Dietmar Wessel

Schicht am Schacht (Teil 1)

Eigentlich komme ich von ganz unten her....Tief unter der Erde, wo es heiss und dunkel ist...Genauer gesagt, lag dort der Arbeitsplatz meines Vaters..in ca. 1000 m Tiefe, bei über 30 Grad arbeitete er viele Jahre als Bergmann im Ruhrgebiet. „Arbeiten“ war schwerste Knochenarbeit..auf dem Bauch liegend mit einem Presslufthammer inmitten von Staub und Lärm, Kohle und Gestein herauszubrechen und in Förderwaggons zu schaufeln. Ich kenne das nur von seinen Erzählungen und war nie Untertage. Ich habe die Erinnerung, wie er mittags von der Frühschicht kommend, erschöpft und müde etwas zu Mittag ass, um dann für einige Stunden bleiern zu schlafen. Mein Grossvater und einige nahe Verwandte waren auch Bergleute. Damals in den 50 er Jahren waren Bergleute eine besondere Arbeiterklasse für sich. Es gab ein vorbildliches Sozialsystem, wie z.B. die Bergarbeitersiedlungen mit eigenen Kindergärten, man hatte eigene Fussballvereine, Chöre, und vieles mehr. In diesem Umfeld rund um den „Pütt“ wie die Bergleute liebevoll ihre Schachtanlage nannten, wuchs ich auf.

Natürlich in einer Zechenwohnung, mit drei Räumen und Toilette in der Wohnung. Für meine Eltern war dies 1950 der wahre Luxus, nachdem sie nach ihrer Heirat ein Jahr in einem Zimmer wohnen mussten. Unsere Wohnung hatte fliessend kaltes Wasser, Stromanschluss in allen Räumen ( natürlich nicht im Kellerraum, der uns zur Verfügung stand) und befand sich in der 4. Etage. Es handelte sich um ein L-förmiges Gebäude, 8 Hauseingänge mit jeweils 8 Mietparteien und einem riesigen Innenhof. Wir waren in unserer Familie 4 Kinder und waren keine Ausnahme. Bei über 60 Familien, die meisten mit Kindern, kann man sich leicht ausmalen, dass es in jeder Altersstufe Spielkameraden gab.

Und es wurde viel gespielt, Cowboy und Indianer, Mutter und Kind, Räuber und Gendarme, Hickelkästchen...und natürlich Fussball. Wir waren die meiste Zeit nach der Schule draussen, notgedrungen, da wir wie gesagt sehr beengt wohnten. Mit 6 Personen auf 70 Quadratmetern....da rückt man zusammen. Insbesondere in der kalten Jahreszeit waren wir auch viel in der Wohnung. Meiner Mutter gebührt an dieser Stelle das allergrösste Lob und die Bewunderung, wie sie liebevoll und geduldig fast alles mitmachte. „Tischtennis spielen?“ „Kein Problem, den Küchentisch kann man ausziehen...“ So spielten wir auf dem Küchentisch Tischtennis. „Kein Platz für eine Märklin- Eisenbahn?“ „Kein Problem, die kann auf einer Platte montiert werden und auf den Küchentisch gelegt werden. Nach dem Spielen kommt sie hinter den Schrank“.

Sie musste für sechs Personen kochen, einkaufen, Kleidung flicken, waschen und bügeln, sich um die Hausaufgaben von uns kümmern, schon damals zusehen, dass wir neben Kindergarten und Schule zur Bastelgruppe, Turn- oder Schwimmverein kamen. Daneben die religiöse Erziehung nicht vernachlässigen mit Tischgebet, Nachtgebet. Und sie hielt uns zum Lesen an...wir Kinder waren Stammkunden in der Stadtbücherei.

