Helene Hages

Hans - Rüdiger

Hans - Rüdiger fiel mir das erste Mal sofort auf, wie er auf einer Parkbank saß und den Sonnenschein genoss.

Er war ein Bild von einem stolzen männlichen Wesen. Obwohl nicht sehr groß, sah er blendend aus und hielt sich sehr gepflegt. Sein Anzug war in verschiedenen Brauntönen gehalten, mit hier und da weißen und orangeroten Applikationen. Alles in perfektem Zustand, geradezu penibel arrangiert.

Eines Tages wollte ich mich ihm respektvoll nähern, aber zu meinem Bedauern verließ er seine Bank und zog weiter. Seine Angewohnheit hin und wieder seine Stimme zu üben, machte ihn zum Mittelpunkt des Parks, denn sein Gesang, aus vollster Kehle geschmettert, trug sehr weit. Er trainierte seine Stimme nicht zu bestimmten Zeiten, nein, nur wann es ihm gefiel, und er eindrucksvoll posieren konnte. Dann holte er tief Luft und eine neue Arie erscholl durch den Park.

Er hatte eine volle, etwas hohe Stimme, die jeden aber so in den Bann zog, dass man schwieg und einfach zuhören musste.

Hans - Rüdiger hatte einen Lieblingsplatz, auf dem er sich nach Opernsängermanier in die Brust warf, sich streckte und reckte, um mit voller Lautstärke sein Können zum Besten zu geben. Ich bewunderte ihn und hielt dann doch einigen Abstand, um ihn nicht aus dem Takt und seiner Konzentration zu bringen. Aber ich starrte ihn fasziniert an, was ihn entweder nicht störte, oder woran er sich schon seit langem gewöhnt hatte. So konnte ich leider, wenn ich ihn im Park sah, nie in engeren Kontakt mit ihm kommen.

Eines Tages musste ein großer Baum im Park gefällt werden, weil er bei Sturm umzufallen drohte. Dieser Baum hatte Äste besessen, die fast bis an mein Schlafzimmerfenster reichten. Der Ast, der dem Fenster am Nächsten war, das war Hans - Rüdigers zweiter Lieblingsplatz. Dort begann er früh morgens um halb fünf seine Gesangesübungen, und ich hätte den blöden Vogel am liebsten massakriert, weil ich dann nicht mehr weiterschlafen konnte. Da half auch keine Decke über dem Kopf, nicht einmal das Kopfkissen dämpfte das Geschmetter. Doch nun, seit der Baum verschwunden ist, ist auch Hans - Rüdiger weg. Das heißt für mich endlich weiterschlafen können, auch nach halb fünf morgens. Aber es heißt auch, dass eine, zugegebenermaßen enorm laute, Stimme der Vogelwelt aus meinem direkten Gesichtskreis verschwunden ist. Nur aus der Ferne, von einem großen Baum, der vor einem anderen Schlafzimmerfenster steht, hört man, wenn der Wind gut steht, Hans - Rüdigers unverwechselbares Buchfinken - Gezwitscher und manchmal auch eine Stimme die genervt durchs Dorf schallt: “Hau endlich ab, du blöder Vogel, es ist erst halb fünf, flieg woanders hin mit deiner Terrortröte!”

Dann kichere ich in mich hinein, drehe mich um, kuschele mich genüsslich in meine weiche Decke und schlafe noch ein, zwei Stündchen ohne Störung mit einem breiten Grinsen auf meinem Gesicht.

©Helene Hages 2018

 

 

 

 

 

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Helene Hages).
Der Beitrag wurde von Helene Hages auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.02.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Helene Hages als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Schnecken queren von Stefan Nowicki



Es handelt sich um eine kleine Sammlung von Kurzgeschichten und Gedichten in denen der Autor sich im Wesentlichen mit den Schwächen von uns Menschen beschäftigt und versucht durch die gewählte Sichtweise aufzuzeigen, wie liebenswert diese kleinen Unzulänglichkeiten unsere Spezies doch machen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Humor" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Helene Hages

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Die Bewerbung von Helene Hages (Wie das Leben so spielt)
Im Irrenhaus von Margit Kvarda (Humor)
Ein Tropfen Liebe...Themenvorgabe von Adalbert N. von Rüdiger Nazar (Auftragsarbeiten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen