Karin M. Gericke

Der dreizehnte Schlag

So stand sie da. Sie überlegte was denn noch fehlte, doch es wollte ihr nicht einfallen. Irgendwas musste fehlen. Irgendwas war noch nicht da, was da sein musste. Aber sie wusste nicht was. Sie fühlte es nur. Ihr Bauch sagte ihr das. Ihr Kopf überlegte. Aber es wollte ihr nicht einfallen. Sie rückte noch einmal die Teller in die rechte Position und faltete die Servietten gerade. Er sah ihr dabei zu. Er liebte es ihr zuzusehen, wenn sie alles schön machte. Wenn sie sich schön machte. Wenn alles ordentlich war. Doch heute war es nicht für ihn. Heute tat sie das alles nicht für ihn, heute war es für jemand anderes bestimmt. Bitte spül noch einmal die Gläser, sagte sie. Du weißt doch, sie mag, wenn alles sauber und ordentlich ist. Und leg ihre Lieblings CD ein, du weißt die, die sie so gern hört. Ich werde mich etwas frisch machen und das Parfum auflegen, was sie mir geschenkt hat. Du weißt, sie hat schenkt mir gerne Sachen, ich bin ja schließlich immer ihr kleiner Engel. Das kann sie ja nicht vergessen. Das wird sie nicht vergessen. Wie auch? Ich bin doch ihr kleiner Engel.
 
Er stand nur da und rührte sich nicht. Er war wie versteinert und sie sah einen farblosen Tropfen auf seine Wange. Doch sie müsse sich jetzt um sich kümmern. Sie wollte perfekt sein. Das wollte sie immer. Das war sie immer. So sollte das auch heute sein. Für sie. Ganz allein für sie.
 
Sie ging ins Bad und sah sich in dem runden Spiegel. Ihre Augen waren rot unterlaufen. Sie war abgemagert. Obwohl sie so gern kochte. Sie aß so gern gemeinsam mit ihr. Doch trotzdem war sie mager. Sie hatte lang nicht mit ihr gegessen. Warum, konnte sie nicht sagen. Aber sie würde wieder essen, denn sie wusste, dass sie es hasste, wenn sie mager aussah.
 
Ein Schwindel durchfuhr ihren Körper. Sie musste sich am Waschbecken festhalten. Sie umklammerte es. Fest. Um den Druck im Herz zu unterdrücken. Immer fester, bis die Fingerknochen weiß wurden und ihre Hand begann zu schmerzen. Sie atmete schnell. Sie musste sich zusammen reißen. Für ihn. Doch vor allem für sie. Sie sagte ihr immer, man müsse stark sein, denn nur die Starken, würden es einmal zu etwas bringen. Sie wusste, dass sie stark war. Das sagte sie ihr immer. Und das würde sie auch jetzt sein.
 
Sie ging zurück ins Esszimmer. Er saß am Tisch und sah sie mit großen Augen an. Er hatte die CD eingelegt, dafür zwang sie sich zu einem Lächeln. Für ihn. Er hatte es schließlich verdient. Er nahm ihre Hand und zog sie an sich heran. Doch sie wollte nicht. Sie musste das Essen machen, denn sie würde gleich da sein und dann sollte alles fertig werden. Sie entriss sich seinem Handgriff und ging in die Küche. Es roch so lecker. Es war ihr Lieblingsessen: Schweinebraten mit Sauerkraut und Kartoffeln dazu. Sie liebte Kartoffel. Auch wenn sie Kartoffel nicht mochte, für sie kochte sie sie trotzdem.
 
Die große Uhr im Wohnzimmer schlug. Dong. Dong. Dong. Dong. Jeder Klang war wie ein Schuss aus einem Jagdgewähr, mitten in ihr Herz. Sie wusste, dass es gleich so weit sein würde. Gleich würde sie kommen. Doch irgendwas fehlte. Irgendwas war immer noch nicht da. Irgendwas, musste sie noch machen. Nur was? Was war es?
 
Noch einmal zupfte sie an ihr Kleid. Es war das Kleine rosane, das sie ihr einmal geschenkt hatte. Sie liebte es, wenn sie rosa trug. Das sei die Farbe der Engel, sagte sie immer. Jeder Engel würde rosa tragen, wenn er erst einmal dort angekommen ist.
 
Und heute sollte es gut liegen. Heute sollte es perfekt sein. Er trug schwarz. Sie hatte ihn zu einem rosa Tuch überreden können. Dies blinzelte nun aus der kleinen Tasche, an seiner linken Brust hervor. Sie wollte, dass er auch rosa trug. Es war schließlich die Farbe der Engel. Doch er sagte, das würde nicht gehen.
 
Man müsse schwarz tragen an so eine Tag. Ja dieser Tag wäre da, um schwarz zu tragen. Sie verstand das nicht. Aber sie wollte ihn nicht verärgern. Er war schließlich immer da. Vor allem jetzt.
 
Dong. Dong. Beim dreizehnten Dong schrak sie zusammen. Sie konnte nur zwölf Mal schlagen. Es gab keine dreizehn Schläge. Immer nur zwölf. Sie hatte immer nur zwölf Mal geschlagen. Das war schon so, als die große hölzerne Uhr noch bei ihr stand. Immer zwölf. Nie mehr.
 
Ich werde zur Tür gehen, es hat geläutet, sagte er. Die Tür war es also. Die Tür war der dreizehnte Schlag. Die Türklocke schellte wieder. Nein, ich werde gehen. Ich muss sie empfangen. Sie möchte, dass ich sie empfange. Das weiß ich. Das war schon immer so.
 
Das soll so bleiben. Er nickte ruhig. Sie sah, dass sein Mund zitterte. Als wolle er was sagen. Als wolle er etwas erklären. Als wolle er sie abhalten. Oder wusste er, was sie noch vergessen hatte? Jetzt war es eh zu spät. Jetzt war sie bereits da.
 
Sie versuchte ihre Beine zu bewegen. Es war als würde sie Gewichte heben. Sie brauchte ihre gesamte Kraft, doch die brachte sie auf. Für sie. Denn sie war nun schließlich da. An der Tür angekommen, umklammerte sie den Türgriff. Für üblich sah sie erst durch das kleine Loch, in der Tür, um zu sehen, wer vor der Tür stand. Doch heute nicht. Heute wusste sie, wer da draußen stand. Heute würde sie nicht dadurch gucken. Heute würde sie einfach aufmachen.
 
Und so entsperrte sie die Tür mit dem steckenden Schlüssel, drückte vorsichtig die Türklinke hinunter, öffnete die Tür einen Spalt und sah den Mann in seinem schwarzen Gewand. Seine Hände waren gefaltet, sein Blick war leer.
 
Es ist nun alles vorbereitet, sagte er. Sie können sie nun sehen. Ich werde sie in die Kapelle begleiten. Und vergessen sie nie. Sie trägt nun jeden Tag die Farbe der Engel, denn sie ist angekommen.
 
Written by Karin M. Gericke
 

 

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