Wer Kinder hat kann ermessen, wieviel Arbeit 4 Kinder machen...erschwerend kam dazu, dass die materielle Ausstattung sehr düftig war..man musste gut mit Geld umgehen können, damit alle satt wurden und nicht frieren mussten. Aber meine Mutter schaffte alles. Es gab einmal in der Woche Fleisch (am Sonntag), ansonsten viel Gemüse, Obst und Kartoffeln und Milch (wir kauften jeden Tag 2 Liter Milch in einer blechernen Milchkanne beim Milchbauer auf der anderen Strassenseite). Dort konnten wir am Monatsende auch anschreiben lassen, wenn das Geld nicht reichte: „Meine Mutter hat nur einen 100 Mark-Schein, den sie noch nicht anbrechen möchte...“, so hatten wir gelernt, höflich um Zahlungsaufschub zu bitten, bis zum Geldtag. Wir waren nicht die einzigen, die anschreiben liessen...und am „Geldtag“, wenn die Ehefrauen im Lohnbüro der Zeche die „Lohntüte“ anholten (es war wirklich eine Tüte), wurden die Schulden beglichen. Für uns Kinder, die wir Mutter zum Lohnbüro begleiteten gab es an der „Bude“ ein Stück Schokolade oder Lakritz..ein kleiner Feiertag.

Neben der materiellen Einschränkung, d.h. permanenter Geldknappheit (wie für den Winter warme Sachen kaufen können?), gab es zusätzliche Probleme für unsere Mutter zu bewältigen. Alleine Wäsche zu waschen für 6 Personen (anfangs auch die „leicht“ verschmutze Arbeitskleidung meines Vaters) ganz ohne elektischem Waschvollautomat und Wäschetrockner war eine logistische und körperlich ungemein anstrengende Tätigkeit. Wenn Mutter Waschtag hatte und wir die Waschküche zur Verfügung hatten (alle 10 Tage) hiess es für sie im Winter: Irgendwann in aller Herrgottsfrühe aufstehen, Feuer im Küchenherd anmachen, Kohlen raufschütten, die Küche aufheizen, Kafffe bzw. Warme Milch machen, Schulbrote schmieren, für Vater Tee und Brote für die Arbeit machen, die Kinder je nach Schulbeginn wecken, auf Waschen und Anziehen achten, zur Schule schicken, dann die am Vorabend zusammengesuchte und nach Waschtemperatur und Farben sortierte Wäsche in die Wanne legen, den Jüngsten an die Hand nehmen (er könnte ja am Fenster spielen (4. Etage!) und ab in die Waschküche.

Dort musste der Waschzuber für die Kochwäsche aufgeheizt werden, natürlich mit Kohle. Ich habe noch das Bild vor Augen wie mein Mutter mit schwarzen hohen Gummistiefeln und einer Gummischürze ausgesttatte im Wasserdampf für mich in einem gehimnisvolles Ritual verschiedene Wasserbecken mit Wasser auffüllte, Pulver dazu gab, mit einem langen Holzstab umrührte, in eine Maschine mit Wasserantrieb umfüllte oder bestimmte Sachen in in die brodelnde Behälter gab, aus dem der Wasserdampf die Waschküche füllte und nach draussen drang. Und Mutter schaffte alles. Den Jüngsten beaufsichtigen, von oben (4. Etage) Wäschenachschub holen, die nasse Wäsche nach oben auf den Trockenboden bringen, sozusagen 5. Etage..ohne Aufzug, womöglich noch ein quengelndes Kind an der Hand... Aber unsere Mutter schaffte alles.

