Florence Siwak

Eigentlich Selbstmord?

Drei Menschen standen gemeinsam auf der Terrasse und blickten über die Rasenfläche, die sich vor ihnen ausbreitete. In etwa 200 m Entfernung verlor sich der schmale festgetretene Weg, der sich von der breiten Glastür durch den gepflegten Rasen schlängelte, erst zwischen vereinzelten Bäumen, um dann endgültig in dichtem Wald in einen noch engeren, moosigen Stolperpfad überzugehen.

 

"Jetzt ist Andreas schon vier Stunden weg, sagst du?" wandte sich einer der Männer an die zierliche Frau, die als einzige in einem Sessel saß - ein Häufchen Elend, das ihre beiden Fäuste in die ausgebeulten Taschen ihrer alten grauen Strickjacke gesteckt hatte.

 

Manfred Krüger, der ältere Bruder von Andreas, schien fest entschlossen, hier die Initiative zu ergreifen. Der korpulente Mann neben ihm, Klaus, war mit Melanie, der jüngeren Schwester verheiratet. Er war damit beschäftigt, Verdrießlichkeit auszustrahlen. Schließlich gehörte er nicht mal so richtig zur Familie. Sollten sich doch Manfred und Melanie - und natürlich Claudia, Andreas' Frau darum kümmern.

 

Claudia blickte verschreckt hoch.

"Was sagst Du? Ach ja - vier Stunden ungefähr. Du weißt doch, er geht immer pünktlich um acht Uhr los und braucht für den Weg durch's Fenn, um den Kogel und zurück zwei bis drei Stunden. Wenn das Wetter schön ist - eher drei... Aber heute..."

Sie blickte mit trüben Augen in den noch trüberen Mittagshimmel.

 

"Warum hast du uns nicht angerufen? Wir hätten ihn schon längst suchen sollen..." mischte sich nun auch Melanie ein und schoss wütende Blicke in Klaus' Richtung, der ungeniert an den Nägeln knabberte.

 

"Aber Ihr kennt doch Andreas! Er wäre sicher böse geworden. Und er geht diesen Weg doch immer. Da kann doch gar nichts passieren. Vor allem, wo er jetzt doch nur noch einmal am Tag sein Insulin spritzen muss - wo er doch so diszipliniert ist mit dem Essen - und so..."

Claudias Stimme wurde immer schwächer und sie schluchzte leise in sich hinein.

 

Natürlich wussten sie alle, wie diszipliniert - und so - er war, ihr Bruder, Schwager und auch - wenn man ehrlich war - ihr Versorger.

 

"Ja, ja, er mag kein Getue, aber wir sollten jetzt trotzdem losgehen, um ihn zu suchen. Wir Männer wenigstens" ergänzte Manfred noch großzügig.

 

"Hat er wenigstens alles mit, was er braucht?"

Aus der Stimme der rothaarigen hageren Frau, die ihren kugelrunden Mann um Haupteslänge überragte, klang echte Sorge um ihren älteren Bruder.

Aber Melanie war schon immer eine begnadete Schauspielerin gewesen, wie ihr die verächtlichen Blicke der Anwesenden deutlich zeigten. Ihr Mann entfernte sich sogar ein paar Schritte von ihr. Er mochte es nicht, wenn sie mit hochmütigem Pferdegesicht auf ihn hinab sah.

 

"Natürlich, darauf habe ich schon geachtet" lehnte sich Claudia auf, plötzlich Trotz in der Stimme. Er hat mich sogar abgekanzelt deswegen.

Ihr wisst doch, wie er es hasst, wenn ich seine Krankheit anspreche, wenn jemand dabei ist. Außerdem ist auch gerade Frau Ebeling gekommen; extra etwas früher, um ihm zu gratulieren, Sie hat gehört, dass ich ihn gefragt habe, ob er Traubenzucker, einen Imbiss und die Karte dabei hat" verteidigte sie sich.

 

"Das war vielleicht peinlich, wie er mich angeschnauzt hat - vor Frau Ebeling".

 

Die anderen blickten verächtlich an. Was ging es schon die Haushälterin an, welcher Umgangston zwischen den Leuten herrschte, die ihr Gehalt bezahlten?

 

"Er sollte diesen Mist endlich sein lassen. Was ist, wenn er sich mal verläuft? Und auch wenn er sich einbildet, die Karte wie kein zweiter lesen zu können, hatte er schon immer den schlechtesten Orientierungssinn, den man sich nur denken kann - hat jedenfalls Melanie gesagt" polterte Klaus und putzte sich geräuschvoll die Nase.

 

"Heute feiert er seinen fünfundfünfigsten, bestellt uns wie jedes Jahr zum Mittagessen, zieht los, als ob es uns nicht gäbe... und das ohne Handy übrigens... Ist ja was für Weicheier." Er brach ab.

"Fehlt nur noch, er versuchte, mit einem Schweizer Offiziersmesser einen Hirsch zu erlegen" legte er noch nach.

 

"Feiern ist ja wohl geprahlt." Melanie rümpfte ihre aristokratische Nase.

"Ein Essen, eine Standpauke für jeden von uns und dann dürfen wir heim - wie die begossenen Pudel. 'Keine Willenskraft' äffte sie ihn nach. 'Kein Durchhaltevermögen, und so weiter und so fort' "

 

Erschrocken brach sie ab und blickte zur Terrassentür.

Nein - gottlob, es war nicht ihr Bruder, nur Martin Felsner, der Nachbar und Kollege von Andreas, der eilig durch die Tür trat und seinen Schirm ausschüttelte.

 

"Ist Andreas immer noch nicht zurück?"

Mitleidig blickte Martin auf Claudia hinab, die in ihr feuchtes Taschentuch schnüffelte und die Terrassentür mit ihren Blicken zu durchbohren schien.

"Ich gehe jetzt los; vielleicht ist ja was passiert. Und wenn er  m i r  böse ist - mir ist es egal..."

Vielsagend blickte er die Frau und die beiden Männer an, die erröteten - vor Ärger oder Scham.

 

"Du hast Recht, Martin. Klaus, kommst du?"

Manfred klopfte seinem Schwager energisch auf den Rücken "Hast du Regenzeug im Auto? Inzwischen gießt es ja wie aus Kannen."

 

"Wie kann man nur so bescheuert sein?" trotzte Klaus.

Er schien nicht begeistert von der Idee, seine 180 Pfund, die sich auf gerade mal 170 Zentimeter verteilten, quer durch den Wald zu schleppen, um seinen Schwager zu suchen, der allen guten Ratschlägen zum Trotz nicht von seiner Gewohnheit ablassen wollte, das Semesterende - egal ob Februar oder Juli - mit ein paar kräftigen Schritten zu feiern.

Ein paar kräftige Schritte - das bedeuteten gerade mal so eben acht bis zehn Kilometer; erst durch den Wald, dann über plattes, feuchtes, leicht sumpfiges Land.

 

'Entseelt' hatte Claudia, die manchmal einen Hang zum Mystizismus hatte, es genannt.

 

"Vielleicht macht er ja heute die doppelte Strecke. Geburtstag und Semesterende" versuchte Martin einen müden Scherz, der nicht gerade auf viel Gegenliebe stieß.

 

Schließlich hatten die drei Männer sich in Ölzeug gehüllt und verschwanden auf dem Pfad, der in den Wald führte. Zwei große schlanke Gestalten und eine kleine gedrungene, die mit ihren kurzen stämmigen Beinen die Erde festzustampfen schien.

 

Melanie seufzte erleichtert auf und zündete sich eine Zigarette an.

"Endlich!"

Sie saugte den Rauch tief ein, ließ aber nicht die Tür aus den Augen.

"Meine Güte, ich bin ja schon paranoid" fauchte sie und stampfte wütend über den kostbaren Teppich, der so gar nicht in dieses Landhaus mitten im Nichts passen wollte. Aber - für Andreas, den einzig erfolgreichen der Familie, war eben nichts gut genug.

