Manfred Bieschke-Behm

Die Angst vor dem leeren Blatt Papier



Es schmerzt den Schriftsteller Reinhold Möbius, seit einer Stunde auf ein leeres Stück Papier zu starren. Er spürt, Seelenqual, die von Minute zur Minute größer wird und Besitz von ihm ergreift. Mindestens zehn Seiten wollte er heute schreiben. Reinhold Möbius hofft auf eine göttliche Eingabe. Vergeblich! Er fängt an, seine Schreibfähigkeit zu zweifeln. Schlimmer noch. Er glaubt, dass er von seiner Fähigkeit schreiben zu können, auf Dauer verlassen wurde. Plötzlich empfindet der Schriftsteller das Schreiben als Qual. Wütend und gleichzeitig enttäuscht legt er den Bleistift ab, rauft sich die Haare und entrückt seinem Stuhl und sich vom Schreibtisch. Die Nähe zum unbeschriebenen Blatt Papier kann er nicht ertragen.
Voller Missmut schaut Reinhold Möbius durch die nicht ganz sauberen Scheiben seines geschlossenen Fensters. Er blickt auf Baumkronen, die dabei sind ihr Laub einzufärben und abzuwerfen. Er schaut auf sich hin und her bewegende Äste,und glaubt, sie würden ihm Mut zuwinken.
Die große Standuhr hat ihr gleichmäßiges tack-tack eingestellt. Nun ist es im Zimmer totenstill. Die für Reinhold Möbius unerträgliche Lautlosigkeit lässt ihn glauben, ersticken zu müssen. Nachdem er gierig nach Luft ringt, öffnet er endlich das Fenster. Fest den Boden spürend, mit ausgebreiteten Armen, die Hände gegen der Fensterrahmen gelehnt, genießt er die frische, kühlende Luft. Der Schriftsteller hört dem den Wind zu, der durch die Baumkronen weht, und riecht das absterbende Laub, das einen Hauch von Abschied nehmen beinhaltet.
Auffällig lautes Vogelgezwitscher dringt an das Ohr von Reinhold Möbius. 'Haben sich die Vögel, bevor sie in den warmen Süden fliegen, noch einmal zusammengetan, um letzte Verabredungen zu treffen?', fragt er sich. 'Oder haben sie sich einfach viel zu erzählen?'  
Ein Vogel löst sich aus der Gruppe und fliegt davon. Geradewegs am Reinhold Möbius Gesicht vorbei. Er schaut dem Vogel nach, bis dieser in den mit grauen Wolken dicht behangenen Himmel im Nirgendwo verschwindet.
Zufrieden schließt Reinhold Möbius das Fenster, rückt den Stuhl zurecht und setzt sich an seinen Schreibtisch. Das leere Blatt Papier hat seinen Schrecken verloren. Die Schreibblockade ist wie weggeflogen. Gerade so, wie der zwitschernde Vogel der dabei ist seinem Ziel entgegen zu fliegen.
Reinhold Möbius nimmt seinen Bleistift in die Hand und fängt an zu schreiben. Seite für Seite. Am Ende zählt er die beschriebenen Seiten und erfährt, dass es vierzehn Seiten sind, denen er seine Gedanken und Worte anvertraut hat. Sein Roman trägt den Arbeitstitel 'Das unbekannte Ziel'.
 

 
 

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