Katharina Gröblinger

Ein Haus trägt Rot


 
Das rote Haus war der Puppenspieler, dessen unsichtbare Fäden die Bewohner des Dorfes Tag und Nacht verfolgten, doch anstatt  sich frei zu kämpfen, hielten alle still. Manche aus Scham oder Furcht, andere aus Schuldgefühlen oder Verachtung. Hatten sie sich einst noch ihren Spiegelbildern anvertraut, wurde im Laufe der Zeit nicht einmal mehr hinter verschlossenen Türen darüber geredet. Die Tragödie wurde tot geschwiegen und der Tod hauchte ihr aus Trotz neues Leben ein.
Selbstverständlich wusste das Haus besser Bescheid als alle anderen, doch leider besaß es keine Stimme um sich Gehör zu verschaffen. Es hätte aber auch niemanden interessiert, dass es ausgerechnet dem Puppenspieler versagt blieb, dem Spiel ein Ende zu setzen. Das Haus versuchte zumindest nach außen hin den Schein zu wahren, denn es konnte weder seinen Keller begraben, noch sein Dach wie ein blutiges Kleid abstreifen. Es war Häftling seiner eigenen Mauern und am Ende blieben ihm nur die Blicke der Dorfbewohner, die es durchbohrten wie die Kugeln einer Pistole, und die hellen Blitze von Fotoapparaten, die es blendeten wie Scheinwerfer ein scheues Tier.
 
Objektiv betrachtet handelt es sich bei dem Hauptdarsteller dieser Erzählung um ein Haus, das in einem nicht näher definierten Dorf stand. Der älteste Dorfbewohner wusste zu berichten, dass das Haus und seine roten Außenwände schon immer wie siamesische Zwillinge gewesen waren, die nicht einmal die Sonne zu trennen imstande war. Besagtes Rot, das jedem Versuch einer Beschreibung oder eines Vergleichs trotzt, provozierte von Anfang an Assoziationen mit Blut, Hass und Leidenschaft. Leider hat niemand daran gedacht, die Dorfbewohner zu warnen, dass jede Tragödie aus mehr als einem Akt besteht.
 
Während der Leser mit dem Stein des Anstoßes bekannt gemacht wurde, hat sich ein alter Mann vor dem Haus eingefunden. Der Leser hat aber nichts versäumt, denn besagter Mann hat sich noch mit keinem Wort geäußert. Er stand direkt vor dem Haus, seine Hände auf dem Rücken verschränkt. Kein Laut entkam seinen Lippen, der Blick war starr auf das Haus gerichtet. Dabei wirkten seine Augenlider fast so schwer wie die Last auf seinem Rücken. Es schien als würde er den Ausweg aus dem Labyrinth seiner Erinnerungen nicht finden.
Wie lange es etwa schon her sein mag, dachte er, ich kann mich gar nicht mehr erinnern. Ich muss dreizehn oder vierzehn Jahre alt gewesen sein, ja genau, ich ging schon in die Hauptschule, die Klasse von Frau Müller, eine schöne Frau, und der Franz war mein Sitznachbar, was für ein Trottel, habe ich mir noch gedacht, der kann weder richtig sprechen noch ordentlich gehen, ein Krüppel. Mein Gott, dumm und nichts ahnend wie wir waren, wir haben ihn gehänselt, gehänselt und Steine nach ihm geworfen, ihn angespuckt, mein Gott, wir waren Kinder und dumm, wir waren nur Kinder, ohne an ein Morgen oder Gestern zu denken.
Der Mann wandte seinen Blick vom Haus ab, starrte mit den toten Augen einer Statue auf den Asphalt unter seinen Füßen. Stille. Kein Laut, kein Gedanke. Stille auf der Straße und Stille im Karussell der Vergangenheit. Er bewegte seinen Kopf vorsichtig nach links und dann nach rechts. Niemand war zu sehen, er war alleine.
Wir haben es nicht gewusst, niemand hat es gewusst. Wir waren nur Kinder, wir haben ihn heimwärts getrieben, wie Mäuse die Katze zum Hund, er rannte nach Hause, die Tür, dann nichts mehr, Kinder, Kinder, nur Kinder, Jahre und Jahrzehnte, das Rad dreht sich weiter, aber er ging nach Hause und unsere Steine schliefen für immer, mein Gott, Vergebung, wir waren dumm und Kinder.
Der alte Mann unterbrach seinen Gedankenstrom um tief einzuatmen. Er wollte sich auf offener Straße keine Blöße geben und ermahnte  sich daher zum Weitergehen. Nachdem er sich bekreuzigt hatte, setzte er seinen Weg langsamen Schrittes fort.
 
Während der alte Mann mit den Geistern der Vergangenheit rang, wurde sein Rücken regelrecht von fremden Blicken durchlöchert. Im Haus hinter ihm stand eine junge Frau am Küchenfenster. Sie beobachtete ihn kopfschüttelnd, ein Glass Orangensaft in der Hand. Ihr Blick verriet Mitleid, Unverständnis und Langeweile. Wie jeder im Dorf kannte auch sie den Mann, der jeden Tag auf seinem Spaziergang an dem Ort des Geschehens vorbeikam, und die Geschichten, die sich wie ein Tornado um das Haus drehten. Ihre Generation hatte aber nichts übrig für den Staub und die Schuld vergangener Tage.
Ihre Mutter, die in die Küche gekommen war um das Mittagessen zuzubereiten, wurde neugierig und gesellte sich zu ihr ans Fenster.
„Nur der Alte wieder“, spottete die Tochter.
„Lass es gut sein. Er ist alt, vielleicht hilft es ihm. Im Alter wiegt die Last oft noch schwerer als in der Jugend“, erklärte sie ihrer Tochter. „Der arme Teufel gibt sich die Schuld. Diese ganze Geschichte hat sein Leben zerstört und doch ist er nie von dem Haus losgekommen.“
„Mein Gott. Solche Sachen passieren eben, schlag die Zeitung auf. Es ist doch immer das gleiche und die Erde dreht sich trotzdem weiter um die Sonne“, bemerkte diese beiläufig und trank einen Schluck Saft.   
„Aber nicht vor deiner Haustür!“, entgegnete die Mutter. Sie hatte Mühe ihre Stimme im Zaum  zu halten. „Schon gar nicht Menschen, die du gekannt hast.“
„Oder auch nicht“, murmelte sie fast unhörbar.  
„Was hat er noch mal schnell mit der Jüngsten gemacht?“, fragte die Tochter spöttisch. Sie grinste siegessicher und stellte ihr leeres Glas ab.    
„Ein bisschen mehr Respekt, mein Kind. Ich will diese Geschichten nicht mehr hören und schon gar nicht deine dummen Kommentare.“ Die Mutter knallte den Topf auf die Herdblatte. Ihr Gesicht glühte vor Wut.
„Weißt du, die Geschichten in der Zeitung sind immer schwarz und weiß, aber dieses Haus steht direkt vor unserer Tür.“
Die Provokationen von Seiten der Tochter hatten noch nie ihr Ziel verfehlt und trieben die Mutter regelmäßig an ihre Grenzen. Sie holte tief Luft um sich wieder zu beruhigen. Die Tochter hingegen verließ beleidigt den Raum.
Die Mutter trat erneut ans Fenster. Sie öffnete es, schaute nach links und rechts, konnte den Mann aber nicht mehr sehen. Das Haus streifte ihren Blick wie ein rostiger Nagel. Sie dachte kurz an das Mädchen von gegenüber, das sie zum letzten Mal in einem roten See schwimmend gesehen hatte. Sie schloss das Fenster, losch das Bild in ihrem Kopf und verließ die Küche. Der leere Topf wartete noch immer auf der Herdplatte.    
 
Pünktlich um 12 Uhr meldete sich der Kirchturm zu Wort und für kurze Zeit erlösten die lauten Kirchenglocken die Luft von der drückenden Stille. Der junge Mann, der einsam und verlassen durch die menschenleeren Gassen des Dorfes streifte, hatte aber nichts übrig für die Stille. Er schaute nicht einmal nach rechts oder links, sondern ging auf schnellstem Wege zu besagtem Haus. Es war nicht schwer ihn als Tourist zu enttarnen.
Als er vor dem Haus angekommen war, nahm er sofort seine Kamera zur Hand. Er schaltete sie ein und ging näher an das Haus heran, doch bevor er sich versah, stellte sich ihm der alte Zaun in den Weg. Die Lücken im Zaun waren erst kürzlich wieder von der Polizei mit Absperrbändern ausgebessert worden, was ein Durchkommen unmöglich machte. Er ging stattdessen vor dem Haus auf und ab um einen Blick in das Innere zu erhaschen, doch er bekam nur die schmutzigen Fensterscheiben zu Gesicht. 
Er nahm ein Buch aus der Innentasche seiner Jacke zur Hand und schlug es zielsicher auf einer ganz bestimmten Seite auf. Während er darin las, sezierte er das Haus mit seinen Blicken, aber er wurde dem schnell überdrüssig und das Buch verschwand wieder in seiner Jackentasche. Die Absperrbänder an der Tür tanzten im Wind wie weiße Fahnen nach einer verlorenen Schlacht.  
Der Blick des jungen Mannes blieb noch eine Zeit lang an den roten Wänden des Hauses hängen. Sein Gesichtsausdruck ließ erahnen, dass die Sensationslust, die ihn ursprünglich an diesen Ort gelockt hatte, Platz machte für Demut und Mitgefühl. Das Rot des Hauses irritierte ihn sichtlich und ließ seinen Blick wiederholt abschweifen. 
Rot wie die Liebe. Rot wie der Hass. Rot wie das Feuer. Rot wie das Blut. Rot wie die Leidenschaft. Die Farbe Rot ist wie der Tanz einer Münze auf einem Drahtseil. Man weiß nie, für welche Seite sie sich entscheiden wird, da einfach zu viele Faktoren im Spiel sind. Die Farbe Rot ist wie die Suche nach Antworten, deren Fragen längst das Weite gesucht haben. Was am Ende des Tages übrig bleibt, sind die Schatten der Antworten, denen man nie in die Augen wird blicken können.
 
Der junge Mann rieb sich die Augen, drehte sich um und ging denselben Weg zurück, den er gekommen war. Er hatte ganz vergessen ein Foto zu machen.
 
 
  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.08.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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