Sarah Calotta Minz

Nachts kommt die Flucht 1

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In der Nacht kommen die Schattenbilder. Die verloren geglaubten Erinnerungen an eine glückliche Zeit. Wenn ich nicht schlafen kann, denke ich oft daran zurück, entfliehe der grausamen Realität. Es gibt keine Konfrontationen, keine Begegnungen, da bin dann nur ich. Ich und meine Gedanken. Ich schaffe mir eine eigene kleine Welt, in der nur ich zähle. Ich und mein Leiden, meine Tränen und Träume, Wünsche und Hoffnungen, mein Wohlgefallen und meinen Hass. Der Hass gegenüber meinem Partner, meinen Freunden und Eltern. Es kommt aus den Tiefen meiner Psyche, auch wenn ich alle lieb habe und schätze, genieße ich doch dieses unbeschwerte Gefühl der totalen Verachtung, der Schaffung minuziöser nicht bedeutender Probleme. Diese scheinbar unwichtigen Kleinigkeiten machen mein Leben aus. Nur mit ihnen kann ich sein, was ich bin. Manchmal, in der Dunkelheit, wird es mir ganz klar, dann erkenne ich, wie unbedeutend ich doch eigentlich bin, wie klein und wies ehr ich das hasse und mich aus dieser Umklammerung lösen möchte. Diese trivialen Nichtigkeiten, die für viele Menschen doch die Erfüllung bringt.

Ich habe Probleme mit dem Schlafen, ob nun mit dem Einschlafen oder dem Durchschlafen. Gelegentlich wache ich mitten in der Nacht auf, ich bleibe manchmal stundenlang wach und denke. Ich denke viel, ich überlege viel, in der Nacht, in der Dunkelheit. Ich genieße es, nur für mich zu sein. Es ist angenehm, nicht darüber nachdenken zu müssen, wie man das Geld für die kommende Rechnung auftreibt, oder das verschissene Projekt fertig stellt. Dieser Berg von Forderungen wird in der Stille einfach eingerissen. Hin und wieder habe ich das Gefühl, dass Menschen, die es wirklich schaffen, mal 8 Stunden durchzuschlafen, nicht das empfinden können, was ich empfinde, wenn die Sonne nicht scheint. Ich hasse die Sonne, Licht ist Wahrheit, du schaust im Hellen in einen Spiegel, du siehst dich in voller Pracht, du gehst näher heran, an die Wahrheit und du bemerkst jeden kleinsten Makel an dir. Jedes Haar, das vergessen wurde, jeden Pickel, jede Facette. Was ist gut daran? Ich dachte immer, der Mensch liebt die dicke fette Lüge?! Im Dunkeln fühlt man sich schwerelos und perfekt. Man bemerkt nicht die Rundungen an Hüfte und Arsch, Narben oder Falten. Man sieht sich als das was man glaubt zu sein. Wenn das Licht abgeschafft werden würde, wären die Menschen wohl zufriedener.

Aber ob sie das sein wollen? Wenn sich beispielsweise, eine Frau nicht mehr mit ihren Alltagsproblemen herumärgern kann oder sich um Mann und Kinder kümmert, was ist sie dann noch? Eine leere Hülle der Verzweiflung.

Nach diesen oder ähnlichen Gedanken, nach stundenlangem nicht schlafen können, fallen mir dann aber Gott sei dank die Augen zu und ich schaffe es doch tatsächlich, drei bis vier Stunden zu schlafen, bis dann der Wecker klingelt und diese, von mir verhasste, stupide Scheiße von Neuem beginnt. Das Licht und die Zeit sind meine Feinde.

Ich öffne die Augen und die Gedanken der Nacht sprudeln wieder hervor und eine Lösung. Meine Augen weiten sich, trotz der Müdigkeit, ich setzte mich aufrecht hin und spreche meine Erlösung lauthals aus: Zufriedenheit ist langweilig. Wären alle Menschen glücklich, gäbe es keinen Fortschritt. Wäre jeder zufrieden, bedeute das Stagnation. Die Gesellschaft sollte sich glücklich schätzen, dass es Menschen gibt, die vor Glück und Selbstgefälligkeit nicht zerplatzen.

Nachdem ich das monotone Klingeln des robusten schwarzen Weckers beseitigt habe, mache ich mich an die Arbeit, gebe mir Mühe, wieder am alltäglichen Leben teilzunehmen. Was soviel heißt wie, sich den Forderungen hinzugeben, die Zeit nicht zum Feind zu haben und sich mit den Nichtigkeiten der Welt herumzuärgern. 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.12.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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