Klaus Lutz

Der Arztbesuch 37


Ich und das Leben. Ich und die Welt.  Ich und dieser
Körper. Ich und die Freiheit. Ich und die Stille. Ich
und der Frieden. Ich und die Liebe. Ich und Gott. Ich
und der Himmel. Ich und das Reisen. Und das war ich.
Und das war alles für mich. Ich hatte einen Sinn. Die-
ses Ich und Ich und Ich hatte einen Sinn. Dieser Egois-
mus von mir, war kein Egoismus. Dieser Egoismus
von mir, war das Entdecken von dem, was auf dieser
Welt bleibt. Das Entdecken von dem, was jedem Mensch 
auf dieser Welt bleibt. Es war das Entdecken des Lebens.
Das Entdecken, das es noch ein Abenteuer geben kann.
Das Entdecken, das es noch Menschen gibt. Andere
Menschen. Die Menschen, die mehr sind als ihnen das
Fernsehen eintrichtert. Oder das, was ihnen von irgend-
welchen Bildungsfabriken eigehämmert wird. Das Reisen
und das Entdecken: "Es gibt noch Menschen mit eigenen
Ideen!" Es gibt noch Menschen mit einem ganz eigenen
Leben!" Es gibt sie noch. Die Menschen, die dass Leben
noch erfahren. Die Menschen, die noch etwas erleben.
Die Menschen, die noch wissen wollen was das Leben ist.

Und all das begann in Mainz. Es stimmt, ich war immer
ein Einzelgänger. Ich war immer allein. Also ich habe,
in Mainz, meine Zeit im Wesentlichen mit Lesen und
Spazieren gehen verbracht. Aber ich hatte auch einige
Bekannte. Meistens Menschen, die ich aus der "Pinte"
kannte. Das absolute Lieblingslokal von mir: "Die
Pinte!" Und meisten kannté ich da Menschen, die ein-
fach in Ordnung waren. Mit denen ich Schach spielen
konnte. Oder mit denen ich auch mal plaudern konnte.
Es war wirklich dieses Gemisch in diesem Lokal. Das,
was so harmoniert hat. All die Menschen die sich dort
trafen: "Arbeiter! Studenten! Akademiker! Angestellte!
Beamte!" Das war es. Oder das war die Atmosphäre der
Offenheit. Das, war die Atmosphäre in der alles gesagt
und gedacht werden konnte. Das, war so die Atmosphäre
von einem Abenteuer. Die Atmosphäre, in der sich immer
Neues ergab. Die Atmosphäre, mit der das Leben eine
Entdeckungsreise war. Das war: "Die Pinte!" Musik Ge-
spräche. In Ruhe nur da sitzen können. Respekt und
gegenseitige Achtung. Und Mainz war natürlich auch
der Künstlerfreund von mir: "Volker Erich Ari Achin
Erasmus Ruhland!" Das war Mainz. Die Entdeckung ein-
es anderen Lebens. Mit anderen Ideen. Mit einem an-
deren Wissen. Mit anderen Menschen. All das, mit dem
ich da zusammentraf. Oder das, was sich so ergab.
Oder das, was das Leben war: "Das war Göttlich!"

Ich weiß, heute wo ich in diesem Kerker bin. Gefang-
en und gequält. Erniedrigt und Gedemütigt. Zerstört
und am Ende. Heute weiß ich es. All diese Jahre in
Mainz waren Es. Sie waren die Entdeckung der Frei-
heit. Die Entdeckung von dem, mit dem ich auch die-
ses Gefängnis aushalte. Ich weiß, wenn ich von den
Spaziergängen von mir erzähle. Von den Spaziergängen
am Rhein. Von den Besuchen im Dom. Oder den Besuchen
in Cafes. Oder in Kaufhäusern. Oder auf Plätzen. Dann
ist das immer ein Monolog. Aber es gab im Wesentli-
chen niemand. Ich war immer allein. Und das war die
wichtigste Entdeckung von mir. So wie ich gelebt habe,
konnte ich auch nur leben: "Völlig ungebunden!" Nur
immer im Gespräch mit mir. Nur immer im Gespräch mit
der Welt. Immer mit den Gedanken dort, wo es die
höchst mögliche Freiheit für mich gab. Immer das
Leben als Entdeckung und Reise. Mit all dem, was das
Leben hat. Mit allen Gedanken. Mit allen Träumen.
Mit allen Zielen. Mit allem was ich wollte. Das war
es: "Das Leben, das mr alles gab! Das Leben, mit dem
ich alles hatte!"

Einmal bin ich in Pakistan im Zug gereist. Und zwei
Frauen sassen aus versehen im Männerabteil. Sonst
gab es schlicht und ergreifend nirgendwo mehr Platz.
Und all die Männer feindeten sie irgendwie an. Ich
war der einzige Europäer in diesem Abteil. Und der
einzige Grund, warum Sie dieses Abteil nicht verlas-
sen mußten. Sie sprachen Englisch. Und ich erfuhr
alles aus dem Leben von Ihnen. Für Stunden waren es
die besten Freunde, die ich hatte. Es gibt so etwas
gerade auf Reisen. Es begegnen einem Menschen. Und
irgendwie ist die Situation so, dass sie alles er-
zählen. Alles, was das Leben von ihnen ist. Oder war.
Es ist dieser Augenblick. Danach sind sie für immer
verschwunden. Und gerade das ist es. Dieses Wissen:
"Du begegnest Jemanden. Danach siehst Du ihn nie wie-
der. Also las diese Zeit nur Wahrheit sein!" Und die-
se Wahrheit in der Form, gibt es nirgendwo sonst.
Sie gibt es nur auf Reisen. Ich begegne jetzt ein-
em Menschen. Dann, in einigen Stunden ist er wieder
woanders. Aber diese Begegnung war das Leben pur.
Die Klarheit, die es nur so gibt. Wenn Menschen nur
sich besitzen wollen. Wenn Menschen nur leben wollen.
Wenn Menschen nur das Leben wollen. Dann gibt es
Wahrheit. Dann gibt es Leben. Das ist das Leben. Das
Leben, wenn es eine Reise ist. Dann ist es nur Leben.
Dann ist es nur Wahrheit. Und die Entdeckung dieser
Wahrheit war Mainz. Der Beginn von etwas völlig und
ganz Neuem.

Heute wo ich in dieser Zelle sitze. Wegen Verleumdun-
gen und Lügen. Wegen Korruption und Falschheit.
Heute ist es mir wieder klar. Heute weiß ich es wie-
der, was die Freiheit ist. Die Freihheit ist nichts
anderes als die Wahrheit. Heute wo ich nur noch ein
alter, perverser, kaputter Mann bin! Weiß ich es wie-
der, was die Wahrheit ist. Heute wo ich ein Gefangen-
er bin, weiß ich es wieder was die Freiheit ist. Und
ich sehe es auch wieder klar, was die Liebe sein
könnte. Heute mit einem Körper, der nur noch Fett ist.
Heute mit einem Geist, der nur noch an das Fressen
denkt. Heute mit diesem Leben, das nur noch schwabbeln
ist. Heute wo ich 250 kilo wiege. Heute mit diesem
fett, mit dem ich unbeweglich bin. Heute in diesem
Kerker, mit dem ich ein Gefangener bin. Heute sehe ich
wieder so vieles klar. Heute weiß ich es wieder: "Das
Leben ist mehr als Tiramisu! Das Leben ist mehr als
Torte. Das Leben ist mehr als Berge von Schnitzel.
Das Leben ist mehr als masturbieren und Sexheftchen!"
Es ist unendlich viel mehr. Und all das hatte ich
auch mal. Das ganze Leben. Das Leben, das so unend-
lich viel mehr ist.

Aber etwas ist falsch gelaufen. Ich war mir zu sicher.
Das Denken hat einfach nicht mehr gestimmt. Eine Por-
tion Tiramisu mehr. Ein Kilo mehr: "Was solls!" Ein
stück Torte mehr. Ein Kilo mehr: "Was solls!" Ein Schnit-
zel mehr. Ein Kilo mehr: "Was solls!" Eine packung Plätz-
chen mehr. Ein Kilo mehr: "Was solls!" Eine Tütte von
Chips mehr. Ein Kilo mehr: "Was solls! Und das war es
dann am Ende. Das war am Ende dieser Körper mit
250 Kilo. Es war einfach dieses Denken: "Was solls!"

Aber, so ging es dann weiter mit diesem Leben. Eine Pro-
stituierte mehr, was solls. Ein Porno Film mehr, was
solls! Eine Stunde nur Nudes im Internet ansehen, was
solls. Und das war ich dann. Geistig am Ende. Aber
was solls? Mit der Phantasie am Ende. Aber was solls?
Mit meinen Plänen am Ende. Aber was solls? Mit mein-
en Interessen am Ende. Aber was solls? Am Ende war mir
alles egal. Das, was in der Politik geschieht, war mir
egal. Das, was mit der Umwelt geschieht, war mir egal.
Das ich mich hätte irgendwo engagieren können, war mir
egal. Das mir alles nur noch gleichgültig war war mir
egal. Das ganze Leben von mir war nur noch eins: "Was
solls? Was áuch kommt. Was solls? Was auch aus mir
wird. Was solls? Auch deswegen, bin ich in dieser Zelle.
Auch deswegen, habe ich alles an Dummheit über mich er-
gehen lassen. Ich habe mir einfach gesagt: "Was solls?"
Auch deswegen bin ich ein Gefangener. Es waren die
Lügen: "Von falschen Freunden! Von dummen Nachbarn!
Von kleinkarierten Menschen!" Ich habe das alles nur er-
tragen. Ich habe mir nur noch gesagt: "Was solls?" Des-
wegen sitze ich hier. Hinter diesen Mauern. Endlos
gedemütigt. Von Meineiden und falschen Aussagen und
Verrückten gekreuzigt. Das ist es. Und das alles nur
wegen dem Einen. Ich habe mir nur noch gesagt: "Was
solls?" Dabei bin ich es: "Ich bin die Wahrheit! Ich
bin die Schönheit! Ich bin das Leben! Ich bin die Sonne!
Ich bin der Himmel! Ich bin das Glück! Ich bin der
Frieden! Ich bin der Mensch! Das Licht! Die Güte! Die
Hoffnung! Das bin ich. Aber es war der Neid um mich
her, den ich zu spät erkannt habe. Und dieser Neid
war es. Dieser Neid war all die Lügen, die nun die-
ser Kerker sind. So ist es!

Aber, deswegen gibt es auch heute diesen Tag. Denn, es
ist heute dieser Tag. Dieser Tag wird es sein. Dieser
Tag wird mein Leben sein. Mein Leben, mit dem ich ein
neues Leben beginne. Ich werde es der Welt zeigen. All
die Liebe, die ich habe. All die Liebe, auf die diese
Welt wartet. Ich werde es der Welt zeigen. Ich bin wie-
der da. Und dieses dasein wird mein neues Leben sein.
Und dieses Leben wird mehr sein als: "Was Solls?" Ich
werde mich wieder erinnern. An das Leben, wo etwas neu-
es begann. Ich werde mich wieder an Mainz erinnern.
An endlose Spaziergänge. An nette Gespräche. An den
Künstlerfreund von mir. Und an die Pinte. An all das
werde ich mich wieder erinnern. Und diese Erinnerung
wird es sein: "Das Leben!" Mit dem ich noch einmal
neu beginne. Ich werde wieder Leben. Ich werde wieder
denken. Ich werde wieder fühlen. Ich werde wieder
leben. Ich werde wieder Freunde besitzen. Ich werde
wieder Gespräche führen. Ich werde wieder geliebt.
Ich werde wieder leben. Ich werde wieder Farben sehen.
Ich werde wieder Worte verstehen. Ich werde wieder
Gedanken besitzen. Ich werde wieder Leben. Ich werde
wieder Frei sein. Ich werde wieder Reisen. Ich werde
wieder die Welt sehen. Ich werde wieder Leben. Ich
werde wieder Mensch sein und mich auch so verhal-
ten. Ich werde wieder Leben und mich auch so verhal-
ten. Ich werde wieder verstehen und mich auch so ver-
halten. Ich werde wieder Leben! Welt ich bin wieder da.
Freunde ich bin wieder da. Liebe ich bin wieder da.
Ich werde wieder leben!

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.10.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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