Germaine Adelt

Hilflos

    Sie hatte ihn schon kommen sehen da sie, wie jede Nacht, aus dem Fenster starrte. Auf Zehenspitzen eilte sie zur Tür um sie zu öffnen. Zwar war sie, wie so oft, allein in der Wohnung aber sein Klingeln sollte nicht die Nachbarn aufschrecken. Als das Licht im Treppenhaus anging, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Sie hatte Angst und wusste nicht was sie von alledem halten sollte. Wie oft hatte er Dummheiten angestellt, ohne daran zu denken, welchen Ärger dies einbrachte. Ärger, den sie dann immer mit ausbaden musste. Mühsam stapfte er die Stufen hoch, mit der linken Hand zog er einen Koffer hinter sich her. Dann blieb er stehen und sah sie einfach nur an.

„Was tust du hier?“, fragte sie ungewollt scharf. Als bei ihm sofort die Tränen liefen, tat es ihr fast schon wieder leid.

„Ich wollte doch nur zu dir“, schluchzte er leise.

„Schon gut“, flüsterte sie, „aber das geht nicht.“  Auch sie kämpfte mit den Tränen, aber weinen nutzte nichts. Das hatte sie in den letzten Wochen gelernt.

„Ich gehe nicht mehr zurück!“, sagte er trotzig.

„Aber hier kannst du auch nicht bleiben.“

„Ich weiß“, entgegnete er entschlossen. „deshalb werden wir durchbrennen.“

„Wir brennen was?“

„Hab’ ich aus dem Fernsehen. Das sagt man, wenn Mann und Frau zusammen weggehen. So weit weg, dass sie niemand mehr findet.“

„Wir sind nicht Mann und Frau!“

„Ist mir egal!“, fluchte er und fing an hemmungslos zu weinen. Noch nie hatte sie ihn so sehr weinen sehen und sie hasste die Welt da draußen. Diese Welt die zuließ, dass man ihm das antat.

„Ich will bei dir bleiben“, schluchzte er, „Ich will einfach bei dir sein, so wie früher.“

So gern wollte sie ihn in den Arm nehmen. Aber sie konnte nicht zu ihm. Hatte sie doch versprechen müssen, die Wohnung nicht zu verlassen. Er konnte auch nicht zu ihr. Hatte sie doch versprechen müssen, niemanden rein zu lassen. So stand sie verloren im Türrahmen, im Niemandsland.

„Du musst zurück“, bettelte sie, „bevor noch jemand etwas merkt.“

„Lass uns zusammen weggehen“, flehte er.

„Das geht nicht. Wo sollen wir denn hin?“

Es war sinnlos. Man würde sie bald finden und sie wusste, man würde ihr die Schuld an allem geben. So wie man ihr immer die Schuld gab. Hatte man ihr doch die Last aufgebürdet für ihren kleinen Bruder verantwortlich zu sein, obwohl sie kaum älter war.

„Er will umziehen“, schluchzte er, „und ich muss mit.“

Diese Nachricht traf sie unerwartet, hilflos klammerte sie sich an den Türrahmen. „Wann?“

„Schon nächste Woche. Wir werden uns nie wieder sehen. Ich werde woanders eingeschult. Ich wollte doch so gern mit dir zusammen zur Schule gehen.“

Ihre Knie wurden weich. Ein beängstigendes Gefühl.

„Sag doch was!“, forderte er. „Was sollen wir tun?“

„Wir können nichts tun“, flüsterte sie.

Wieder fing er an zu weinen und klammerte sich an sie. So wie früher, wenn er ihren Trost brauchte und sie ließ ihn gewähren.

„Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?“, fragte er leise. „Ich habe so Angst allein in der Wohnung.“

Sie wusste zu gut, wovon er sprach. Aber sie durfte es ihm nicht erlauben. 

„Das geht nicht. Mutti kommt noch heute Nacht zurück.“

„Vati kommt erst zum Frühstück, wir könnten doch ...“

„Nein, wir können nicht!“, unterbrach sie ihn schroff.

   „Komm mit mir!“, bettelte er erneut. Aus seiner Hosentasche holte er Banknoten. Lieblos zusammengeknüllt, konnte er sie kaum in seinen Händen halten. Noch nie hatte sie soviel Geld gesehen.

„Wo hast du das her?“, fragte sie erschrocken.

„Aus seinem Schreibtisch. Ob das für uns reicht?“

„Willst du das sie uns in ein Heim stecken?“

Er strahlte sie an. „Zusammen?“

„Natürlich nicht!“ fuhr sie ihn an. „Hör zu, wir müssen vernünftig sein.“ Sie hasste es immer vernünftig sein zu müssen, so wie Vati und Mutti es immer wieder von ihr forderten, nur weil sie etwas älter war.

„Du musst zurück, hör auf mich. Es ist besser für uns.“

Er nickte brav. „Liebst du mich noch?“

„Ich werde dich immer lieben. Ich bin doch deine Schwester.“

Schweigend nahm er seinen Koffer und zog los. Hastig schloss sie die Tür und lehnte sich an den Türrahmen, um endlich zu weinen. Dann schleppte sie sich zum Fenster und sah wie er wieder nach Hause trottete. In ihr altes zu Hause, eine Seitenstrasse weiter, doch so unendlich weit entfernt. Sie hasste dieses Gefühl, ihm nicht helfen zu dürfen, ihn wegschicken zu müssen und nichts dagegen tun zu können. Nie wieder in ihrem Leben wollte sie einen Menschen so weinen sehen müssen. Sie beschloss, nicht mehr Kind zu sein, in dieser Welt, in der Erwachsene so etwas tun durften. In der es kein Mitleid mehr gab.

Sie würde ihn nie wieder sehen, das war ihr jetzt klar. Schon jetzt setzten die Erwachsenen alles daran dies zu verhindern. Entschlossen zog sie sich an und überlegte kurz einen Brief zu schreiben. Aber sie war sowieso ein unartiges Kind, egal was sie tat. Also brauchte sie sich nicht die Mühe machen. Sie wusste auch gar nicht was sie hätte schreiben sollen. Aber sie wusste nun was sie tun musste. Er würde ihr überall hin folgen. Und sie würden dahin gehen, wo sie kein Geld brauchten, wo man sie niemand trennen konnte, wo sie niemand finden würde.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.06.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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