Rainer Jaeger

Lottofieber

Eines Nachts begab es sich, dass mir mein verstorbener Onkel Willi im Traum erschien.
„Hallo, Willi,“ sagte ich „ich dachte, du wärest gestorben.“
Er saß mir gegenüber am Tisch in einem Restaurant, in dem ich noch nie gewesen war.
„Bin ich auch“ sagte er.
„Wie kommst du dann hier her?
„Das ist ein Traum, du Depp! In Träumen kann alles vorkommen.“
Das beruhigte mich. Andererseits hatte ich seit Jahren keinen Gedanken an Onkel Willi verschwendet. Ich hatte beiläufig gehört, dass er gestorben war. Er war in den fünfziger Jahren nach Südafrika ausgewandert, als ich noch ein Kind war, und ich hatte ihn nur zwei oder drei mal gesehen, wenn er auf Besuch im Lande weilte. Er hatte jedes Mal älter ausgesehen. Und jetzt war er tot und saß mir hier gegenüber. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte.
Er hatte einen Zahnstocher aus dem kleinen Behälter auf dem Tisch genommen und kaute darauf herum. „Das kommt dir wohl seltsam vor, dass du ausgerechnet von mir träumst.“
„Ja“ sagte ich. „Zugegeben.“
„Tja, ich wollte es so.“
„Du wolltest es so? Hör mal, ich bin hier derjenige, der träumt. Und deswegen bestimme ich auch, wer darin vorkommt!“
„Meinst du..?“
Er hatte Recht: Man kann es sich nicht aussuchen, von wem man träumt.
„Na gut. Also, du wolltest es so. Und warum? Hast du mir etwas Wichtiges mitzuteilen?“
„In der Tat.“ sagte er „Weißt du, in unsrer ganzen Sippschaft bist du der einzige, der sich ein bisschen von der grauen Masse abhebt. Der einzige neben mir, der ausgebrochen ist aus dieser Spießerwelt; der einzige mit ein bisschen Phantasie und Abenteuerlust.“
„Danke. Fühle mich außerordentlich geehrt. War es das, was du mir sagen wolltest?“
„Nein. Da wo ich jetzt bin... nun, es ist schwer zu erklären. Sagen wir mal so: Es ist eine Sphäre außerhalb von Raum und Zeit, von dort aus gesehen gibt es keinen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und deswegen hat man Zugang zu gewissen Informationen...“
„Also, was wolltest du mir sagen? Machs nicht so spannend!“
„Die Lottozahlen! Ich kann dir im Voraus die Lottozahlen geben! Na, was sagst du?“
Da war ich platt. Und sofort misstrauisch: „Und dann wache ich auf, und kann mich an nichts mehr erinnern. Pustekuchen!“
„ Nein, nein. Du wirst sie jetzt auswendig lernen, und wenn du aufwachst, sofort notieren. Du wirst dich daran erinnern, dafür garantiere ich!“
Er sagte mir also sechs Zahlen, und ich wiederholte sie murmelnd, bis sie intus hatte. Das dauerte nicht lange. Wie viele Leute, die schwach im Rechnen sind, konnte ich mir Zahlen gut merken.
„Hast du’s?“ fragte er „Ich muss jetzt gehen. Hoffentlich sucht man nicht schon nach mir; ich bin sozusagen ausgebüchst. Viel Glück!“
„He! Was ist mit der Superzahl?“
„Stimmt. Hatte ich vergessen.“ Er sagte mir die Zahl.
„Und Super Sechs? Spiel 77?“
„Das reicht jetzt. Ich muss los. Nochmals viel Glück!“
Damit war er weg.
Unmittelbar darauf klingelte der Wecker und ich wachte auf. Die Zahlen hatte ich tatsächlich noch im Kopf und schrieb sie, versteht sich, sofort auf. Es war Donnerstag und ich hatte weiter nichts zu tun. Ich war arbeitslos. Nach dem Frühstück ging ich in Annahmestelle, suchte eine Schein mit der bewussten Superzahl heraus und kreuzte Onkel Willis Zahlen gleich auf vier Feldern an. Sicher ist Sicher.
Dann wartete ich, wie man sich denken kann, sehnsüchtig und voller Spannung auf die Ziehung am Samstag Abend. Und vertrieb mir die Zeit, indem ich mir ausmalte, was ich mit dem sagenhaften Reichtum machen würde. Im Jackpot waren 12 Millionen.
Die Ziehung kam. Und die Zahlen stimmten hinten und vorn nicht, nur eine einzige war richtig. Natürlich war ich enttäuscht. Andererseits hatte ich auch nicht wirklich ernsthaft damit gerechnet. Wie heißt es so schön: Träume sind Schäume.
Ein paar Nächte später ging ich im Traum durch eine Straße, die ich nicht kannte. Da sah ich gegenüber dieses Restaurant und ging hinein. Tatsächlich: Onkel Willi saß an dem selben Tisch. „Setz’ dich“ sagte er. „Ich dachte schon, du kommst nicht mehr. Ich habe nicht viel Zeit.“
Er grinste. Onkel Willi war immer ein Spaßvogel gewesen. Einige seiner Scherze waren in Familienkreisen berüchtigt.
„Du hast mir die falschen Zahlen gegeben!“ sagte ich bitter. „Du hast mir einen ganz üblen Streich gespielt!“
„Aber nicht doch. Die Zahlen sind schon richtig – ich habe nur nicht gesagt, wann. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, ein Datum genannt zu haben. “
„Und warum nicht?“ fragte ich empört.
„Du hast nicht gefragt“ sagte er.
„Ha! Du hattest es doch auf einmal so eilig, dass ich kaum noch die Superzahl mitgekriegt habe. Ich hatte ja gar keine Gelegenheit mehr..!“
„Stimmt. Und deswegen bin ich ja hier. Obwohl - “ er hielt inne und wandte lauschend den Kopf „ich glaube, sie suchen schon wieder nach mir. Hörst du nicht auch..?“
Während er das sagte, hörte ich in der Ferne das Geräusch einer Sirene. Es kam näher. Es war ein Feuerwehrwagen, nein, ein ganzer Konvoi von Löschzügen, der genau unter meinem Fenster vorbeipreschte. Natürlich war ich sofort wach.
Nun ja, was soll ich sagen: Das Ganze ist Monate her. Und seitdem habe ich nie wieder von Onkel Willi geträumt, so sehr ich mich auch bemühte. Ich hoffe nur, es geht ihm gut, da wo er jetzt ist. Wo immer das auch sein mag.
Jedenfalls kreuze ich weiterhin das an, was er mir gesagt hat. Aber nur zwei Kästchen. Für die anderen nehme ich andere Zahlen.
Man kann schließlich nie wissen.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Rainer Jaeger).
Der Beitrag wurde von Rainer Jaeger auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.11.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Rainer Jaeger als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Leben zwischen zwei Welten von Helga Eberle



Vom Schwarzwald nach New York
Ein Zeitdokument, Romantik und eine Geschichte starker Frauen.

Das Leben der Schwestern Hanna und Anna
Ehrlich, spannend und berührend.
Das Schicksal von Hanna und Anna nimmt durch den Krieg und danach seinen Lauf. Oberkirch, Offenburg, Rottweil, Freiburg und New-York ist der vorgezeichnete Weg von Hanna.
Der biografische Roman ist nicht nur ein Zeitdokument, sondern er greift auch die Geschehnisse des zweiten Weltkriegs auf und stellt das Werk somit in einen allgemeingeschichtlichen Kontext.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Humor" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Rainer Jaeger

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Die große Rauschgiftrazzia von Hintersbrück von Rainer Jaeger (Krimi)
Auf ein Wort - Einfache Küchenzeile mit Wortspülen von Siegfried Fischer (Humor)
Frauenzeitschriften und ihre Titel von Norbert Wittke (Glossen)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen