschrieen hatte. Ihr Blick fiel auf ihren Vater. Mr. Faltchens war in sich zusammengesunken, die Hände schützend um den Kopf gelegt, mit den Augen starr auf die letzte Szene gerichtet. Plötzlich ertönte ein Klicken. Es wurde stockduster. Nur noch winzige Lichtteilchen drang durch manche undichte Stellen in die Geisterbahn.
„Nein“, flüsterte Mr. Faltchens., noch immer in seiner Haltung. Er hatte den Stromausfall nicht bemerkt.
Diandra strich ihrem Vater sachte über die Hand. „Er denkt wieder an die Hillmann“, seufzte Diandra. „Vielleicht bin ich herzlos? Wären wir doch nur nicht in die Geisterbahn gegangen.“
Mr. Faltchens hielt den Kopf zum Boden gerichtet. Seine Hände sanken herab. Eine einzelne Träne tropfte auf sein Hemd.
„Daddy! Beruhig dich!“, versuchte Diandra ihn zu trösten. Sie kam sich hilflos vor.
„Ich wollte es alles nicht!“, hauchte Mr. Faltchens.
„Er ist in Trance?“, fragte sich Diandra verwirrt.
„Ich wollte es nicht!“, wiederholte er.
„Was?“, rutschte etwas Diandra ungalant heraus.
Mr. Faltchens blickte sie nicht an, sondern redete weiter: „Ich wollte das doch alles nicht.“
„Was denn?“,. fragte Diandra sanfter. „Was wolltest du nicht?“
„Bevor ich dich angerufen habe, sagte Donata, ich solle sie zu ihrer Konferenz begleiten. Du weißt, ich hasse Konferenzen jegliche Art von Veranstaltungen. Wir kamen uns in die Haare. Sie warf mir vor, ich würde mich nur drücken. Deshalb habe ich mich auch nicht hochgearbeitet, und war immer noch ein einfacher Kfz-Mechaniker. Mir aber machte der Beruf Spaß. Ich wollte mich nicht in Jackett und Krawatte zwängen, und somit aussehen wie ein geschniegelter Aal.
Wir wurden ziemlich laut. Nach einiger Zeit ging Donata ins Bad. Es war Zeit, zu ihrer Konferenz zu gehen. Sie hantierte mehr als eine viertel Stunde in der Toilette. Ich regte mich ab und rief bei dir an. Mich überkamen beiderseits Schuldgefühle: Bei Donata, weil sie zum Teil Recht hatte. Ich war in meinem Leben höchstens Zweimal bei einer Konferenz gewesen. Und bei dir, weil ich sonst ein Versprechen brechen würde. Nun ja, nachdem ich den Anruf hinter mir hatte, kam Donata aus dem Bad. Sie trug das dunkelgrüne Kostüm, mit dem sie ermordet gefunden wurde“, er schluchzte. „Sie nahm den Autoschlüssel und trat aus dem Haus. Ich warf mir mein verstaubtes Jackett über fuhr mir anschließend über die Haare und eilte Donata hinterher. Sie saß schon im Auto und wollte gerade losfahren. Ich riss die Beifahrertür auf und ließ mich neben ihr nieder. Donata lächelte mich an und fuhr los. „Schon wieder so lang Stillsitzen und versuchen, interessiert auszusehen!“, sagte ich.
Donata sah mich an. „Warum bist du dann mitgekommen?“
„Wegen dir!“, sagte ich gedehnt.
„Na also, deshalb wirst du auch wegen mir stillsitzen und interessiert gucken.“
„Wenn´s sein muss. Ich hab sogar Diandras freien Familientag mit mir sausen lassen!“
„Wenn du mehr an ihr hängst, kannst du gleich wieder aussteigen!“, giftete sie.
Wir waren inzwischen auf der Autobahn. Der Tacho stieg auf 100 ... 105 ... 110 ... 115 ...
„Na hör mal! Sie ist immerhin meine Tochter“, erwiderte ich eingeschnappt.
„Und ich bin deine Lebensgefährtin“, keifte sie. „Ist das nichts?“
Wir kamen uns wieder in die Haare, bis es schließlich dazu kam, dass ich aus dem Wagen stieg. Ich ließ sie anhalten und ging. Sie fuhr weiter, mit hoch erhobenem Haupt, ohne mich eines Blickes zu würdigen, und ohne sich nochmals umzudrehen. Ohne mich fuhr sie einfach weiter!“ Mr. Faltchens schluchzte auf. „Ich sah sie nie wieder. Nach ihrer Konferenz wollte sie zurückkommen. Spät und allein. Aber sie ist nie erschienen. Auf ihrem Weg nach Hause, wurde sie ermordet. Wegen mir. Wäre ich im Auto geblieben, wäre sie nicht allein gewesen. Vielleicht könnte ich sie retten. Vielleicht wäre sie dann nicht gestorben. Alles wäre nicht geschehen. Immer wenn ich nun nach Hause komme, denke ich, Donata ist da.“ Seine Augen glänzten. „Sie steht in der Küche und ruft mir zu: „Das Essen ist fertig, Andrew.“ Aber sie ist nicht da. Sie liegt in einem Sarg auf dem Südfriedhof und kommt nie mehr zurück. Sie wird nie mehr kommen. Nicht zu mir, nicht zu dieser Welt. Am liebsten wäre mir, ich wäre tot. Ich wäre bei meiner Donata. Und weißt du, was das Schlimmste ist? Ich konnte mich nicht mal bei ihr entschuldigen. Ich lebe nun mit einem ewigem Schuldgefühl.“
Diandra hatte die ganze Zeit der Geschichte ihres Vaters zugehört. Nun kramte sie ein Taschentuch hervor. „Sie werden den Mörder schon finden. Nimm das Taschentuch und putz dir die Nase, Daddy“, sagte sie.
Er nahm es dankbar an.
Plötzlich gab spürten sie einen Ruck. Es knatterte und knisterte. Dann ertönte eine weibliche Stimme aus einigen Lautsprechern: „Entschuldigen Sie die Verzögerung in der Geisterbahn. Es gab ein paar technische Probleme, die wir nun geregelt haben. Wir bitten um ihr Verständnis und wünschen einer weiteren angenehmen Aufenthalt.“
Die abgedeckten Lampen strahlten wieder. Der Wagen, in dem sie saßen, bewegte sich. Sie fuhren in ein helles, blendendes Licht. Kurz darauf, waren sie wieder draußen am Ausgang.
Mr. Faltchens hatte sich wieder gefasst. Mühsam rang er sich ein Lächeln ab. Dieses wirkte jedoch wie eine hässlich verzerrte Fratze. „Nun, wo wollen wir essen?“
„Bist du sicher, Dad, dass du das schaffst?“, fragte Diandra vorsichtig.
„Aber ja doch. Ich bestehe sogar darauf. Endlich mal wieder essen, mir meiner einzigen Tochter!“
Zögernd gab Diandra nach. Sie schlenderten zum Ausgang und diskutierten über dieses und jenes.
„Schön, dass er wieder normal ist“, dachte Diandra
Beide stiegen in den Passat und fuhren Richtung Stadt.
„Gehen wir zum Griechen?“, fragte Diandra.
„Warum nicht?“, gab er zurück.

Siebtes Kapitel


Morgens kam Diandra nicht aus den Federn. Der Wecker jedoch, schrillte hartnäckig weiter. Verschlafen blinzelte Diandra. Dann drückte Diandra auf die Off-Taste der Uhr und drehte sich um.
„Du kommst zu spät! Diandra, raus aus den Federn!“, riss eine strenge Stimme sie aus dem Schlaf. Unsanft wurde ihr die warme Bettdecke entzogen.
„Diandra, du kommst zu spät zur Schule!“, wiederholte Mrs. Faltchens.
Diandra zog die Beine an, streckte sich und setzte sich langsam auf.
„Was denn, schon so spät?“, murmelte sie fragend.
Ihr Blick streifte den Wecker und blieb an ihm hängen. „Was? Schon so spät. Oh du meiner Güte, es ist gleich acht!“
Eilig zwängte sie sich in eine dunkelblaue Hose und einen weißen Pullover mit Zopfmuster. Während ihre Mutter in die Küche ging, trabte Diandra in das Bad. Sie wusch sich das Gesicht. Anschließend kämmte Diandra sich sorgfältig die Haare zurück.
„Mom!“, rief sie Richtung Küche. „Mach doch bitte schnell mein Pausenbrot. Und füll die Trinkflasche auf.“
„Schon erledigt!“, ertönte die Antwort.
Hastig trank Diandra einen Schluck Tee. In Windeseile putzte sie ihre Zähne, schnappte sich ihre Pausenvitamine und schulterte den Rucksack.
„Tschüss, Mom!“
„Tschüss!“
Diandra hetzte zur Bushaltestelle.

Achtes Kapitel


Der Bus fuhr ab. Diandra stand vor den grauen Betonmauern ihres Gymnasiums. Sie spürte, wie das Verkrampfen der Muskeln nachließ. Entspannt blickte sie zum Gebäude empor. Auf dem Weg in die Klasse, erinnerte Diandra sich an die Predigt für Florentine. Ihre Laune verschlechterte sich schlagartig. Wütend stampfte sie die letzten Meter zu ihrem Klassenraum. Ärgerlich drückte sie die Tür auf. Diandra schrie gereizt: „ Warum bist du gestern nicht gekommen, Florentine?“
Dreißig Augenpaare starrten Diandra verständnislos an. Florentine war leider nicht unter ihnen.
„Florentine ist noch nicht da.“, sagte Lesje Mitchell.
„Merkwürdig ist das schon. Sie ist sonst immer einer der Ersten“, warf ihre Tischnachbarin Valene Colonhan ein.
„Vielleicht ist sie krank?“, fragte Twyla Jamison .
„Dann hätte ihre Mutter uns angerufen“, sagte Diandra „Sie ruft uns schon seit der Grundschule an, wenn Florentine krank ist. Ich kann sie dann entschuldigen.“
„Kann doch sein, dass sie es vergessen hat?“, meinte Alex Anderson.
„Nein, niemals. Als Florentine einmal in der sechsten Klasse Bauchkrämpfe hatte, und im Krankenhaus lag, sogar da hatte ihre Mutter bei uns angerufen!“, erwiderte Diandra
„Was wohl mit ihr passiert ist?“ Laurine Ames sah besorgt in die Runde.
„Kann ja sein, dass sie noch mal zum Bäcker gegangen ist“, versuchte Phil Frees sie zu beruhigen.
„Ja, sie kauft doch öfters bei Mr. Black ein“, stimmte sein Freund Alan Vile ihm zu.
„Trotzdem, auch dann müsste sie schon hier sein!“, sagte Diandra panisch.
„Hör mal, es gibt tausend Möglichkeiten, warum sie nicht hier sein könnte. Sie wurde aufgehalten, oder sie hat was vergessen und musste zurücklaufen, Florentine hat verschlafen, das Auto sprang nicht an, es war Stau...“, zählte Layla Connery auf.
„Stimmt. Das könnte sein“, sah Diandra ein.
Dann kam der Lehrer rein und alle verstummten.