Missgünstig ordnete sie mit den Hacken ihrer Pumps die verrutschten Fransen.

 

Claudia hatte sie aus den Tiefen ihres Sessels heraus wie hypnotisiert angestarrt.

Manchmal machte ihr Melanie Angst. Klaus - Melanies Mann - war in Ordnung; er schwitzte leicht und roch manchmal etwas, aber er erwartete nichts von ihr und war auf eine etwas herablassende Art sogar nett.

Manfred - das Beste, was sie von ihm sagen konnte, war, dass er sie links liegen ließ. Sie hatte in den zwei Jahren ihrer Ehe vielleicht 10 Sätze mit ihm gewechselt.

Allerdings kamen sie und Andreas auch nur zu bestimmten Anlässen mit seiner Familie zusammen.

Er genoss es, ihnen das Schauspiel seiner Wohlhabenheit zu bieten. Das große Landhaus, die junge, zarte Frau, seine gute Stellung als Professor und seine diversen Nebeneinnahmen.

Oft dachte sie, dass er diese Ausflüge zweimal im Jahr nur machte, um seine Familie zu demütigen.

Er bestellte sie, ließ sie warten, ließ auftischen und bei Tisch und danach flogen dann seine Pfeile - in alle Richtungen.

 

In ihre auch, aber sie hatte gelernt, sich unsichtbar zu machen, so dass er tatsächlich manchmal vergaß, dass sie mit am Tisch saß. Sie und Jonas. Jonas, ihr kleiner Sohn, den er - mein Gott, was war doch großmütig! - nach ihrer Heirat adoptiert hatte.

Zum großen Entsetzen seiner Geschwister.

"Das ist doch eine Erbschleicherin, wie sie im Buche steht..." war noch die harmloseste Bemerkung der Verwandtschaft, die fest mit einem dicken - und hoffentlich baldigen - Erbe gerechnet hatte. Andreas, zwar jünger als Manfred, war schon lange Diabetiker und sein Herz ließ auch zu wünschen übrig - in jeder Hinsicht übrigens.

 

Was ihn aber nicht daran hinderte, seine Schwester, ihren Mann und seinen älteren Bruder großzügig finanziell zu unterstützen, was ihn allerdings nicht beliebter machte.

 

"Die nimmt dich doch nur aus. Sie und ihr Balg..."

 

Und "die" hatte alles gehört; still hinter der Tür. Voller Angst, Andreas könne sich von ihr abwenden. Wie dankbar war sie ihm gewesen, als er ihre Hand genommen hatte.

"Du musst dir nie wieder Sorgen machen, nie wieder. Ich kümmere mich um dich und um Jonas..."

Sie seufzte und trocknete sich die Augen.

Dieses Balg hatte sich, nachdem die Männer gegangen war, ins Zimmer getraut,  hockte sich zu seiner Mutter auf die Sessellehne und schmiegte seinen Kopf an ihre Schulter.

Sie küsste ihn zärtlich.

 

'Mein Gott' dachte Melanie missmutig. Die beiden könnten für ein Bild Modell sitzen: die Geschundenen oder so ähnlich.

Was war sie doch mal für ein hübsches Geschöpf gewesen, die Claudia. 'Diese Lämmchen ziehen Falken an' hatte sie damals düster ihrem Bruder gesagt, der wirklich viel von einem Falken hatte.

Und jetzt? Das blonde daunenweiche Haar hatte seinen Glanz verloren und rahmte ihr zartes dreieckiges Gesicht ein. Ihre Augen, die früher in reinem Blau erstrahlten, trugen jetzt, wie fast alles an ihr, einen Grauschleier.

 

"Geh' doch nach oben mit dem Kleinen" schlug sie ihrer Schwägerin vor, die das Angebot dankbar annahm.

 

"Komm, mein Kleiner. Wir gehen nach oben, und legen uns ein wenig hin."

 

"Ja, geh nur" pflichtete ihr Melanie bei. Erleichtert übrigens.

 

Die Gesellschaft ihrer sanften, seelenvollen Schwägerin konnte sie so gut gebrauchen wie ein drittes Bein. Dieser vorwurfsvolle leise Husten, wenn sie sich eine Zigarette anzündete. Andreas schnauzte wenigstens nur, gab einem aber nicht das Gefühl, zu 90% am Waldsterben Schuld zu sein.

 

Dankbar stemmte sich Claudia aus dem Sessel hoch und ging mit ihrem kleinen Sohn nach oben.

 

Im Schlafzimmer bettete sie Jonas auf ihre Seite des Ehebetts. Zärtlich deckte sie ihn zu und streichelte seine noch babyzarten vollen Wangen. Er wirkte jünger als seine 5 Jahre. Zart und klein.

Auch sein Vater, Tobias, war zierlich und feingliedrig. Und wahrscheinlich trotz seiner fast 40 Jahre immer noch auf der Suche nach der perfekten Welle. Sie waren ein schönes Paar gewesen - solange es gedauert hatte. Ein Puppenpärchen. Auch heute war sie noch ein Püppchen - Andreas' Püppchen.

 

Claudia rollte sich zusammen und legte sich auf die Decke neben Jonas; fast auf die Ritze zwischen den beiden Matratzen. Sie wollte vermeiden, Andreas' Territorium zu besetzen.

 

Genauso hatte sie heute früh hier gelegen; natürlich nicht angezogen.

Hatte auf die Geräusche aus dem Badezimmer gelauscht.

Es waren dieselben wie zu Hause. Erst die Wasserspülung - zweimal, dann die Dusche, Gurgeln.

 

Als Jonas zu ihr ins Bett schlüpfte, blieben ihnen noch gute 10 Minuten.

 

"Mutti, muss ich weg?" hatte er sie mit Tränen in den Augen gefragt.

 

Andreas hatte in seiner unendlichen Weisheit beschlossen, dass es für die Entwicklung des Jungen besser wäre, er würde unter Gleichaltrige kommen und auch schon ein Internat ausgesucht, das er ab April besuchen sollte. Er sollte ein richtiger Junge werden!

 

Einwände ließ er nicht gelten und seitdem hatte sie sich den Kopf zermartert, wie sie dieses Schicksal, die Trennung, die viel zu frühe Trennung von Jonas abwenden könnte.

 

Verzweiflung hatte sie auch heute morgen wieder überfallen. Was sollte sie nur tun?

Wie sollte sie das verhindern? Wie sollte sie überhaupt irgend etwas verhindern?

Für Jonas aber musste sie stark sein; einmal stark, stärker als Andreas, der alle und alles so mühelos beherrschte. Ihr Herz schlug schneller, wenn sie sich seine sarkastischen Bemerkungen ins Gedächtnis rief - über Mitarbeiter, Studenten, Kollegen...

 

In diesen zehn Minuten heute früh nahmen ihre vagen, flüchtigen Gedanken der schlaflosen Nacht zuvor Gestalt an, nahmen Besitz von ihr, ließen sie handeln - fast automatisch.

 

Als Andreas das Mundwasser in das Waschbecken spuckte, schickte sie Jonas mit einem tränenfeuchten Kuss zurück in sein Zimmer.

 

"Keine Angst, Liebling, du musst nicht weg, nie"!

Ihre Stimme war so fest wie lange nicht mehr.

 

Irgendwie schaffte sie es, das morgendliche Ritual hinter sich zu bringen.

Glückwünsche, Geschenke, das Gedicht, das Jonas stockend aufsagte - was ihm einen ungeduldigen Blick zur Uhr einbrachte.

 

"Ich bin spät dran, macht nicht so lange. Ihr wisst doch, dass ich es hasse, so beweihräuchert zu werden!"

 

Frau Ebeling kam diesmal nicht pünktlich um 8 Uhr, sondern 5 Minuten eher.

