Isabelle Lenk

Ohne Hoffnung

Ich war geschafft, völlig außer Atem. Okay, der Morgen hatte sowieso nicht besonders gut angefangen. Nachdem ich die ganzen letzten zwei Wochen jeden Tag bis um elf geschlafen hatte, musste ich ausgerechnet heute um halb neun aufstehen. Da war natürlich nichts mit mir anzufangen. Ich konnte noch nicht mal wirklich meine Augen öffnen und als ich mich  dann auf mein Fahrrad schwang um in die Schule zu fahren, waren es auch noch mindestens dreißig Grad. Ich traf mich also schon halb tot mit Tara an den Bahnschienen und wir fuhren zusammen zur Schule. Nach ein paar Metern bogen wir rechts in ein Wohngebiet ein. Es lag sehr dicht am Wald. Wir fuhren jedes mal durch, wenn wir zur Schule mussten.
„Sag mal Stella, wann kommt eigentlich Samuel wieder? Ist sein Jahr jetzt nicht bald rum?“, fragte Tara als wir schon fast aus dem Wohngebiet heraus fuhren und an Sams Haus vorbei kamen. Ich spürte einen kleinen Stich in meinem Herzen, versuchte es mir aber nicht anmerken zu lassen und sagte so beiläufig wie möglich. „Keine Ahnung. Er müsste nächste Woche wieder kommen. Da er ca. vor einem Jahr weggegangen ist. Glaub ich zumindest.“
Eigentlich dachte ich, dass das Thema damit abgehakt wäre, denn ich wollte nicht weiter darüber reden. Sam war ein Kapitel meines Lebens, was ich abgeschlossen hatte. Doch Tara ließ nicht locker.
„Und denkst du, dass ihr euch noch einmal wiedersehen werdet?“
„Was???“, antwortete ich schockiert. Ich meine, wie kam sie darauf? Sam hatte von einer Sekunde zur nächsten den Kontakt zu mir abgebrochen. Wieso sollten wir also nach einem Jahr wieder etwas mit einander zu tun haben!
„Ich glaube nicht, dass ich die Chance habe, ihn hier noch einmal zu sehen.“, sagte ich zu Tara. Denn auch ich hatte Pläne. Ich würde im Sommer ebenfalls für ein Jahr weggehen.
Tara schwieg und ich tat dasselbe, bis wir in der Schule ankamen. Doch Sam ging mir für diesen Tag nicht mehr aus dem Kopf. Der letzte Sommer mit ihm war einfach das, nach dem ich so lange gesucht hatte. Dates unter freiem Himmel, lange Gespräche, viel Spaß. Ich hatte wirklich die Hoffnung gehabt, dass aus uns etwas hätte werden können. Bei mir war es einfach da, dieses Verliebtsein! Ich werde wohl nie erfahren, wie es mit ihm stand, auch wenn ich zugeben muss, dass ich mir bis heute den Kopf darüber zerbreche. Er hat von einem auf den anderen Tag weder auf meine Mails, noch auf meine SMS oder meine Anrufe reagiert.
„Hey Stella! Was ist los? Alles klar bei dir?“, wollte Tara wissen und  strich mir über die Schulter. Ich nickte ein bisschen abwesend und versuchte Sam aus meinem Kopf zu verbannen. Er war Vergangenheit und damit basta!
 
Ein paar Tage später traf ich mich mit meiner guten Freundin Sarah, um mal wieder den neuesten Klatsch und Tratsch auszutauschen. Das taten wir jedes halbe Jahr mindestens einmal. Wir trafen uns bei dem warmen Wetter in einer Eisdiele.
„Wie sieht’s bei euch aus? Habt ihr schon die Abschlussfeier geplant?“, wollte Sarah wissen.
Ich nickte. „Caroline kümmert sich darum, aber sie ist in letzter Zeit auch nicht mehr die Alte. Hat Stress mit Kevin. Sieht stark nach Trennung aus.“
Sarah sah betroffen aus. „Scheint so, als würde derzeit alles mehr oder weniger in die Brüche gehen. Bei mir und David läuft es auch nich besonders gut.“
„Wieso? Was ist los?“, wollte ich wissen.
„Er ist einfach nur noch mit seinen Kumpels unterwegs und ich bleibe da natürlich auf der Strecke! Aber egal! Los erzähl mir irgendetwas aus deinem Liebesleben, was mich aufmuntert!“
Ich fing an zu lachen. „Das wird schwer, denn langsam glaube ich, dass dieser Teil meines Lebens nicht mehr existiert.“
„Immer noch Sam?“, fragte Sarah vorsichtig.
Ich schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht. An Verehrern mangelt es auch nicht, aber ich verspüre bei keinem das Gefühl des Verliebtseins, wie das bei Sam der Fall war.“
„Er kommt übrigens morgen wieder.“, sagte Sarah ganz beiläufig.
„Ach so?!“
„Ja, er hat es mir geschrieben.“
Jetzt war ich platt! Sam schrieb Sarah, aber nicht mir. Ich meine, sicher waren die beiden in derselben Klasse gewesen, aber es erschien mir trotzdem ungerecht. Tief im Inneren wartete ich auf eine Nachricht von ihm seit er vor einem Jahr in dieses verdammte Flugzeug gestiegen war und jetzt schrieb er Sarah. Ich versuchte mir trotz meiner Enttäuschung nichts anmerken zu lassen und wechselte das Thema.
„Was gibt es eigentlich bei Kira and André Neues? Mein letzter Stand der Dinge war, das beide nur noch nebeneinander her leben und macht Rocco dieses Jahr eigentlich wieder eine Gartenparty?“
 