Neuntes Kapitel

Es war zweite Pause. Dicke Regentropfen schossen gegen die Glasscheiben. Der eisige Wind zerzauste Leuten die Haare. Es war Regenpause.
Diandra saß an ihrem Platz und starrte aus dem Fenster. Ihre Mitschüler machten Hausaufgaben oder plauderten. Florentines Abwesenheit hatten wohl alle vergessen. „Vielleicht war sie doch krank, und ihre Mutter hatte es vergessen“, versuchte sich Diandra zu beruhigen.
Plötzlich rief jemand: „Schaut mal, Florentine ist immer noch nicht da!“
„Nun glaube ich nicht mehr, dass es Stau war. Oder das Auto nicht abgesprungen ist“, sagte Delilah Harris.
„Stimmt. Auch beim dichtestem Stau müsste sie langsam angekommen sein“, stimmte ihr Phil Frees zu.
Stille. Jeder hing seinen Gedanken nach. Alle malten sich aus, was passiert sein könnte. Bei den meisten waren es keine schönen Dinge. Eine böse Vorahnung stieg in Diandra auf.
Sie sprach den Gedanken der Mehrheit aus. „Ob sie vom Mysteriösen überfallen wurde?“
Sie blickte betreten zu Boden. Dann folgte wirres Stimmengemurmel.
Auf einmal wurde die Tür aufgestoßen. Wieder wurde es mucksmäuschenstill. Langsam, wie in Trance bewegte sich Florentine zu ihrem Platz. Ihr Aussehen, ein schrecklicher Anblick. Es war, als hätte sie nicht gewusst, wie sie aussah. Das nussbraune, leicht gelockte Haar war zerzaust, als würde sie sich jahrelang nicht kämmen. Den Pullover hatte sie falsch herum angezogen. Man konnte das Schild mit der Marke unter dem Kinn sehen. Die Hose war viel zu klein, und endete über den Knöcheln. Florentine trug zwei verschiedene Schuhe und hatte die Socken überhaupt vergessen.
„Bestimmt friert sie“, dachte Diandra. „Bei diesem Regen.“
Ihre Klassenkameraden scharrten sich um sie. Diandra legte Florentine ihre Jacke um die zitternden Schultern. „Was ist los?“, erkundigte sich Diandra.
Florentine blickte auf. Sie hatte wenig geschlafen und dunkle Ringe. Aus glaseigen Augen, die nach innen gekehrt waren, sah sie ihre beste Freundin an. Florentine öffnete den Mund, brachte einen Krächzton heraus, und schloss ihn wieder. Sie versuchte den dicken Kloß hinunterzuwürgen. Dann stammelte sie heiser: „Vater...!“
„Was ist mit deinem Vater?“, fragte Diandra
„Er war“, flüsterte Florentine, „ vorgestern noch auf Auslandsreise. Er wollte nachmittags zurück sein. Das Flugzeug stürzte ab. Ein dummes Unglück. Die meisten Passagiere konnte man retten. Vater blieb bis gestern Vormittag verschollen.
„Oh!“ Allgemeines Mitleid.
„Und dann?“
„Wir aßen gerade zu Mittag. Es herrschte bedrückte Stimmung, wegen Vater“, fuhr Florentine immer noch leise fort. „Wir erhielten die Nachricht, dass Vater gefunden wurde. Er...“, sie würgte.
„Ja?“
„Er lag im Koma. Tut er immer noch. Außerdem wird er, wenn er wieder erwachen wird, querschnittsgelähmt sein“, weinte Florentine „Mutti und ich waren den ganzen Tag im Krankenhaus. Das Schlimmste ist, er ist arbeitsunfähig. Das Haus ist nicht abbezahlt, Mutti hat nur einen Pflegejob bei zwei älteren Leuten. Wie sollen wir nur durchkommen?“
„Oh!“, sagte Diandra nur. Sie legte Florentine den Arm um die Schultern und versuchte, sie zu beruhigen. „Deshalb kam sie auch nicht. Ich schätze mal, sie hat die ganze Zeit auf ein Lebenszeichen von Vaters in Hospital gewartet. Sie war wohl völlig am Ende mit den Nerven und hat die Zeit vergessen. Ich weiß doch, was für ein gutes Verhältnis ihre Familie zueinander hat!“
Der Rest des Tages verlief beiderseits schweigend. Auch auf dem Rückweg der Schule schwiegen die zwei Mädchen.
„Na dann“, brach Diandra das endlose Schweigen, als sie an der Gabelung ankamen, „Tschüss!“
„Warte, Diandra. Hättest du heute Nachmittag Zeit zum Spielen?“, fragte Florentine.
Diandra überlegte. „Ich glaub schon.“
„Mutti sagt, wir sollten das beste draus machen. Wegen Paps mein ich. Ich bin derselben Meinung, denn ich blase die ganze Zeit nur Trübsal. Also, um drei im Park?“
„Okay, abgemacht!“
Sie verabschiedeten sich und jeder ging den Rest seines Weges allein.