Sie kannte ihre Pappenheimer und wusste, ab 8 Uhr gab es keine Chance mehr, ihre Glückwünsche und ihre selbstgebackene Torte an den Mann zu bringen.

 

"Ist Diabetikergeeignet" bellte sie ihn freundlich an, was natürlich nicht unwidersprochen bleiben durfte.

 

Sein Vortrag über neue Erkenntnisse in der Diabetesforschung ließen sie völlig unberührt; sie arbeitete nebenbei als Altenpflegerin und hatte es eben nun mal anders gelernt. Aber - wenn er meinte.

 

Endlich konnte Claudia ihn verabschieden, nicht ohne ihn vorher - wie immer - an alles erinnert zu haben.

 

"Hast Du Deine Brote dabei, Wasser, Traubenzucker, das Obst und die Karte...?

 

Seine Lesebrille, ohne die er blind war wie ein Maulwurf, lugte ein Stückchen aus seiner Jackentasche.

Sie zeigte darauf "verlier die bloß nicht...", was ihr ein gereiztes Zischen einbrachte.

 

Mitleidig drückte Frau Ebeling Claudias Hand.

"Na, na, nicht so heftig, Herr Krüger, wir meinen es doch alle nur gut."

 

"Damit wurden schon Kriege gerechtfertigt" brummte Andreas zornig, packte seinen Rucksack, warf ihn sich über die Schulter und hatte für Claudias zaghaftes "hast du wirklich alles?" nur ein wütendes Abwinken, bevor er hinaustrat in den Nieselregen, tief einatmete und den Weg entlang stampfte.

 

Claudia lief ihm noch einige Schritte hinterher, Frau Ebeling beorderte sie aber energisch zurück.

 

"Nicht doch, ist doch alles nass draußen. Sie mit Ihren dünnen Schuhen. Lassen Sie ihn rennen. Männer eben!"

Damit war für sie alles gesagt. Die beste aller Welten war in ihren Augen wieder total im Lot und sie konnte sich den wirklich wichtigen Aufgaben des Lebens widmen. Aufräumen, Putzen und Kochen. Es musste schließlich was Anständiges auf den Tisch. Zweimal im Jahr konnte sie sich so richtig austoben. Kochen vom feinsten für sechs Herrschaften und ein zahmes Jungchen.

 

Naja, rümpfte sie verächtlich die Nase. Herrschaften waren eigentlich nur er - ihr Herr Krüger und sein Freund, der Martin Felsner. Der war schließlich auch Professor, auch wenn er nicht so viel zu verdienen schien wie  i h r  Herr Krüger.

Die anderen?

Ging sie nichts an.

Er zahlte - und er zahlte gut und bar. Und sie? Sie tat ihre Pflicht.

 

"Wollen Sie sich nicht umziehen, meine Liebe? Die Gäste kommen doch bald...."

 

'Was bohrt sie denn da bloß in ihren Jackentaschen rum?

Und wie sie wieder aussieht?'

Ungeduldig wedelte sie mit dem Staubtuch unter Claudias Nase.

 

"Ich muss gleich mit dem Kochen anfangen. Punkt Eins wird doch gegessen, Frau Krüger."

 

"Wollen Sie sich nicht umziehen" wiederholte sie - diesmal lauter.

 

"Ja, später, ich glaube, ich schaue noch mal nach Jonas..."

 

Zu spät, schon waren Stimmen zu hören. Alle tief und klangvoll, beherrschend. Selbst Melanies Stimme klang männlich. 'Wie zänkische Elstern' schoss es Claudia durch den Kopf.

 

Die Begrüßung fiel wie immer eher kühl aus.

Ein flüchtiger Händedruck von Martin, der an ihr vorbei blickte; ein feuchter Kuss von Klaus. Melanie hielt ihr gleichgültig die gepuderte, schon recht welke Wange hin - eine Raucherwange, wie Andreas immer spöttisch sagte, die Claudia flüchtig mit den Lippen berührte.

