Horst Lux

Nur ein Erlebnis ...

Zweiundzwanzig Uhr. Überlaute Musik ertönt aus dem monumentalen Zeltbau. Hier herrscht im Moment eine farbige Dunkelheit, die vorahnungsvoll auf das Geschehen wartet, das hier stattfinden wird. Nur hoch oben auf der Galerie leuchten vorschriftsmässig die Notbeleuchtungen der Ausgänge in hellem Grün. Oben auf der Musikbühne über dem Artisteneingang spielt das Zirkusorchester den Torero-Marsch aus »Carmen«. Der Rhythmus verleitet zum Mitmachen, die Fussspitzen können sich diesem Takt kaum entziehen.

Unverwechselbar auch das Odeur der Zirkuswelt, ein Geruch nach Tieren und Abenteuer, nach dem Sand der Manege, der Duft nach Sensationen. Es ist einfach das Flair einer Welt, die dem normalen Menschen fremd ist und gerade deshalb auf viele eine magische Anziehungskraft ausübt.

Unzählige Besucher im weiten Kreis der Ränge und Logen starren hinauf in das Dunkel des 
Chapiteaus. Schemenhaft die freischwingenden Trapeze, kaum zu erkennen. Hier werden in wenigen Augenblicken die »Olyssees« ihren grossen Auftritt haben. Links und rechts auf den starren Trapezen stehen, schemenhaft zu erkennen, die beiden Flieger Juliette und Marcel; an einem der freischwingenden Trapeze wartet Bastian, der Fänger. 
Juliette wird unter anderem einen vierfachen Salto mit Doppelschraube zeigen, eine Nummer, die erst seit Kurzem im Programm der Olyssees dargeboten wird.

Unten am Rand der Manege, eng an einen Mast gelehnt steht Pierrot, einer der Ensemble-Clowns, der gerade Pause hat. Er weiss, dass Juliette, seine Juliette, diesen schwierigen Salto noch nicht so lange im Trainingsprogramm hat. Sie kämpft noch mit grossen Schwierigkeiten, der Fänger beherrscht den zeitlichen Ablauf noch nicht völlig. Doch im Gesamtprogramm ist dieser Höhepunkt der Darbietung in der Presse gross angekündigt. Ein Zurück ist so gut wie unmöglich.

Pierrot hat wiederholt versucht, die Olyssees von diesem Punkt abzubringen; er schlug ihnen vor, zumindest diesen Teil der Nummer mit Juliette einige Monate nach hinten zu verschieben. Vergeblich. Lange haben sie darüber gestritten, es kam fast zum Zerwürfnis zwischen ihnen. 
Pierrot gab schließlich schweren Herzens nach und akzeptierte ihren Entschluss.

Und nun ist der erste Auftritt dieser Superlative gekommen. Frühmorgens bei der letzten Probe ging es gerade so mit Ach und Krach gut, das grosse Fangnetz wurde auch noch einmal verstellt, weil gerade beim »Vierfachen« die Geschwindigkeit eines eventuellen Sturzes erheblich höher ist und dadurch die Gefahr auch grösser, im Ernstfall über das Netz hinaus zu geraten. 

Im grossen Rund des Zirkuszeltes hält alles den Atem an, der Stallmeister, der wie immer die Rolle des Ansagers übernimmt, kündigt mit leidenschaftlichen Worten diese Sensation an. 
Sämtliche Scheinwerfer werfen urplötzlich ihr gleissendes gebündeltes Licht in die Höhe. Die Artisten in ihren silberweissen glitzernden Kostümen scheinen wie Figuren einer anderen Dimension in der Höhe zu schweben.

Dann die ersten einleitenden Flugfiguren! Mehrere Salti nacheinander, dann eine Flugpassage beider Flieger übereinander, gefolgt von einer Kapriole von Juliette mit einer doppelten Schraube, sicher gefangen von Bastian. 
Es folgt noch ein dreifacher Salto mit einer Schraube - kein Problem für die Artisten, auch bei Marcel, dem jungen Nachwuchsflieger, klappen die Wechsel hervorragend. 
Zwei der Scheinwerfer konzentrieren sich nun auf das Trapez, auf dem Juliette auf einer erhöht eingehakten Querstange steht.
»Sie sieht aus wie ein Engel!", denkt Pierrot, als er sie im gekreuzten Lichtkegel der Scheinwerfer in fünfzehn Metern Höhe stehen sieht. 
»Hoffentlich geht bei diesem ersten Auftritt  alles gut.« 
Seine Gedanken verweilen immer noch bei der missglückten Probe am Morgen. 
»Die Generalprobe muss schiefgehen«, hatte Juliette lachend zu ihren Kollegen gemeint, »dann klappt alles hundertprozentig!«
Pierrots Skepsis belachten die Olyssees nur, sie verwiesen dabei immer nur auf das grosse Fangnetz. 
Von der Musik-Bühne ertönt nun ein Trommelwirbel. Der Fänger Bastian schwingt sich mehrfach auf seinem Trapez hin und her, um mehr Schwung in seine Bewegungen zu bekommen. Hoch droben steht Juliette und lächelt in die Besucherreihen des Zeltes hinunter. Pierrot spürt fast körperlich, wie die Anspannung in der Fliegerin wächst. 
»Ihr Lächeln wirkt wie eingefroren«, denkt er bei sich. Er leidet mit ihr, kann nachvollziehen, was in ihr vorgeht. Schliesslich war er lange ihr Partner als Fänger, bevor er den schweren Unfall hatte und erst vor Kurzem ein Engagement als Clown bekam. 
Der Trommelwirbel aus dem Orchester heraus wird nun stärker, Juliette reibt beide Hände und Unterarme mit Magnesia-Pulver ein, fasst das schwingende Trapez und lässt sich dann von dem Schwung mittragen, verstärkt ihn noch mit eigenen Körperschwingungen und erreicht eine enorme Höhe für den gewünschten Absprung.
Bastian, der Fänger gibt ihr ein Zeichen, er ist bereit! Beide müssen nun in Bruchteilen von Sekunden aufeinander zu schwingen.
Als nun der Trommelwirbel mit einem letzten Schlag endet, springt Juliette wie geplant ab. Der vierfache Salto gelingt, zwar nur mit einer Schraube, aber er gelingt. Bastian fängt sie auf, beider Griff an den Handgelenken scheint sicher zu sein. 
Dann plötzlich ein vielhundertfacher Schrei aus der Menge der Zuschauer! Juliette fliegt, sich mehrfach überschlagend durch die Luft, stürzt dann fast ungebremst über das Fangnetz hinaus direkt in die Manege, schlägt dabei mit dem Kopf an den mit Acrylglas verkleideten Manegenrand. Bewegungslos bleibt sie liegen. 
Pierrot rennt die wenigen Meter zu ihr, kniet sich neben sie in den Sand, seine Tränen ziehen lange farbige Bahnen durch das geschminkte Gesicht. Beide Olyssees springen von oben in das Netz und eilen ebenfalls hinzu, um dann doch hilflos danebenzustehen. 
Binnen Kurzem hat sich ein Kreis um Juliette gebildet, Zirkus-Sanitäter und viele Helfer der grossen Zirkusfamilie - alle stehen betroffen da, als ein herbeigeeilter Arzt aus dem Publikum mit ernster Miene nur den Kopf schüttelt.
Der inzwischen eingetroffene Notarzt kann diesen Befund nur bestätigen: Juliette hat ihre Sensation mit dem Leben bezahlt. 

Pierrot kniet noch immer im Sand der Manege, schaut den Helfern hinterher, die sein Mädchen wegtragen. Er versucht zu begreifen, was geschehen ist.
Juliette ist fort. Sie hat ihn in eine Einsamkeit entlassen, wie sie grässlicher nicht sein kann.

Plötzlich erstrahlt die Beleuchtung des Chapiteaus wieder in vollem Glanz, so, als wäre nie etwas vorgefallen. Langsam leert sich das Zirkuszelt. Das Gradin ist leer geworden, einige aufgeregte Menschengruppen sind es noch, die entsetzt flüsternd das Geschehene zu verarbeiten suchen.

Dann ist es aus. 
Dann ist alles vorbei. 
Dann ist die gross angekündigte Sensation vorüber. 
Dann hat eine junge Frau ihr Leben verschenkt, für einige Minuten Nervenkitzel.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.07.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Es wurde sehr viel geschrieben über jene Jahre der unseligen Diktatur eines wahnwitzigen Politikers, der glaubte, den Menschen das Heil zu bringen. Das meiste davon beschreibt diese Zeit aus zweiter Hand! Ich war dabei, ungeschminkt und nicht vorher »gecasted«. Es ist ein Lebensabschnitt eines grünen Jahzehnts aus zeitlicher Entfernung gesehen, ein kritischer Rückblick, naturgemäß nicht immer objektiv. Dabei gab es Begegnungen mit Menschen, die mein Leben beeinflussten, positiv wie auch negativ. All das zusammen ist ein Konglomerat von Gefühlen, die mein frühes Jugendleben ausmachten. Ich will versuchen, diese Erlebnisse in verschiedenen Episoden wiederzugeben.

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