Silvia Pree

Traum eines Sommers

Helga atmete schwer.
In wenigen Minuten würde der Flieger starten.
Das Flugzeug nach Rom.
Und der Platz neben ihr war leer geblieben.
Edgar hatte es ihr gestern gesagt.
Gestern Abend erst.
Es tut mir leid.
Aber der Termin mit unserem wichtigen Kunden geht vor.
Ich kann nicht mitkommen.
So gerne ich würde…
Helga hatte ihm das Handtuch an den Kopf geworfen.
Bist du verrückt geworden?
Jetzt sagst du mir das?
Das ist doch nur eine deiner Ausreden.
Nach minutenlangem Streit hatte sie die Schlafzimmertür zugeworfen.
Und abgesperrt.
Das Haus hatte sie heute Morgen verlassen.
Ohne noch ein Wort mit ihm zu wechseln.
Es hatte keinen Sinn mehr.
Tränen stiegen in ihr auf.
Nicht nur ein Streit.
Auch ihre Beziehung war am Ende…
 
Helga verschlief den Großteil des Fluges.
Erst das lautstarke Klatschen der Passagiere nach der Landung weckte sie.
Sie rieb sich die Augen.
Und blickte hinaus.
Die Sonne schien in Rom.
Was heißt: sie schien!
Sie lachte aus einem strahlend blauen Himmel.
Helga war einen Moment verzaubert.
Dann nahm sie ihre Handtasche.
Drängte den anderen nach.
Passkontrolle.
Gepäck
Das übliche halt…
Eine halbe Ewigkeit später war sie auf der Suche nach ihrer Reisegruppe.
Sie zog ihren Koffer auf Rollen weiter.
Ja, dort vorn.
Ein großer, dunkelhaariger Mann empfing sie.
Fragte höflich nach dem Namen.
Mit diesem typischen italienischen Akzent.
Signora Berger.
Ah, hier habe ich Sie.
Aber wo ist Ihr Mann?
Helga hatte diese Frage heute schon ein dutzend Mal gehört.
Krank geworden…
Zehn Minuten später fuhr der Bus los.
Helga saß ganz vorn.
Und musterte den Mann der sich via Mikrophon den Mitreisenden vorstellte.
…ich werde Sie nun eine Woche begleiten.
Wenn Sie mich brauchen, rufen Sie einfach Giovanni.
Dann bin ich für Sie da.
Und ich zeige Ihnen Roma…
 
Helga musterte den gut aussehenden Mann.
Fast schwarze Augen.
Breite Schultern.
Große, gepflegte Hände.
Und ein Ansatz von Grau an den Schläfen.
Das machte ihn noch interessanter.
Giovanni half ihr das Gepäck ins Hotel tragen.
Und er war ihr behilflich einzuchecken.
Und als er sich verabschiedete, musste Helga lächeln.
La bella signorina” hatte er gesagt.
Diese Italiener!
Sie duschte sich und machte sich fertig zum Mittagessen.
Die erste Rundfahrt stand an.
Giovanni kümmerte sich wirklich auffällig um sie.
Natürlich.
Sie war allein.
Aber war da nicht ein bestimmtes Leuchten in seinen Augen?
Wenn er sie ansah?
Sie war sich nicht sicher.
Zunächst.
Bis er sie am nächsten Abend mit in eine Bar nahm.
Ihr das nächtliche Rom zeigte.
Und nicht nur das.
Giovanni weckte sie schließlich um 6:00 Uhr morgens hektisch.
In seiner Wohnung.
Zwischen Stühlen und Kleidungsstücken am Boden wurde Helga bewusst.
Sie hatte Edgar betrogen.
Nicht nur das.
Sie hatte keine Gewissenbisse.
Nicht die geringsten.
Sie wusch sich in Giovannis winzigem Bad.
Ein Taxi brachte sie zurück ins Hotel.
Ein wenig Zeit um zu dösen.
Und sich fürs Frühstück umzuziehen.
Helga betrachtete ihr Spiegelbild.
Sie sah anders aus, fand sie.
Ganz anders…
 