Zehntes Kapitel


„Bin wieder zu Hause!“, rief Diandra.
Ihre Mutter steckte den Kopf aus der Tür und verkündete: „Heute gibt es Spagetti Bolognese! Es wird noch ein bisschen dauern, also mach bitte erst die Hausaufgaben!“
Diandra seufzte abgrundtief. Denn es wurde ihnen mal wieder eine ganze Menge aufgebrummt.
„Ich mach zuerst Mathe. Dann hab ich das Schlimme schon hinter mir“, beschloss Diandra.
Danach schrieb sie noch schnell zwei Sätze zu dem geschichtlichen Thema: Die Ritter aus dem Mittelalter. Diandra erklärte noch schnell wie man in Physik zu einem Experimentergebnis kam und merkte sich in Chemie was der Unterschied zwischen einigen Säuren war. In Kunst hatten sie nie was auf, in Englisch und Latein paukte sie die Vokabeln. In Französisch berichtete Diandra ihre Klassenarbeit. Sie hatte einen glatten Zweier geschrieben. „Wenigstens komme in den Sprachen besser voran als in Mathe!“
Sie wollte gerade ihre Sachen wieder einpacken, als Mrs. Faltchens rief: „Essen ist fertig!“
Diandra räumte auf und ging in das Esszimmer.

Elftes Kapitel

Florentine zog ihre Jacke an. „Mutti, ich geh noch mal raus. Diandra wartet auf mich.“
„Ist gut!“
Die Haustür schloss sich hinter Florentine sie machte sich auf den Weg zum Park.

