Fünf Tage nach meinem zwanzigsten Geburtstag endete meine Ausbildung an der Akademie des Schwertes. An diesem Tag wurden die Rekruten es Abgangsjahrgangs theoretischen und praktischen Prüfungen unterzogen, von denen nur eine aus dem Bereich ihres Spezialgebietes kam.
Meine erste Aufgabe war es, mit drei anderen zusammen, einen Verteidigungsplan für ein Feldlager zu entwerfen. Nach einer Stunde wurde unsere Gruppe aufgelöst und man brachte mich in einen der Ausbildungsräume, in dem drei Ausbilder warteten. Sie stellten mir einige Fragen aus dem Bereich meiner Sonderausbildung, forderten mich auf, gewisse Dinge zu erklären und ließen mich zwei Problemaufgaben theoretisch lösen.
Im Anschluss daran waren einige Kämpfe angesetzt. Man wurde in drei Waffengattungen geprüft, wusste jedoch erst, wenn man seinem Gegner gegenüberstand, in welcher. Die Schüler mussten gegeneinander antreten, jedoch nicht in Turnierform. Ich wurde im waffenlosen Kampf, im Zwei-Schwert-Kampf und im Stabkampf geprüft – und ging aus allen Kämpfen als Sieger hervor.
Am Ende des Tages bekamen wir eine Urkunde und ein Amulett, beide Dinge zeichneten uns als Absolventen der Akademie aus und würden uns – so hofften alle – die Türen zu jeglichen Königshäusern öffnen, um dort unsere erworbenen Dienste anbieten zu können. Nach dieser Übergabe versammelten sich alle Abgänger im Vorhof der Akademie, um dort auf ihre Familien zu treffen, die sie seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen hatten. Auch ich ging an Andrejs Seite hinunter und war aufgeregt, wie schon lange nicht mehr. Ich konnte es kaum noch abwarten, zu erfahren, was aus meiner Mutter und aus meinen beiden Schwestern geworden war – am meisten freute ich mich auf meine kleine Schwester Lilija. Als Kind war sie wie ein Engel gewesen und wahrscheinlich würde sie nun der bezauberndste junge Nebelwolf sein (die weibliche Form des Wortes Nebelwolf wir von meinem Volk von jeher kategorisch abgelehnt), der im ganzen Tal zu finden war.
Es dauerte nicht lange, bis Andrej auf einen kleinen, dicklichen Mann deutete, schnellen Schrittes auf ihn zuging und ihn kurz umarmte.
Es war mir ein Rätsel, wie Andrej diesen Mann, den er mir später als seinen Vater vorstellte, so schnell erkennen konnte, doch noch weniger begreiflich war es mir, wie diese beiden in verwandtschaftlicher Verbindung zueinander stehen konnten. Andrej war hochgewachsen, schlank und durchtrainiert, er gehörte sogar zu den wenigen Männern, die ich guten Gewissens als schön bezeichnet hätte – und sein Vater war das genaue Gegenteil.
Ich konnte diesen Gedanken jedoch nicht bis zu seinem Ende verfolgen, denn eine mir völlig fremde Frau trat an mich heran und zog mich zur Seite.
„Lillithja von Wolfental?“
Ich nickte nur und sah sie fragend an.
„Lest das irgendwo, wo Ihr ungestört seid und tut, was dort steht.“
Sie drückte mir einen versiegelten Umschlag in die Hand und wandte sich ab, ehe ich etwas sagen konnte.
Ich ging mit dem Schriftstück auf mein Zimmer und las.
Ich war allein, als meine Welt zusammenbrach.
Lillithja von Wolfental.