Inzwischen war Rom nebensächlich geworden.
Sie schlief fast jede Nacht bei Giovanni.
Denn im Hotel konnte er nicht bleiben.
Giovanni hob beschwörend die Hände.
Wenn man erfährt, dass du und ich…
Seine Geste ließ keinen Zweifel.
Was brauchte Helga ein *****Hotel?
Was war im Vergleich dazu schon ein italienischer Lover?
Mit seinem Sinn für Romantik?
Mit seinem Charme?
Und mit seiner Ausdauer?
Helga konnte sich nicht erinnern jemals so glücklich gewesen zu sein.
Sie fühlte sich attraktiv.
Begehrt.
Und Ihr Selbstwert als Frau wurde bestätigt.
Jede Nacht wieder.
Sie dachte kaum mehr an Edgar.
Wenn er anrief, wimmelte sie ihn ab.
Er bedeutete ihr wirklich nichts mehr.
 
Die Woche ging zu Ende.
Am Flughafen fand Giovanni tatsächlich Gelegenheit sich unter vier Augen von ihr zu verabschieden.
Ich werde immer an dich denken.
Mia bella signorina.
Sie tauschten Emailadressen.
Telefonnummern.
Giovanni küsste sie noch einmal.
Wie soll ich ohne dich sein?
Das fragte sich Helga auch.
Der Flieger landete im wolkenverhangenen Linz.
Keine Sonne.
Nieselregen.
Und dort vorne Edgar.
Mit Blumen.
Helga atmete schwer.
Sie musste an Giovanni denken.
Edgar lächelte sie an.
Als er Helga umarmen wollte, wich sie zurück.
Bist du noch immer böse?
Edgars Stimme klang ungläubig.
Helga schüttelte den Kopf.
Nein.
Ich habe nur Kopfschmerzen.
Vom Wetterumschwung…
 
Fast täglich schickte Giovanni Emails.
Und mindestens einmal in der Woche telefonierten sie.
Immer abends.
Wenn Edgar nicht daheim war.
Dienstlich.
Giovanni war süß.
Wenn sie mit ihm redete, schien die Sonne Italiens in ihr aufzugehen.
Edgar merkte nichts.
Ihre Unlust im Bett tolerierte er.
Zumindest bisher.
Sie hatte keine Lust mehr mit ihm zu schlafen.
Sie sehnte sich nach dem starken Körper Giovannis.
Und seinen sanften Händen…
Die Erinnerung war stark.
Als wäre sie erst vor drei Wochen im Rom gewesen.
Im Internet fand Helga zufällig einen günstigen Wochenendflug nach Rom.
Und plötzlich die verrückte Idee.
Giovanni besuchen.
Einfach so.
Edgar erzählt sie, sie würde nach Innsbruck zu einer Freundin fahren.
Mit einer kleinen Reisetasche trat sie zum Flug an.
Sie konnte es kaum erwarten.
Giovannis Überraschung.
Und dann seine Freude.
Das Flugzeug landete am späten Abend.
Trotzdem spürte Helga die Sonne Italiens.
Sie nahm sofort ein Taxi.
 
Wie oft war sie im Sommer mit Giovanni in seine Wohnung gefahren!
Sie zitterte vor Aufregung, als sie in den Wohnblock ging.
Hinauf in den dritten Stock.
Und den Reserveschüssel unter der Fußmatte hervorholte.
Helga sperrte die Tür auf.
Überall die Sessel.
Und Kleidungsstücke.
Wie immer.
Sie musste schmunzeln.
Bis ihr im Halbdunkel ein weißer Spitzenbüstenhalter auffiel.
Giovanni lag nicht allein in seinem Bett.
Eine dunkelhaarige Schönheit mit langen Locken lag halb auf ihm.
Nackt.
Giovanni grunzte zufrieden im Schlaf.
Minuten starrte Helga auf dieses Bild.
Dann drehte sie sich um.
Warf den Schlüssel auf den Boden.
Und die Tür ins Schloss.
Das schlaftrunkene Gemurmel hinter der Tür interessierte sie nicht mehr.
Sie lief aus dem Haus.
Lief die Straße hinunter.
Mia bella signorina!
Das sagte er wohl zu jeder.
Die Nacht war fast schwarz.
Aber Helga lief weiter.
Wie gehetzt…
 
 
Vivienne

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.06.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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