Zwölftes Kapitel

Diandra war auf dem Weg zu Florentine. Sie sah ihre beste Freundin schon von Weitem. Diandra wollte gerade rufen, als sie eine kleine Gestalt neben Florentine sah. Die Augen von Florentine waren weit aufgerissen. Sie wich zurück.
Leise ging Diandra näher heran. Sie erkannte die Puppe, ihre Puppe, das Puppenmädchen Desidera. Desidera hatte etwas Spitzes in der Hand. Es war das verschwundene Küchenmesser. Wieder trat Florentine einen Schritt zurück.
„Das kann doch gar nicht sein! Seit wann kann sich eine Puppe bewegen?“
Dann erfasste sie die gefährliche Situation.
„Renn weg!“, rief Diandra
Sie wollte helfen und rannte die fünfzig Meter zum Park. Auf einmal stolperte sie. Diandra hob ein Feuerzeug auf. Sie zuckte die Schultern, dann steckte sie es ein. Über das Feuerzeug konnte sie sich später Gedanken machen. Diandra hetzte weiter. Es waren noch zwanzig Meter Abstand.
Schnaufend kam sie an. Diandra nahm Florentines Hand und zerrte sie weg. „Warum ist der verdammte Park nur eine so ruhige Gegend?“, fragte Diandra erschöpft.
„Was ... wie kann das nur sein? Eine Puppe, die Morddrohungen spricht und mit dem Messer einen erstechen will. Ist das ein schlechter Scherz?“, sagte Florentine ohne auf Diandras Frage einzugehen.
„Nun, die Puppe gehört mir“. erzählte Diandra verlegen. „ Aber ich sag dir alles später. Das ist nicht der richtige Augenblick, um Märchen zu erzählen.“
„Also, eines weiß ich auch. Das hier ist genau der richtige Ort, um zu sterben. So abgelegen, da werden wohl erst in einer Woche Leute unsere Leichen entdecken!“, sagte Florentine.
„ Du hast vielleicht einen Galgenhumor!“, meinte Diandra und schaute über die Schulter zurück.
Das Puppenmädchen hatte sich in Bewegung gesetzt. Tatsächlich, es konnte laufen! Das Negative jedoch war, Desidera holte auf.
„Wer ist das eigentlich?“, fragte Florentine nach Luft ringend. Ihre Lungen brannten. Die Beine erschienen ihr wie Eisenklotze.
„ Ihr Name ist Desidera.“
„Aha. Kannst du mir erklären, was das nun soll. Ich laufe vor einer Puppe weg, die sich bewegen kann. Ich glaub ich träume nur. Ich hoffe es jedenfalls!“ Florentine kniff sich in den Arm.
„ Nun, liegst du in deinem warmen Bett?“, fragte Diandra grinsend.
„ Nein, natürlich nicht. Ich renne mit dir vor einen laufendem Ungeheuer weg!“, maulte Florentine.
Sie rannten die Strassen entlang. Blindlings liefen sie in irgendwelche Abbiegungen.
„ Kennst du diese Gegend?“, erkundigte sich Florentine panisch. „Hier ist ja gar keiner auf der Straße!“
Diandra zuckte die Schultern. „Nein, ich kenn sie nicht. Und ich glaub es ist besser, wenn keiner hier rumlungert. Die würden uns glatt für übergeschnappt halten.“
„Da bin ich schon!“
Beide schauten zurück. Der Abstand verringerte sich immer mehr. Desidera lächelte wölfisch. Ihre dunklen Augen blitzten.
Die Mädchen bogen in eine Seitenstraße ein. Stumm hetzten sie um ihr Leben. Plötzlich endete die Strasse. Eine hohe Betonmauer versperrte ihnen den Weg.
„Oh nein! Eine Sackgasse!“, stöhnte Diandra und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Rechts und Links bauten sich hohe Bäume und unfreundliche, graue Hausmauern auf.
„Kein Mensch!“, stellte Diandra fest.
„Und keine Hilfe!“, fügte Florentine leise hinzu.
Gehetzt drehten sie sich um.
Das Grinsen der Puppe wurde noch breiter und entblößte ihre spitzen Vampirzähne. Sie hielt blutverkrustete Küchenmesser in der Hand. Langsam öffnete Desidera den mund. „ Kommen wir zum Ende! Weil du die beste Freundin meiner Herrin bist, machen wir es kurz.“
„Was für ein Angebot!“, murmelte Florentine.
„Warum tust du das?“, fragte Diandra ohne auf Florentine einzugehen. Sie versuchte Zeit zu schinden.
Florentine klammerte sich noch fester an Diandras Hand. Deutlich sah man die Fingerabdrücke.
„Weil Ihr es so wolltet, verehrte Herrin!“, antwortete Desidera mechanisch.
„Nein, das stimmt nicht!“, rief Diandra energisch.
„Wer hat denn gesagt, dass Donata Hillmann und Matthew Gracecann sterben sollen? Das wart Ihr, gute Herrin. Wer hat die Befehle zum Töten erteilt? Das wart Ihr, gute Herrin. Wer wollte, dass die eigene Freundin stirbt? Auch das wart Ihr, gute Herrin.“
Florentine zog geräuschvoll die Luft ein. Diandra blickte sie an und sagte: „ Das ist wahr. Aber es wahr nur ein Fluch. Glaub mir bitte. Ich war wütend auf Matthew Gracecann wegen Mathe. Ich war wütend auf die Hillmann, weil sie mir meinen Daddy raubte. Ich war wütend auf dich, weil du nicht kamst. Zu unserer Verabredung. Weißt du noch? Bitte, Florentine, verzeih mir.“
Florentine lächelte und drückte ihre Hand. „Schon verziehen!“
„Ich wollt das nur mal gesagt haben, bevor wir ins Himmelreich wandern.“
„Gut“, sagte das Puppenmädchen, „Den Fluch akzeptiere ich nicht. Wusstest du nicht, dass ich dem Herrscher unterworfen bin? Du hast mich gekauft!“
„Ja! Damals fand ich anziehend. Aber nun, wie kann man dich loswerden?“
„Gar nicht, es sei denn, du verkaufst mich an einen Menschen, der sieben Monate älter oder jünger ist. Sonst werde ich dir bis in den Tod folgen.“
Diandras Kopf arbeitete auf Hochtouren. Sie dachte: „ Florentine ist zweieinhalb Monate jünger als ich. Und wenn ich ein Mädchen finden würde, was den Aufforderungen entspricht, würde ich es über´s Herz bringen, die Puppe zu verkaufen? Sie richtet sowieso nur Unheil an.“
„Was, wenn dich keiner will?“, fragte sie schließlich.
„Ich werde an dir hafteten wie eine Klette“, antwortete Desidera. „Oder dir bis in den Tod folgen. Wie bei der alten Mrs. Villeroy. Ihre Kusine verschenkte mich an sie. Sie war genau sieben Monate jünger als Mrs. Villeroy. Die alte Frau entdeckte jedoch nie die Sachen an mir. Als sie starb, gehörte ich laut Testament ihrem Sohn. Er jedoch verkaufte mich an den Trödelladen. Der Inhaber, Max Lee, ist genau sieben Monate älter als der junge Villeroy. Dieser schenkte mich seiner Tochter. Aber sie wollte mich nicht, und so landete ich auf dem Tresen. Du kamst und holtest mich, und ich gehorche dir, weil du sieben Monate jünger bist als seine Tochter.“
„ Das ist mir alles egal. Lass uns einfach in Ruhe!“, schrie Florentine verzweifelt.
Die Puppe antwortete nicht, sondern zückte das Messer. „ Das wird wieder witzig! Soviel Menschenblut. Einfach entzückend!“, sagte Desidera. „Es ist so schön rot. Ganz anders als bei uns!“
Das Puppenmädchen ging näher heran. Die Freundinnen wichen zurück und traten dabei auf morsche Äste. Sie hörten das Knirschen von Holz unter den Sohlen.
Da kam Diandra plötzlich eine Idee. Nun lächelte auch sie. Desidera war verunsichert. Dennoch kam sie näher, das Messer vor sich hin schwenkend.
Diandra hob ein paar Äste auf.
„Hier ein teuflisches Geschenk!“, schrie sie. Diandra holte das Feuerzeug hervor. Verzweifelt versuchte sie es an zu bekommen. Alles setzte sie auf eine Karte. Warum ging es nicht? Sollte alles umsonst gewesen sein? Sie wollte nicht sterben. Nicht jetzt. Ohne es zu wollen, kullerte Diandra eine dicke Träne hinunter. Wütend versuchte sie es immer wieder.
Grinsend trat Desidera näher. „ Schönes Geschenk!“
Außer sich vor Wut brach Diandra die Zweige entzwei. Sie versuchte es nochmals. Auf einmal gab es ein kurzes Klicken. Eine helle Feuerflamme erschien. Überglücklich nahm Diandra einige Äste und hielt sie an die Flamme. Sofort fing das Holz Feuer. Mit aller Kraft schleuderte Diandra das brennende Geschenk Richtung Desidrea. Diese war so verblüfft, dass sie nicht ausweichen konnte. Der Saum ihres Kleides fing an zu brennen. Es brach ein erbitterter Kampf aus. Desidera versuchte verzweifelt, das Feuer zu löschen. Dann ein gellender Schrei in der menschenleeren Gegend. „ Aaaaaaaaaaaah!“
Beide sahen die Umrisse von Desidera im Feuer. „ So muss sich wohl Jeanne d´Arc gefühlt haben“, sagte Florentine leise.
Sie bohrte ihre Fingernägel in den Handrücken von Diandra. Diese spürte jedoch nichts.
„ Es ist vorbei!“, flüsterte Diandra und blickte gebannt auf das Feuer. „ Ein für alle mal vorbei. Für immer“
Beide hörten die Sirenen der Feuerwehr. Eilig wurde gelöscht. Die Freundinnen sahen nur noch verkohlte Sachen. Von der Puppe blieb ein Haufen Asche. Genau in diesem Moment wehte eine leichte Brise herbei und der Straub wurde verweht.
„ Das war der letzte Streich“, flüsterte Florentine.
Die Mädchen gingen wieder Richtung Park. Dennoch blieb immer ein Hauch von Unheimlichkeit der Puppe in der Luft liegen.












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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.12.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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