 

Und dann das Warten. Gut, dass Martin gekommen war, der auch ein Ferienhaus hier hatte, nur 2 km entfernt und der sie oft besuchte, wenn sie hier waren. Er hatte sie wenigstens von der Meute und der Verantwortung befreit.

 

Und nun - endlich allein. Jonas schlief, seine Brust hob und senkte sich. Sie schloss die Augen, alle Sinne angespannt.

 

Sie lauschte nach unten, nach draußen.

 

Unablässig spielten ihre Finger in der Tasche ihrer grauen Strickjacke.

 

Plötzlich schreckte sie hoch und glitt geräuschlos aus dem Zimmer, die Treppe hinunter in die kleine Kammer neben der Küche. Frau Ebeling teilte Melanie im Wohnzimmer gerade mit, dass sie schon den ganzen Tag so ein komisches Gefühl gehabt hätte, was diese nicht sonderlich zu beeindrucken schien.

 

Ja, der andere Rucksack stand hinter der Tür. Hastig öffnete sie ihn. Nein, sie hatte keinen Fehler gemacht; es war der richtige!

 

Sie atmete auf und lauschte. Noch nichts zu hören. Unablässig bewegte sie ihre linke Hand in der Tasche und drehte die Brille hin und her. Ihre Finger zeichneten die Umrisse der dünnen Fassung nach. Der Fassung  s e i n e r   Brille!

 

Diese Ungewissheit! Sie hielt es nicht mehr aus.

 

Als Frau Ebeling zurück in die Küche kam, huschte Claudia mit einer Entschuldigung an ihr vorbei ins Wohnzimmer. Melanie rauchte in der offenen Terrassentür. Der Nieselregen benetzte die leuchtend bunte Brücke, die bis an die Türschwelle reichte.

 

Claudia lehnte sich im Schatten des hohen Bücherregals an die Wand.

 

Er war doch selbst Schuld. Er hätte doch nur nachzusehen brauchen, als sie ihn gebeten hatte, dann hätte er gemerkt, dass er den falschen Rucksack, ihren nämlich, gegriffen hatte, mit zwei leeren Plastikflaschen, einem Taschenbuch und einem dicken Paket Papiertaschentüchern.

Er hätte nur nachzusehen brauchen!

 

Vielleicht war er ja nicht tot, nur ohnmächtig. Gerade so viel, dass er für eine Weile vergaß, dass er Jonas fortschicken wollte, Vielleicht war er nur etwas krank. Oder auch richtig krank. Sie würde ihn dann pflegen. Oh - wie sie ihn pflegen würde. Aufopferungsvoll.

Sie sah sich schon in dieser Rolle, als sie mit angstvollen Augen zur Terrassentür ging.

Sie stellte sich hinter Melanie und sah Martin und Manfred langsam durch den Regen auf das Haus zukommen - ohne Klaus. War er bei Andreas geblieben?

 

Melanie ging ihnen entgegen. Sie tuschelten, wandten sich um.

Panik stieg in Claudia auf. Vielleicht war ja gar nichts passiert. Er würde schimpfen, er würde ihr die Schuld geben. Aber  e r  hatte doch den Rucksack gepackt und abgestellt.

 

Die Augen der Männer sagten ihr alles. Es war Mitleid in ihnen zu lesen.

 

Vor Erleichterung glitten ihr die Beine unter dem Körper weg und sie sank zu Boden, in der Hand die Brille, seine Lesebrille, die ihrer so ähnlich war, fast identisch - bis auf die Stärke, so identisch wie ihre beiden Rucksäcke, die sie letztes Jahr für sie gekauft hatte.

 

Ein Griff hatte genügt, ihren Rucksack an die Stelle seines zu stellen und ein weiterer Griff in seine Jackentasche und er hatte ihre schwache Brille für "die Ferne".

 

Er hatte es ja so gewollt. Eigentlich - eigentlich war es doch fast ein Selbstmord!

 

Oder?

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.03.2008. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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