Wir wuchsen in relativer Armut auf (nach heutigen Massstäben), was uns Kindern nie bewusst wurde. Wir bekamen ausreichend zu essen, genug zum Anziehen und im Übermass Liebe und Zuwendung..was will man mehr? Materiell ging es allen Kindern gleich, da alles Bergarbeiterkinder waren. Einzelkinder hatten zwar zwas mehr, bei denen war es aber auch nicht so lebhaft und fröhlich zuhause wie bei uns. Es war immer etwas los. Zwar gabs kein Fernseher bei uns, dafür aber Radio mit spannendne Hörspielen, die Stadtbücherei, unser Spielzeug oder wir bastelten. Hierbei hat mein älterer Bruder meine uneingeschränkte Hochachtung und Respekt erworben. Wie sauber er mit der Laubsäge aus Sperrholz Schlüsselbretter, Figuren und ähnliches sägen konnte..ich war da einfach ungeschickt. Am meisten beeindruckten mich seine Drachenkonstruktionen. Wenn im Herbst die Getreidefelder abgemäht waren, kam sein Einsatz. Immer grösser wurden die Windvögel, die er aus Latten und Folie baute. Und dann das Mehrfache der erlaubten 100 m Leine...mehrer hundert Meter entfernt hoch am Himmel „stand“ der Windvogel und ich durfte auch die Verantwortung übernehmen, den Aufwickler zu halten und damit den Windvogel. Seine handwerklichen Fähigkeiten hat mein Bruder übrigens bis heute behalten, so wie ich meine Ungeschickichkeit...

Bei vier Kindern und einem mageren Einkommen gabs natürlich keinen Sommerurlaub im Süden...wir fuhren gelegentlich im Sommer zu Verwandten ins Sauerland, ca. 100 km entfernt. Das war schon Abenteuer genug. Wenn die riesige Dampflokomotive in den Bahnhof einrollte und wir vollbepackt den Waggon bestiegen...ja das war ein Gefühl...als ginge man auf Weltreise. Durch viele kleine Städte und Dörfer wie Finnentrop und Lethmate ging es zum Zielort Altenhundem. Mein Onkel war Lokführer mit Dienstwohnung am Bahnhof, wo wir uns irgendwie in die kleine Wohnung mit einquartierten. Für uns Kinder war der Bahnhof das ideale Spielgelände..wir durften auf Gepäckkarren mitfahren und das Leben und Treiben am Bahnhof miterleben. Natürlich wurde auch viel gewandert. Mein Vater genoss in vollen Zügen die frische Luft, wo er doch ansosnten immer nur staubige Luft einatmen musste. Eine Verwandte hatte sogar ein Auto für 2 Personen, hintereinander sitzend, wobei man zum Einsteigen die Vorderseite aufklappen musste. Und wir durften mitfahren. So kam ich im Alter von 8 Jahren zu meiner ersten Autofahrt. Gemächlich, ohne ABS, Automatik, Navisystem u. .ä. tuckerten wir durch den Ort zum nahgelegenen Aussichtsturm Hohe Bracht hinauf...ja es gab Abenteuer..

Autos hatten bei uns im Haus von den ca. 60 Familien vielleicht vier oder fünf. Dies war für uns eine andere Welt..mit dem Auto Ausflüge machen...wir machten gelegentliche Ausflüge zum Zoo oder Stausee mit der Strassenbahn oder Bus. Wofür braucht man schon ein Auto...Genausowenig wie ein Telefon. Niemand hatte ein Telefon in der Wohnung, Um mal dringend irgendwo anzurufen, gab es an der Ecke ein Telefonhäuschen, wo man selten länger als 5 Minuten warten musste, um ein Gespräch zu führen. Ansonsten wurde geschrieben..Briefe hielten den Kontakt zu den Verwandten aufrecht. Auch das war Aufgabe unserer Mutter. Sie schaffte einfach alles..!

 

