Reinhard Schanzer

Die staade Zeit.

Seid´s hoid endlich a´moi staad!
 
Schön langsam nähern wir uns wieder dem Höhepunkt der sogenannten „staaden Zeit", nämlich Weihnachten.
Tolle Sache, haben wir dann endlich einmal Ruhe von all dem Trubel rund um die - alljährlich abgehaltene - „Geschenkolympiade"!
Aber was kennzeichnet eigentlich die typisch „staade Zeit" im Bayerischen Wald?
Besinnliche Abende bei Dämmerlicht in der tief verschneiten Hütte? Ein bullernder Holzofen in der Stube? Der Duft von Zimt und Backpflaumen aus dem Backrohr? Oder etwa gar besinnliche Geschichten, liebevoll erzählt von der Großmutter?
 
Weit gefehlt!
 
Eingeläutet wird sie alljährlich mit vielen zahllosen Theater- und Volksmusik- Veranstaltungen in der gesamten Region.
Da ist es immer proppenvoll und die Stimmung kocht stets über bei so viel - inbrünstig zur Schau getragener - Bodenständigkeit und Heimatverbundenheit.
Natürlich ist diese Show für die Touristen und Urlauber ein willkommenes Event.

„Ziachfexen" und „Herzbuam" haben in dieser Zeit Hochsaison und keiner merkt, daß die „zünftige" Musik und der Jodler überhaupt nicht in dieser Gegend des Bayerischen Waldes zuhause sind.
Ebensowenig wie die feschen Trachten, die womöglich aus dem steirischen Oberland, aus Kärnten, Tirol, dem Egerland oder anderswoher stammen.

Nur eines ist es bei diesem voradventlichen Jodelmarathon ganz bestimmt nicht: „Staad."
 
Es folgt im Radio und im Fernsehen die wohl aggressivste Werbekampagne des ganzen Jahres:
Menschen, die sich am eigenen Geiz aufgeilen, brüllen uns über Wochen bis Weihnachten an, endlich das sauer Ersparte bei ihnen und nicht bei der Konkurrenz auszugeben.
Jetzt ist es nicht nur „nicht staad", sondern sogar unerträglich laut.
 
Na, dann gehen wir doch auf den örtlichen Weihnachtsmarkt, der so viel Stimmung verspricht.
Und schon wieder Hektik pur: Im steten Wettbewerb mit der Nachbargemeinde will man natürlich auch in diesem Jahr das Programm des Rivalen toppen und hat somit schon fast im Fünf-Minuten-Takt immer wieder eine neue Musikgruppe auf der Bühne.
Nicht nur die Bässe der riesigen Lautsprecher sind völlig überdreht und erreichen somit noch den verstecktesten kleinen Winkel des Ortes, so daß sogar dort noch die Fensterscheiben klirren.
Die Musiker wirken selbst schon sehr gehetzt und spielen entsprechend stimmungsvoll auf.

Die örtliche Werbegemeinschaft hat in der Zeitung extra damit geprahlt, in diesem Jahr noch mehr Stände mit Kunstgegenständen, Bastelartikel, Weihnachtsdekorationen, Christbäumen, Schmuck und kulinarischen Köstlichkeiten, sowie Gewinnspielen und Verlosungen aufgestellt zu haben.

Auf diesem Weihnachtsmarkt trifft man nicht etwa auf den einheimischen Nikolaus mit seiner hohen Mitra, dem Bischofsstab und seinen finsteren Gesellen, den Krampus mit der Rute und dem Sack, sondern auf unheimlich viele lustige Weihnachtsmänner, die anscheinend direkt aus Coca-Cola-Land zu uns eingeflogen wurden.
Ob diese etwa dort gar am Fließband hergestellt werden?

Diese werden dann auch von Schubidu-Musik wie z.B. White Christmas, Jinglebells, Jinglebells und anderen US-amerikanischen Musikklängen begleitet.
Wie schön!
Aber wo - zum Kuckuck - ist eigentlich der Nikolaus?

Womöglich hören Sie sogar ein Klingeln hoch oben in der Luft.
Verunsichert werden Sie sich umsehen, vielleicht auch einen kurzen Blick nach oben riskieren. Vielleicht ist er ja dort oben irgendwo auf seinem Schlitten mit dem Rentiergespann zu sehen?
Weit gefehlt!
Dort oben können Sie an den Hausfassaden nur eine üppige Weihnachtsbeleuchtung mit vielen Lichterketten, Sternen und Glocken erkennen, die sich quer über die ganze Straße spannt und irgendwie an das blinkende Lichtermeer von Las Vegas in Arizona erinnert.
Und an beinahe jeder Hausfassade hängt ein weiterer Coca-Cola-Weihnachtsmann, der gerade im Begriff ist, durch irgendein Fenster einzusteigen.