Es klingelte. Einmal, Zweimal, Dreimal. Wieso, verdammt noch mal, öffnete denn niemand die Tür? Ich zog mir meine Decke über den Kopf. Nach dem fünften Klingeln gab die Nervensäge auf. Ich schob die Decke von mir Weg und quälte mich aus dem Bett. Es war gerade mal halb elf, aber nach diesem Sturmklingeln konnte ich ohnehin nicht mehr schlafen. Ich ging also geradewegs zu meinem Computer und öffnete mein Postfach. Es war einfach schön mit einer neuen Nachricht in den Tag zu starten.
„Sie haben keine neuen Nachrichten!“, erschien auf dem Bildschirm. Dann würde der Tag eben nicht gut starten. Ich schnappte mir mein Handy und wollte Tara eigentlich nur eine SMS schreiben, ob sie nicht Lust hätte mit mir ins Freibad zu gehen. Draußen war es schon wieder wahnsinnig heiß und ich brauchte ein wenig Ablenkung. Seit der Unterhaltung mit Sarah kreisten meine Gedanken wieder um Sam. Besonders seit gestern, seitdem er gelandet war. Ich sah also auf mein Handy und hatte tatsächlich drei unbeantwortete Anrufe. Merkwürdig. Aber eine Nummer konnte nicht angezeigt werden. Ich schrieb Tara, doch sie hatte keine Zeit, musste bei dem Wetter ihre Oma besuchen. Ich ging hinunter in die Küche und aß ein paar Cornflakes, während ich mir im Fernsehen irgendeine sinnlose Talkshow ansah.
Wieder klingelte es an der Tür. Wer auch immer es war, gab einfach keine Ruhe. Aber ich hatte mir schon ein paar nette, sarkastische Zeilen für diesen Quälgeist zurechtgelegt.
Ich ging also zur Tür, öffnete ziemlich genervt und war total platt, als Sam plötzlich vor mir stand. Ich krallte mich an der Tür fest.
„Hi“, sagte er und sah mir tief in die Augen.
Für diesen Moment war alles vergessen und ich befand mich wieder im letzten Sommer, als zwischen uns noch alles in Ordnung gewesen war. Erst als eine Träne über meine Wange rollte, wurde mir klar, wie sehr ich ihn vermisst hatte.
Sam kam auf mich zu und berührte mich an der Schulter. Ich wollte zurückweichen, ihm nicht zu nahe kommen. Die Angst war zu groß wieder verletzt zu werden. Aber es ging nicht, meine Beine bewegten sich nicht und er schloss mich schließlich in die Arme.
„Nicht weinen“, flüsterte er. „Bitte nicht weinen. Es tut mir leid!“
Ich wollte ihm alles das ins Gesicht schreien, was sich in einem Jahr bei mir angestaut hat. Meine Wut, meine Enttäuschung und meine Verzweiflung, doch es ging nicht. Vor lauter Weinen bekam ich kein einziges Wort heraus.
„Es tut mir so leid, wie letztes Jahr alles gelaufen ist. Ich dachte es würde mir leichter fallen mich von dir zu trennen, wenn wir gar nicht erst die Möglichkeit hätten Nähe zueinander aufzubauen. Aber dieses ganze Jahr hat mir die Augen geöffnet. Es hat mir in diesem Jahr einfach etwas gefehlt und es hat verdammt lange gedauert, bis ich es gemerkt hab.“
Er löste sich von mir und ich sah ihm in die Augen. Was sollte ich sagen? Ich war sprachlos. Ich hatte ein ganzes Jahr mehr oder weniger gelitten, doch dass er nun hier war, bei mir, war einfach wie eine Erlösung.
„Denkst du, wir haben noch eine Chance?“, fragte er und sah mich weiter an.
Ich kam näher und küsste ihn. Das war meine Antwort, die ich ihm nach einem Jahr Leiden gab. 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Isabelle Lenk).
Der Beitrag wurde von Isabelle Lenk auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.06.2006. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Isabelle Lenk als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Heiteres und Ernstes aus dem Leben - Band 1-3 von Margit Kvarda



Es ist Heiteres und Ernstes das wirklich aus dem Leben
gegriffen ist und mit einiger Fantasie zu Gedichten
oder Geschichten geschrieben.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Zwischenmenschliches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Isabelle Lenk

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

“California here we come“...oder mein neues Leben Part 1 von Isabelle Lenk (Wie das Leben so spielt)
Norderney macht kreativ von Rainer Tiemann (Zwischenmenschliches)
Word Trade Center von Bea Busch (Satire)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen