Frau Waldburger lässt ihren Tränen wieder einmal freien Lauf. Lässt ist gut. Sie fließen von ganz allein, ohne ihr Zutun, ohne jede Vorankündigung. Unaufhörlich. In dünnen Bächen über die faltigen Wangen. Frau Waldburger hat deswegen schon viele Ärzte aufgesucht, doch hat bislang keine Therapie ihren unkontrollierten Tränenfluss zu lindern vermögen.
Anfangs, wenn ein Sitznachbar bei einem ihrer seltenen Kinobesuche sie ansprach und fragte: „Warum weinen Sie? So traurig ist dieser Film doch gar nicht“ oder in der Straßenbahn ein Fahrgast besorgt sagte: „Sie haben einen großen Kummer. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, setzte Frau Waldburger noch zu Erklärungsversuchen an: „Ach, wissen Sie, eine chronische Tränendrüsenentzündung. Sehr lästig, aber nicht weiter schlimm.“
Als sie jedoch merkt, dass das Mitgefühl nach ihrer medizinischen Erklärung ganz schnell erlischt, hält sie sich mit solchen Offenbarungen lieber zurück. „Ach, darüber möchte ich nicht gerne sprechen.“ – „Danke für Ihre Anteilnahme, aber möge Gott Sie vor dem verschonen, was ich durchmachen muss.“ Oder: „Jeder von uns muss die Last tragen, die der Himmel ihm auferlegt hat.“
Während sie mit ihrem blümchenbestickten Leinentaschentuch das tränenfeuchte Gesicht abtupft, badet sie in einer Welle des Mitgefühls. Pietät und Rücksichtnahme verbieten es den Menschen, tiefer in sie zu dringen. Leid erhöht. Leid adelt. Leid macht solidarisch. Frau Waldburger genießt es, im Mittelpunkt zu stehen und bemitleidet zu werden. Das hat sie seit dem Tod ihres Mannes und dem Auszug ihrer erwachsenen Kinder nicht mehr erlebt. Sie ist überwältigt von so viel Anteilnahme. Wildfremde Frauen sprechen sie an und laden sie in Selbsthilfegruppen oder Seniorinnenvereinigungen ein. Und alle sind so geduldig, unaufdringlich, behutsam. Alle lassen ihr Zeit. Obwohl sich nicht die geringste Besserung einstellt, beklagt sich niemand. Ein schwieriger Fall, eine echte Herausforderung. Im ungünstigsten Fall eine lebenslange Aufgabe.
Frau Waldburger sucht keinen Arzt mehr auf. Stattdessen hat sie im letzten Winterschlussverkauf ihre Vorräte an blümchenbestickten Taschentüchern aufgestockt.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.01.2011.
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