Jürgen Berndt-Lüders

Gefühle

Die aktuelle Folge der Daily Soap war abgedreht. Regisseur Werner Leibnitz verließ als letzter das Studio und winkte grüßend dem Pförtner zu. Das blecherne Tor öffnete sich und Werner trat aufs Studiogelände.

 

Ein scharfer Wind fegte die Reste der vergänglichsten der Requisiten wie Papier, Stofffetzen und Pappen durch die Schluchten zwischen den Hallen. Werner fror und hatte Hunger, und nichts konnte ihn davon abhalten, schnellstens eine Pizza an der Ecke herunter zu schlingen und dann ab nach Hause und ins Bett. Seine Katze würde ebenfalls Hunger haben und warten.

 

Morgen würde die nächste Folge dran sein.

 

Aus einem der Eingänge, die zu nichts führen als zur Rückseite einer Kulisse, löste sich die Gestalt einer jungen Frau. Sie presste etwas an sich, so wie eine liebende Mutter ihr Kind an sich presst, wenn sie es schützen will.

 

„Herr Leibnitz, ich bin eine Kollegin“, rief die junge Frau erwartungsvoll, aber zurückhaltend. Wie eine, die damit rechnet, stehen gelassen und ignoriert zu werden.

 

„Schön“, sagte Werner und setzte sein routiniert-freundliches Lächeln auf, dass er an die hundert mal am Tage aufsetzte, wenn er Kollegen begegnete, die etwas von ihm wollten. „Bringen Sie mir etwas?“

 

„Ich habe ein Drehbuch geschrieben“, sagte sie, und entwickelte schon ein wenig mehr Zuversicht. Wenigstens war er bereit, ihr zuzuhören „Sie brauchen doch Drehbücher.“

 

Werner lachte. „Also möchten Sie eine Kollegin werden, aber Sie sind noch keine“, sagte er freundlich.

 

Sollte er sie stehen lassen? Er sah auf sein Handy. Es war spät, aber für ein kurzes, informelles Gespräch mit einer jungen Filmbegeisterten war es für Werner nie zu spät. Sehr schnell kamen diese jungen Leute zur Besinnung, wenn er ihnen die Fakten schilderte.

 

„Kommen Sie mit in die Pizzeria“, schlug er vor. „Ich lese beim Essen. Das mache ich fast immer so. Wie heißen Sie eigentlich?“

 

„Silke, und...“

 

Silke zögerte.

 

„Ja, Silke?“

 

„Können wir uns nicht duzen? Die ganze Branche duzt sich doch.“

 

Werner lachte wieder. „Klar duzen wir uns. Ich heiße Werner. Nur meine Bank sagt Herr Leibnitz zu mir.“

 

Werner aß wie immer die Pizza Calzone. Der Ober wusste Bescheid. Er brachte ein Bier.

 

„Ein Wasser“, bestellte Silke.

 

Werner las das Drehbuch an. Dass es nicht fachgerecht gegliedert war, störte ihn nicht im Geringsten, so was konnte man lernen, und ob diese Silke als Springer für sein Team geeignet war, ließ sich innerhalb von Minuten feststellen.

 

Sie würde es wohl eher nicht sein. Zu jung und zu unerfahren.

 

Werner las ein paar Szenen, stopfte sich ein Pizzastück in den Mund, blätterte ein paar Seiten voraus, blätterte zurück, trank einen Schluck Bier, und Silke starrte ihn unentwegt an. Ihre Augen folgten jeder seiner Bewegungen, ihr Kopf ging mit, wenn er den Blickwinkel änderte, und sie versuchte, seine Gedanken voraus zu ahnen.

 

Nur noch ein winziges Stück der Pizza lag auf dem Teller, als er sich ihr zuwandte.

 

„Und?“ fragte Silke gespannt.