Die Standbesitzer auf den zahlreichen Bratwurst- Lebkuchen- und Glühwein- Ständen reißen sich um die Kundschaft, die zu weit überhöhten Preisen billigsten Schund angeboten bekommen. Dazwischen rennen zahlreiche Jugendliche mit Sammelbüchsen für die abstrusesten Projekte herum.

Und wieder weist rein gar nichts auf irgendeine „staade Zeit" hin.
Nur einige relativ stille Prospektständer der Zeugen Jehovas bieten den „Wachtturm" an, aber sogar diese versuchen heute, die Passanten in tiefgründige Gespräche über ihre Weltanschauung zu verwickeln.
 
Sie kommen fix und fertig heim, wollen sich endlich in aller Ruhe ein oder zwei Kerzerl anzünden, eine heiße Tasse Tee genießen und sich dazu einen Lebkuchen reinziehen.
Ist das schön, endlich Adventsstimmung!
 
Irrtum!!!

Diese Rechnung haben Sie ohne den Wirt - besser gesagt, ohne die Frau Wirtin - gemacht.
Schon vergessen? Bei Ihnen daheim sitzt ja noch Ihre werte Frau Gemahlin und äußert seit zwei Wochen ohne Unterbrechung ihre Weihnachtswünsche.
„Staade Zeit" daheim, dieser Wunschtraum trifft sicher erst ein, wenn das Frau Weiberl sich die Radieserl eines Tages von unten besichtigt?
Das war jetzt gemein, ich weiß...
 
Eine letzte Chance auf eine wirklich „staade Zeit" haben Sie ja noch. Und zwar an einem Ort, wo Sie dies garantiert niemals vermutet hätten: Nämlich im Betrieb.

Dazu gibt es einen Trick, der - konsequent umgesetzt - zu 100prozentigem Erfolg führt:
Rechtzeitig vor dem 1. Advent zerstreitet man sich mit den Kollegen dermaßen, daß man in der folgenden Zeit kein Wort mehr miteinander spricht.
Und siehe da: Die „staade Zeit" ist endlich auch für Sie gekommen. Eine Wohltat!
Daß Sie dafür von über 20 Kollegen abgrundtief gehaßt werden, wollen wir großzügig in Kauf nehmen.
Was tut man nicht alles für die wahre und friedliche Weihnachtsstimmung!
 
Ach ja, eine Sache hätte ich jetzt fast vergessen:
Mein Onkel Adolf ist seit Jahren stocktaub und genießt das Privileg, 365 Tage im Jahr „staade Zeit" spielen zu dürfen.
Aber seltsam! Irgendwie macht ihn das auch nicht so richtig glücklich.
Typisch: Die Einen suchen verzweifelt die Stille, Andere dagegen wollen ihr um jeden Preis entfliehen.
Stille Nacht, heilige Nacht, wie man es macht, ist’s verkehrt!

Besinnliche Geschichte oder doch Satire?
Wer weiß das schon so genau?
Reinhard Schanzer, Anmerkung zur Geschichte

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Reinhard Schanzer).
Der Beitrag wurde von Reinhard Schanzer auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.12.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

Bild von Reinhard Schanzer

  Reinhard Schanzer als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Der Henker von Lemgo von Bettina Szrama



Hexenverfolgung in Lemgo, über das Leben der letzten verurteilten Lemgoer Hexe Maria Rampendahl und des Scharfrichters David Claussen. (1654 bis 1681)

Brillant recherchiert, gekonnt umgesetzt: Hexenprozesse, Liebesgeschichten und eine starke Heldin – dieser historische Roman hat alles, was ein spannendes Buch braucht.

Das Manuskript zum Roman errang 2005 einen 2. Platz beim internationalen Schriftstellerwettbewerb WRITEMOVIES in Hollywood.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Besinnliches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Reinhard Schanzer

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Die Identität von Reinhard Schanzer (Impressionen)
Der alte Mann und der Hund von Engelbert Blabsreiter (Besinnliches)
Hab dich ganz doll lieb von Achim Müller (Wie das Leben so spielt)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen