Thomas Schmidt

Die Himmelsscheibe

Die 4500 Jahre alte Himmelsscheibe von Nebra – in Wahrheit das Gesellenstück eines mittelalterlichen Gallensteinmetzes, der in Wirklichkeit das sehr karstige Dasein eines sanzibarischen Laubenpiepers fristete – ist zerstört. Von Christo mit gewaltigen Mengen Weihnachtspapier umwickelt, dann kollabiert, enthüllte das angebliche Relikt sein wahres Inneres: Einen dicken Karamellkern – leicht säuerlich im Geschmack – in dessen Mitte ein chinesischer Glückskeks verborgen war: “kado-guchi ni - nara-no shita eda-no shigeri kana” lautete der japanische Shinto-Text. Die Übersetzung ergibt folgenden Text: „So findet mein Schweben, ich ertrinke ruhig in Schlummer, denn: Auch ich fand eines Strauches schützend Blätterdach im Wienerwalde!“ Bei Benutzung eines wenig verbreiteten sinologischen Idioms offenbart  der Text dem geübten Sineasten sein unglaubliches Geheimnis: Eine geheime Chiffre von Zhu Yuanzhang, dem Begründer der Ming-Dynastie persönlich, enthält des Rezept zu einem unglaublich leckeren Waffelteig.

Peter Rödenhürster und Damian Nettelzwag streiften sich die wasserstofffarbenen Lehmfasermasken von ihren kleinen, von Schockwellen deformierten Rosinenköpfen. Ihr schnittiges, dauergewelltes Haar flatterte erfahrungsgemäß antiproportional im Fahrtwind hin und her, während die St. Martins Hörner der US-Navy-Seals in weiter Ferne ihr immer währendes altes Lied in D-Dur sangen und mit der Subdominante auf dem hohen Fis fast wie das berühmte Blockflöten Konzert von Friedrich dem Großen in Sanssouci geklungen hätten, wenn sie nicht schon vor einiger Zeit in den Köpfen der beiden Ganoven schlagartig verstummt wären. Ihr in Erdbeeryoghurt gestanzter Fluchtwagen war zwar seit gestern nicht mehr der Neueste und verfügte auch über lediglich eine einzige lausige Pferdestärke, einmal in Fahrt gekommen durchbrach das Gefährt jedoch, dank des ausgeklügelten Korrosionspartikelantriebes, mühelos die Schallmauer – schließlich waren sie mit dem Sonnenwagen von Trundholm unterwegs, den sie einem subakut dänischen Amateurarchäologen beim Mau-Mau-Spiel abgeluchst hatten.