Da alle meine Freunde aus dem gleichen Milieu kamen, war es für die meisten auch selbstverständlich, weiter die Volksschule zu besuchen. 8 jahre Volksschule waren genug. Meine Eltern hatten auch kein Englisch oder Französisch gelernt..und..hat’s ihnen geschadet? Aber mein Lehrer meinte nach dem 3. Schuljahr, ich habe das Zeug für ein Gymnasium....Dann könne ich anschliessen studieren.. Niemand aber auch niemand in der gesamten Verwandschaft hatte eine weiterführende Schule besucht oder seine Kinder dorthin geschickt.. und ich sollte mit Söhnen (Jungengymnasium) von Ärzten, Anwälten, Architekten usw. Latein oder Griechisch lernen...? Meine Eltern fragten mich, ob ich mir das zutraue..zumindest die Realschule sollte ich besuchen...Das war die Lösung..man muss ja nichts übertreiben.. und ich war der Erste in der Familie der umher lief und jeden Besucher überlegen fragte: „What is your name, please“ und sich köstlich über die verwunderten Blicke amüsierte. „Watt hatter gesacht?“ brachten sie noch heraus.. Bis meine Tante Ida nach 3 Wochen Englischunterricht, mit je 3 Wochenstunden, mich in eine „tödliche Falle“ laufen liess und mein Selbstbewusstsein zutiefst erschüttertte... „Du kannst doch Englisch?“ fragte sie harmlos..“What is your name?“ entgegnete ich routiniert..Dann sag mir mal was heisst „ich liebe Dich“...Pause...Aus..Mist..das wusste ich nicht...“das kommt erst ab Lektion 5 glaube ich, nuschelte ich...“I love you“ schmetterte sie mir triumphierend entgegen und entzog meiner linguistischen Überlegenheit jeglichen Boden. Von nun an behielt ich mein brillantes Englisch für mich...


Ja, ich hatte schon von den wenigen Urlaubsreisen ins Sauerland berichtet. Ansonsten blieben wir zuhause bzw. im Schwimmbad. Im Sommer war es bei Hitze, und die gab es früher regelmässig im Sommer, selbstverständlich, dass wir bewaffnet mit Liegedecken, Radio, Taucherbrillen, genug Essen und Getränke uns auf den halbstündigen Fussweg zum Sommerbad aufmachten. Wichtig war für uns Jungen die Badehose mit Abzeichen (die Mädchen legten, für uns Jungs völlig unverständlich, überhaupt keinen Wert auf Abzeichen) Frei-, Fahrten,-Jugendschwimmschein, DLRG Grundschein, Schwarzer, Silberner und Goldener Totenkopf..das war das grösste... Wenn wir über die Liegewiesen gingen und unauffällig unsere Abzeichendekoration verglichen, konnte man sich gut einordnen..ich zog mit 4 von 7 möglichen Abzeichen schon so manchen anerkennenden Blick auf mich..Mir taten die Jungs leid, die noch nicht einmal das Freischwimmerabzeichen hatten...“arme Schweine“ dachte ich so für mich.....

Überhaupt die Statussymbole, die gab es damals und die gibts heute. So die Zeit, als jeder ein Transistorradio in der Hand hielt, ganz cool guckend, wieder nur Jungs, umherlief, je grösser das Gerät , je mehr Sender und Wellenbereiche und je lauter, desto besser. Ich hatte anfangs nur ein 6-Transistor-Radio, was immer das heissen mochte. Es war klein, handlich und ich konnte Radio Luxemburg empfangen. Damit machte man bei den Mädels aber keinen Eindruck. Es musste schon ein grösseres Kofferraddio sein, damit man als existent wahrgenommen wurde.

Das änderte sich jedoch schlagartig, als meine Eltern die geniale Idee hatten, statt einer Urlaubsreise ins Sauerland ein Steilwandzelt (2m lang, 2 m breit, 1,7 m hoch) zu kaufern und auf dem Hof aufzustellen. Nur für meine beiden Brüder und mich. Niemand aber auch niemand hatte solch ein Zelt..entsprechend sehnsüchtig kammen alle an und wollten zu den besten Freunden gezählt werden. Aus Decken und Laken hatten wir noch ein Vorzelt gebaut, 2 Campingstühle und eine Liege plaziert, und die hübschesten Mädchen kamen an..plötzlich war ich trotz 6-Transistor-Radio ein adäquater Gesprächspartner für sie..Und ich kostete meine Macht aus...ich entschied wer ins Zelt hineindurfte, wer draussen unter dem Vorzelt Platz nehmen durfte und wer leider ausserhalb des markierten Campingbereichs bleiben musste....Aber alles ist vergänglich, auch die Faszination eines Zeltes im Hinterthof eines Häuserblocks..Letzlich kommt es doch nur auf die Grösse eines Transistor-Radios im Leben an, oder?...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.06.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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