 

„Gut geschrieben“, begann er. „Aber nicht zu gebrauchen.“

 

Silke riss die Augen auf. „Aber...“, sie schluckte, „aber wenn es gut geschrieben ist, weshalb ist es dann nicht zu gebrauchen?“

 

„Weil es routinemäßig hingehauen ist. Da fehlt die Originalität. Vergleichen können Sie es mit dem Bild eines Malers, der die Farbenlehre brillant beherrscht und trotzdem nicht begeisternd malen kann.“

 

Einem ihm unsympathischen, vielleicht konkurrierenden Autor hätte er seine Gedanken genau so geschildert, nur dass er das Wort brillant weg gelassen hätte.

 

„Erklären Sie mal genauer“, sagte sie, und nach kurzem Zögern, „wir siezen uns übrigens wieder. Ich bin wohl doch keine Kollegin.“

 

Das kam bitter.

 

Werner ignorierte das. Er spießte das letzte Stückchen auf und bestellte noch ein Bier per Handzeichen. Silke bewahrte ihre äußerlich zur Schau getragene Ruhe und imitierte Werners Handbewegung. Sie würde noch ein Glas Wasser vertragen können.

 

„Schauen Sie. Der Maler...“

 

„Scheiß auf den Maler“, unterbrach Silke unwirsch. „Sagen Sie mal richtig. Ich studiere Germanistik und habe bereits ein Buch geschrieben.“

 

Ihre Zurückhaltung war vorbei.

 

Werner lachte wieder. Er lachte gern, und er lachte vor allem, wenn er unsicher war und einen Moment zum Überlegen brauchte.

 

„Es ist ein Patchwork-Drehbuch. Sie haben lauter Szenen, die jeder Regisseur schon tausendmal gedreht hat, lose aneinander gereiht. Die Dialoge haben Sie einem Krimi entnommen, kurze, knackige Sätze formuliert, aber es ist kein Gefühl drin. Alles konstruiert.“

 

„Aber die Protagonistin leidet doch...“

 

„...sie leidet, und sie schwelgt in Gefühlen, aber es sind nachempfundene Gefühle, keine selbst erlebten.“

 

Silke brauchte einen Moment.

 

„Wie kann ein Drehbuch-Autor jeden Tag ein Drehbuch schreiben, für eine Daily Soap zum Beispiel, und wie kann er da noch Gefühle entwickeln, außer für sein Honorar vielleicht?“

 

Werner zuckte hilflos mit den Achseln. „Ich kann es nicht beschreiben. Ich spüre so was einfach. Es gibt da einen gewissen Unterschied, den man sich im Laufe der Jahre...“

 

Silke griff ihr Drehbuch und sprang auf. Ohne zu grüßen lief sie Richtung Ausgang.

 

„Ihr Wasser...“, rief der Ober und starrte ihr nach.

 

„Lassen Sie mal“, murmelte Werner. „Ich zahle das.“

 

Werner überlegte. Nach dem achten Bier begann er zu begreifen.

 

„Gefühle“, dachte er. „Gefühle hatte ich, als sie mich ansprach. Es war das Gefühl der Überlegenheit. Ich dachte, die stutzt du schnell zurecht und bist sie wieder los. Dann hatte ich keine Gefühle. Ich nagelte sie routiniert fest und glaubte, sie im Griff zu haben. Und jetzt...“

 

Werner zahlte und beschloss, ein Taxi zu nehmen.

 

„,,,und jetzt habe ich das Gefühl, dummes Zeug geredet zu haben. Gefühllos habe ich ihr Gefühllosigkeit vorgeworfen und kann nicht mal genau definieren, was ich meine.“

 

Als er in das Taxi einstieg, dachte er, dass es wohl an einem selbst läge, an der eigenen Stimmung, ob man in einem Text Gefühle entdecken könne oder nicht. Und als er die Tür aufschloss, wusste er Bescheid.

 

„Ein Text ist immer dann gefühlvoll, wenn man den Autor für gefühlvoll hält“, sagte er zu seiner Katze, für die er Gefühle hegte. „Mein Bänker hat bestimmt keine. Und ich manchmal auch nicht.“

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.05.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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