Aus den Lautsprechern des bordinternen HiFi-Systems klangen die lieblichen Stimmen des kinetischen Knabenchors, der unter der Leitung von Lex Barer, in einer Live-Übertragung aus dem arktischen Epizentrum, eine moderne Interpretation von Karl Mays berühmter Version des Ave Maria zum Besten gab. Rödenhürster, der hinter dem Steuer des Wagens klemmte, verstand es wie kein Zweiter der akustischen Darbietung einen Anstrich von technoidem Pathos zu verleihen, in dem er durch gezielte und wohldosierte Bemühungen des Gaspedals den Motor in rhythmischen Abständen aufheulen ließ, um das musikalische Leitmotiv gekonnt zu paraphrasieren. Nettelzwag – sein Komplize – hatte auf dem sagenhaft ungemütlichen Notsitz von mikroskopisch kleinem Ausmaß Platz genommen. Er war völlig in sich zusammengeknotet, was seinen körpereigenen Wärmehaushalt beinahe zum Kollaborieren brachte und das Transpirationsgen sich dazu veranlasst sah, die Drüsenkanäle zu fluten. Glücklicherweise litt Damian Nettelzwag unter Chromhidrose, einer seltenen Krankheit, die sich darin äußert, dass der Betroffene farbigen Schweiß absondert. Die Ursache dieses sonderbaren Farbaufkommens wird in der zufälligen Aufnahme von Metallteilchen bei der Nahrungszufuhr vermutet, wie es beispielsweise auch bei allergrößten Mengen des allerfrischsten und allergrünsten Spinates absolut ausgeschlossen ist. Nettelzwag war sich dieser These bewusst, und ahnte deshalb nicht, dass der Ursprung seines Leidens auf der Speisekarte seines Lieblingsitalieners zu finden war, wo er bei jedem Besuch gleich zwei üppige Portionen Spaghetti Natriumhydrogencarbonara verspeiste. Bei exakter Dosierung war es Nettelzwag zuweilen sogar möglich, bis zu drei verschiedene Farben gleichzeitig aus den an unterschiedlichen Stellen des Körpers befindlichen Schweißdrüsen abzusondern und mittels der entstehenden Rinnsale die Trikotdesigns aller Schachclubs der Verbandsliga Südbaden inklusive Name und Rückennummer auf seinem Körper zu applizieren, was sein angespanntes Verhältnis zum Verband der T-Shirt Hersteller erklärte. Da kauerte er nun im zähflüssigen Vereinshemd des FC Bötzingen und starrte wie parallelysiert aus dem Schlüsselloch, in der Hoffnung vielleicht einen kurzen Blick auf den Boulevard, das arktische Schneetreiben der Pinguine und deren athapaskischen Kindeskinder oder vielleicht den großen Bären, der am Himmelszelt prangte und eimerweise lettischen Läusehonig verspeiste, erhaschen zu können. Das imaginäre Handschuhfach des Sonnenwagens klemmte regungslos zwischen seinem Waden- und Schlüsselbeinen. Hier würde niemand – nicht mal die Seals – nach der Beute ihres nächtlichen Streifzuges durch das kulturelle Unterholz suchen. Hocherfreut über ihren erfolgreichen Raubgüterzug, bei dem sie einen überdimensionalen, in aus Zellulite gedrechselter Frischhaltefolie verpackten, kaukasischen Käsekräcker des Kaisers Diokletian erbeutet hatten, der am heutigen Festtage der ganzen ausgemergelten Familie, sowie den Stiefkindern aus siebter Scheinehe, ein vorzüglicher Weihnachtsschmaus sein würde. Schmaus und Schand waren die Relikte, die wie aus einer fernen Überhöhung die zirsensische Vergangenheit der gemeinsamen Familie konsolidierte. Damals waren sie eine weltberühmte Autistengruppe gewesen, ihre zauberhaften Kunststückchen hatten ganze Länderein entvölkert. Vielweiberei war an der Tagesordnung gewesen – damals - als es weder Kreisverkehr noch – ssaal gegeben hatte. Die Tagträumerei der beiden Spitzbuben fand mit dem Einschlag eines völlig kontextunsensitiven abstrakten Nomens in die Windschutzscheibe des Sonnenwagens ein abruptes Ende. Der völlig aus dem Takt gekommene Trochäus hatte sich in das Fichtenwäldchen verirrt, und war wegen eines gebrochenen Versfußes in ihren Weg geflattert. Seine Schwingen waren voller Borsenginster, Zecken krabbelten darauf auf und ab, und jedes ihrer körpereigenen Borriolose war eine Niete. Den beiden war klar, dass sie ihren voreiligen Emissionskurs würden aufgeben müssen – ihre amalgangefüllten Lendenschurze blendeten den Trochäus und veranlassten ihn zu diversen hämischen Paraphrasen. Rödenhürsters plumbonisches Phlegma , das er seinerzeit aus Pandoras Büchse stibitzt hatte, schütze ihn vor jedweder Beirrung diesseitshalber – er war ein Mann der Tat. Rasch schnitze er mit seinem Reichsapfel einen kaltgepressten Feuersalamander und hieb mit mächtigen Schlägen auf das lorbeerne Antlitz einer mehr als tausendjährigen Nordmannstanne, die widerstrebend ihre Jahresringe ins Raum-Zeit-Kontinuum krümmte, bevor sie endlich stürzte. Beherzt packte er den riesigen Christbaum am Kragen und schleppte ihn zur Jambushaltestelle, die wie er erwartet hatte unweit des Trochäus hinter einem dicken Eichenstamm ein Versteck gesucht und gefunden hatte.

