Ulrike Reich

Sind wir schon in Streugut?

Manchmal sind es die eher kleinen Dinge und Ungereimtheiten, die einem auch noch nach vielen Jahren ein Schmunzeln entlocken.

Früher fuhren wir, d.h. mein Bruder und ich mit unseren Eltern jedes Jahr mit dem Auto in Ferien, an die Nordsee. Mein Bruder war schon immer ein ungeduldiger Mensch, insbesondere als Kind. Obwohl er einige Jahre älter ist als ich, könnte man meinen, er sei schlauer und vernünftiger gewesen. Dem war jedoch zumindest damals nicht so…

Natürlich, der Quälgeist musste vorne sitzen. Wir fuhren immer nachts, weil da zum einen weniger Verkehr auf den Straßen herrschte und es zum anderen im Sommer nachts kühler war als tagsüber. Mein Bruder quengelte grundsätzlich schon nach den ersten zehn Kilometern: “Sind wir denn nicht schon bald da?!” Hätte ich damals schon um die Existenz dieser kleinen weißen und runden Retterchen aus der Gruppe der Benzodiazepine gewusst und zudem auch noch eine Bezugsquelle gehabt, ich hätte ihm vor jeder Fahrt eine ganze Handvoll solcher Smarties verabreicht…

So fuhren wir auch damals, in welchem Jahr es war, daran kann ich mich nicht mehr erinnern, in die lange herbeigesehnten Ferien an “unsere” geliebte Nordsee. Jedenfalls war es der gleiche Ablauf wie jedes Jahr, ähnlich wie bei “diner for one”, nur leider gab es da nicht dieses praktische Tierfell, mein Bruder war kein Butler und somit war ein Freiflug seinerseits über dieses Teil nicht möglich. Schön wäre es sicher gewesen, denn so hätte man unter Umständen ein paar Minute Ruhe vor diesem Quälgeist gehabt.

Irgendwann schlief er, wie immer, während der Fahrt ein (dass dieses die übrigen drei zu einem SEHR großen Aufatmen animierte, dürfte selbstredend sein). Er hatte schon immer einen Schlaf wie ein kleiner Gott, worum ich nur jeden beneiden kann. Nach ein paar Stunden wachte er auf, räkelte sich schlaftrunken im Autositz zurecht. Draußen war es noch stockdunkel, lediglich die beleuchteten Straßenlaternen (wir fuhren niemals Autobahn, sondern immer Bundesstraßen) sausten an uns vorüber als wollten sie sagen: “gute Fahrt, und hoffentlich nehmt ihr für den Rückweg eine andere Route…”. Noch den Schlaf in den Augen und mit völlig zerzaustem, lockigem Haar (aber SEHR weit entfernt von einem Engel) schaute mein Bruder aus dem Fenster.

Wir fuhren an einer Kiste vorbei mit der Aufschrift “Streugut”. Und mein werter Herr Bruder, zugleich Gott der Verwirrung und Schöpfer aller Stilblüten, sagte mit einem Gähnen: “ooohh, sind wir schon in Streugut?”

Den darauf folgenden Brüller meiner Eltern habe ich noch bestens in Erinnerung. Auch ich musste lachen. Denn so was, das konnte nur mein Bruder bringen.

Natürlich, von da an war es stets Ritual bei jeder Autofahrt, dass irgendeiner von uns schadenfroh fragte: “Sind wir nicht bald in Streugut?”

Meine Eltern gibt es leider nicht mehr. Auch die Reisen an die Nordsee nicht. Aber es gibt immer noch diese besagten Kisten, und immer, wenn ich an einer vorbeigehe, muss ich an diesen Augenblick denken und bei aller Trauer um meine Eltern, die mir beide sehr fehlen und immer fehlen werden, kann ich mir dann doch ein geheimes Grinsen nicht verkneifen…

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.02.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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