Auf gleicher Hühneraugenhöhe bewohnte der katalanische Fliesenleger Radizius Sucur ein wenig geräumiges Quartier in einer exorbitanten Quadrupelfuge des städtischen Expositionsheims, von dem aus er das ganze Szenario durch seinen maxwellschen Magnetfeldstecher beobachtet hatte. Sogleich hatte er Körper und Geist in ein Gewand aus reinster Metamorphose gehüllt, um unter gewaltigem Lärm etruskischer Flöten und galvanisierter Kastagnetten den Ort des Geschehens zu betreten und im gregorianischen Kontrapost verharrend einen anthroposophischen Ausdruckstanz darzubieten, durch den er dem Publikum seine Bewunderung für die siamesische Rüsselbarbe vermitteln wollte. Rödenhürster, der mittlerweile Selleriesamen säend das Unterholz auf Spuren des flüchtigen Trochäus absuchte, zeigte sich von der bizarren Vorstellung wenig beeindruckt. Als völlig grotesk und äußerst serifenlos hatte er das Laienschauspiel empfunden, das ihn in seiner bigotten Emotionalität eher an das Paarungsverhalten der faröischen Raubmöwe erinnert hatte. Missmutig und entzürnt über die latente Ignoranz, die das akribische Tänzchen in seinem Gegenüber zu Tage gefördert hatte, sah sich Radizius Sucur dazu veranlasst, das vom Versmaß erheblich demolierte Gefährt der beiden Banausen zu entwenden, um es ein paar Meter weiter gegen die nächste Schallmauer zu fahren. In Bruchteilen von Sekunden hatte er den Wagen erreicht, dessen Konfitüren um diese Jahreszeit bis 19 Uhr geöffnet waren. Die kleine silberne Schlüsselfigur auf dem Armaturenbrett hätte den Motor bereits gestartet, so dass des Sucur es sich nur noch auf dem Eierschalensitz gemütlich machen könnte und die Vollkornschrotgurte anlegen müsste, um anschließend, lediglich eine winzige Kumuluswolke in der umliegenden Stratosphäre hinterlassend, mit fliegenden Reifen verduften würde. Stattdessen hätte die Szenerie bis zum Eintreffen eines gefallenen gelben Engels im Konjunktiv verharren würden müssen. Diese recht ungewöhnliche Kinderkrankheit des Sonnenwagens war den Entwicklern natürlich längst bekannt. Sucur, dem Fahrer des Gefährtes, wurde mit einer rasch implizierten Blutwursttransfusion geholfen würden. Zusätzlich litt Sucurn an leicht überhöhten Deklinationswerten. Eine stationäre Behandlung war notwendig, die zum Glück in einem nahe gelegenen jesuitischen Suspensiorum durchgeführt werden konnte. Sucur wurde nach allen modernen Regeln der Syntax durchdekliniert und war bald wieder in der Lage an dem Gemeinschaftsleben des Klosters teilzunehmen. Zu den Gottesdiensten, bei denen der Pater Noster den Schweinepristern des Ordens aus den Leviten las, nahm „er“ zunächst nur in Gänsefüßchen teil. Aber zu den kargen Mahlzeiten, bei denen zu den Zankäpfeln und belegten Schnittmengen lauwarmer Doncamillentee gereicht wurde, schleppte er sich schon ohne fremde Hilfe im Akkusativ.

Rödenhürster hatte inzwischen den komplett von patinierten Seychellen überwucherten Fahrplan der Jambusbahn gründlich studiert. Er wollte die Linie 8 nehmen, die ihn in aufregender Fahrt durch das Adrenanildelta bis zur nabätaischen Felsenstadt Petra führen würde, wo er würde umsteigen müssen. Das war zwar nicht ganz ungefährlich, Rödenhürster wusste natürlich dass dort jede Menge Oberammergauner ihr Anwesen trieben, aber er hatte wohl kaum eine andere Pottwal, wollte er noch vor dem Festmahl den Käsekräcker in der mütterlichen Enklave abliefern. Noch ahnte er nicht, dass die Familie Feta und Mordio schreien würde, sobald sie erführe, dass er den versprochenen Käsekräcker nicht nur nicht hatte, sondern dass es sich dabei nicht einmal um einen Käsekräcker handelte. Dieser befand sich immer noch in den Händen des Nettelzwags, der sich wiederum im imaginären Handschuhfach des Sonnewagens verbarg, welcher wiederum mit einer dicken Abschleppseilbahn in die nächste Werkstatt gezogen wurde. Die gründliche Adhäsion brachte den Fehler recht schnell zu Tage. Der Imperfekt des Trochäus in die Windschutzscheibe des Sonnenwagens hatte auch das vertikale Sprachzentrum des Fahrzeugs beschädigt und sogar dessen Fremdwortschatz völlig demoralisiert. Die inaffektierte Steuereinheit hatte beim Einschlag ausgerechnet im indikatiefen Bereich einen Semantick abbekommen. Der erfahrene Mechaniker hatte seine Mengelehre zufällig beim Hersteller in Trundholm gemacht. Rasch brachte er den Wagen in Präposition und fügte ein Partizip Präsens hinzu. Aber erst beim zweiten Versuch reagierte der Wagen und auch die Temporalwerte sanken auf Normal-Niveau. Aus rein ästhetischen Gründen legte er den Wagen auch noch superlatiefst.

Nettelzwag hatte die ganze Prozedur rekursiv überstanden und bald entschlossen sich aus dem Feinstaub zu machen. Riesigen Hunger vortäuschend gab er Essen als Ziel in das globale Positivierungs System ein. Sofort zündete der Motor. Eine breite Spur verbrannten Radiergummis auf den Werkstattboden hinterlassend schoss er aus dem Gehäuse. Zunächst einmal musste er seinen Taschenurgroßvater einfangen. Dieser war in der Bevölkerungspyramide angekettet, die vor Pharäonen mitten im Aufruhrgebiet auf dem Kopf stehend errichtet worden war. Nettelzwags Opa litt unter der prähistologischen Behandlung, in deren einziger Mittelpunkt die Prinzipien eines gallischen Bauspeicheldruiden standen. In der Kantine wurde ein ranziger Methusalix-Kompott für die Insassen aufgewärmt – und das auch nur dann, wenn sie ein Deliquentchen Glück hatten.

Rödenhürster hatte inzwischen die 14. Station des Kreuzweges erreicht. Der Iambusfahrer bog nun auf die Weihrauchstraße ein, und gab bekannt, dass ein doppeltes Datiefdruckgebiet genau über Essen lag, welches ihrem Fahrplan nicht zum Wohle gereichen würde. Unabhängig voneinander, aber etwa zur gleichen Zeit erspähten unsere beiden Banditen  den Spannungsbogen, der sich angeregt durch den meteorologischen Eifer dieser ungewöhnlichen Wetterlage bildete und die darunter schwimmende Regenbogenforelle in gleißendes Blaulicht tauchte.

Sucur lag inzwischen in seiner eigenen kleinen Herzkammer des jesuitischen Klinikums, er träumte von einem blauen Licht, dessen azurfarbenes Herzflimmern seine Klerikalaorta illuminierte. In seinem Traum stand plötzlich ein vermeintliches Gesundheitswesen an seinem Krankenbett. Es wollte sich unverblümt in Sucur einen Günstling erheucheln. Ein enttäuschend echter Defibrillant sollte als Korruptiv dienen und dem gemeinen Parasiten Einlass gewähren. Aber Sucur ließ sich von dem schönen Stein nicht blenden, er durchschaute den Unsichtbaren sofort, indem der nur durch Vortäuschung echter Tatsachen Aderlass gewährte. Die Traumgestalt entführte Sucurs Körper durch den Raum zurück zum Anbeginn der Zeiten. Sucur wurde Zeuge der Entstehung des Universums, später der Erde und dann sogar der Papiertaschentücher mit Mentholaroma – eine der bedeutendsten Erfindungen der Menschheit, wie die geisterhafte Traumgestalt zu Sucur meinte, wobei sich das Spitzbärtchen frech in dem lächerlichen Gesicht aufrichtete. Der kleinwüchsige Bösewicht mit der asiatischen Gesichtsdiagonalen zeigte Sucur wie er vor Urzeiten versucht hatte, die Entwicklung intelligenten Lebens zu verhindern. Einmal war es ihm gelungen, aber die von ihm provozierte Klimaänderung hatte zwar sämtliche vulkanisch geologischen Lebensformen ausradiert, andererseits aber die Grundlage für Kohlenstoffbasiertes Leben geschaffen. Erstaunt sah Sucur die geisterhaften Bilder vor seinem inneren Auge: Dr. Tofu Man-Ciu – der gemeine Bösewicht und Gestaltannehmer lenkte seine kleine Dschunke mit formwandlerischer Sicherheit über die Wogen des irdischen Urozeans, sogar schon lange bevor Gondwana sich aus den Tiefen des Urmeeres erhoben hatte. Schockiert beobachte Sucur die Fähigkeit des niederträchtigen Wesen die Form jeder belebten oder unbelebten Gestalt anzunehmen solange sie der eigenen asiatischen Physiognomie absolut entsprach. Tofu Man-Ciu beobachte das illustre Treiben in den polymeerestiefen unter seinem Kiel und heckte einen teuflischen Plan aus mit dem er die Verbindung von unbedeutenden Proteinen zu Makromolekülen zu verhindern trachtete. Das erneute Scheitern irritierte ihn nicht im äußersten. Ohne den geringsten Hauch eines zweifelhaften Momentes sah er zu wie die Dinosaurier – seine Lieblingsgeschöpfe jämmerlich eingingen. Lediglich dem gigantischen und heiß geliebten Helikopterix und dem kleinen aber extrem gefräßigen Thesaurus Rex weinte er keine Träne nach. Sucur hatte natürlich überhaupt keine Ahnung von Evolutionsbiologie, er war Autodieb und hatte früher mal eine kleine Waffelbäckerei sein eigen genannt, worauf er wahrlich nicht besonders stolz war. Doch genau diese beiden Eigenschaften von fragwürdiger Ehre – sein Hang zur Kleptomanie und das immense Fachwissen auf dem Gebiet der Naschwerkzubereitung – ergaben eine irreversible Symbiose, die seine, von Minderwertigkeitskomplexen zerfressene Person in den Aufmerksamkeitsfokus des kleinen, unsichtbaren aber unsagbar bösen Mannes gerückt hatte. Radizius Sucur war der Auserwählte, eine Art Homme Supérieure, dessen übermenschliche Fähigkeiten, von denen er selbst bisher nichts gewusst  hatte, für den diabolischen Asiaten von größter Wichtigkeit waren, wollte dieser bis zum unaufhaltsam näher rückenden Stichtag alle nötigen Maßnahmen für die Durchführung seines Plans getroffen haben. Er musste unverzüglich in den Besitz der Himmelsscheibe kommen, die sich immer noch in den Fängen des imaginären Handschuhfaches befand, zu dessen unergründlichen Tiefen sich nur Sucur mittels einer gewieften List den alleinigen Zugang verschaffen konnte, indem er sich als Pailletten verzierter Fehdehandschuh verkleidete, um so die Wächter der heiligen Klappbox täuschen und sich somit den Einlass erschleichen zu können. Der Asiate nannte dieses gefährliche Manöver das Ding mit dem trojanischen Handschuh. Doch es blieb ihm nicht mehr viel Zeit, da er nur solange Einfluss auf Sucur ausüben konnte, wie dieser barfuss und nur mit einem knappen, weißen Kittel bekleidet, der gerade mal seine Brust und das winzige Gemächt bedeckte, das Gesäß jedoch frei ließ, durch seine eigenen absurden Traumwelten schlurfte. Mit dem Übergang von der Rem- in die Aufwachphase würde der Asiate den Kontakt zu seinem Schützling  zwangsläufig verlieren.

Inzwischen hatte Nettelzwag sein Ziel erreicht, mit einem pneuphorischen Tritt schleuderte er den Wagen gekonnt in die nächste Zahnlücke. Das ungewöhnliche Elternhaus des Rödenhürster faszinierte ihn immer wieder: Ein Gesichtsarchitekt hatte es nach dem Ebenbild des Mienespiels mütterlicherseits verworfen. In seinem Inneren verbarg sich ein langer Stuhlgang von dem aus  sich jede einzelne Kammer des Hauses erreichen ließ. Nettelzwag zwängte sich nebst Opa über die enge Eileiter, wo der schon ungeduldig wartende Rödenhürster bereits zwischen der Mutter und den Exorbitanten am weihnachtlich gedeckten Toxoplasmotisch Platz genommen hatte. Ein allzu gut gemeinter Freudengefühlsausbruch wurde rasch eingedämmt, Nettelzwag spähte verstohlen auf die unbehandelte Weihnachtsgrippe, die zwischen den Geschenken unter dem Baum lag. Er selbst hoffte darauf endlich das lang ersehnte Schweizer Offiziergeschwindigkeitsmesser aus geschmiedetem Diebstahl zu erhalten. Vergeblich suchte er mit bangen Augen zunächst den Käsekräcker, danach Blickkontakt zu seinem Freund. Er hatte ihn auch nicht, dachte er in völliger Unkenntnis des tatsächlichen Aufenthaltsortes, das würde ein entsetzliches Gezeter geben, dachte er noch. Wenigstens hatte er noch bei dem Internisten an der Ecke einen Gürtelrosenstrauch für die Mutter besorgt. Es war eine schöne Bescherung als die beiden Spießgesellen vor lauter Freude mit Spitzhacken einen tiefen Christstollen in die Bodendielen direkt unter die Weihnachtskrippe schlugen. Die Freude endlich wieder eine ehrliche Arbeit zu haben saß einfach zu tief. Der Onkel hatte sie in der benachbarten Zeche untergebracht. Dort sollten unter den Tagen alliierte Rosinenbomber abgeschossen werden, und beide erhielten eine einträgliche Stelle im Sollbruch.

Der geheimnisvolle Man-Ciu hatte Sucur inzwischen aus seinen eigenen Traumwelten hinausgespien. Sucur fand sich plötzlich in einer einzigen und ziemlichen öden Wüstenei wieder wo er ein kleines aus Buchenstämmen gezimmerte Häuschen betrat. Das grob bemalte Schild über den Eingang trug die Inschrift „Wells Fargo“. Sucur hatte diesen Begriff zwar schon einmal gehört aber sein reichlich verwirrtes und ohnehin auch im Normalzustand rasch zur Überforderung neigendes Hirn, war nicht in der Lage die notwendigen  Verknüpfungen zu erstellen.

„Einfache Fahrt?“ fragte der verdreckte Mann hinter dem Tresen in einer Sprache, die Sucur zwar nicht kannte, aber seltsamerweise verstand.

„Nur Rückfahrt!“ antworte in eben jener seltsamen unbekannten Sprache.

„Nur Rückfahrt?“ fragte der Zahnlose

„Nur Rückfahrt!“ wiederholte Sucur.

„Dann müssen sie die Retourkutsche nehmen!“

„Gut! Die Retourkutsche ist gut! Sehr Gut“

Sucur kramte aus den Taschen seines merkwürdigen Tarifmäntelchens die korrekte Anzahl spanischer Golddublonen. Ein Schneider kam aus einer der dunklen Ecke des Raumes und nähte die Fahrkarte auf Maß über seinen Körper. Die Fahrkarte war die Imitation der Uniform eines Reiter des preußischen Postkavallerieregiments aus dem 18 Jahrhundert und Sucur nahm wenig später im Postfach der eilig vorbeibrausenden Retourkutsche Platz. 17 dunkle Rösser zogen das Gefährt über einen vierspurigen Feldweg mit Beschleunigungsstreifen, die ihn ohne weitere Verzögerung und wegen des trojanischen Fehdehandschuhs, unbehelligt von sämtlichen vorhanden ebenso wie den nicht vorhandenen voll- und halbautomatischen Sicherheitsmaßnahmen, direkt in das mikroskopische Handschuhfach hinein. Er nahm den Käsekräcker an sich und wickelte ihn in den Uniformrock ein. Völlig unvermittelt gelangte Sucur mitsamt Käsekräcker zurück zum Asiaten, wo sich dann zu seinem Desinteresse das Geheimnis des Käsekräckers offenbarte: Häme verzeichnete das Antlitz des bösartigen Gesichtchinesen, einen winzigen Moment zeigte sich sein innen liegendes Monster, das eng unter seiner Haut eingeschlossen und bis tief hinab auf subzellulare Ebene hinabreichte. Gierig umschloss die faltige Hand mit einem feinen Gespinst aus Fingern den Käsecracker, der sofort in seiner Hand zu pulsieren begann. Stinkend bröselte der Muff von jahrtausende alten Käse von der Oberfläche und entbarg sein innerstes Geheimnis.  Endlich war er am Ziel, nun konnte er seinen teuflischen Plan endlich zum kulminanten Höhepunkt klimatisieren. Direkt vor Sucurs ahnungslosen Augen spielte sich das ungeheuere Schauspiel ab, dem er glücklicherweise nicht persönlich beiwohnen konnte.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.05.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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