Wolfgang Hoor

Damals in den fünfziger Jahren

Mein Enkelsohn Manfred, inzwischen 11 Jahre alt, und ich, sein 78jähriger Opa, sitzen in meinem Arbeitszimmer zusammen und unterhalten uns über die fünfziger Jahre, als ich in seinem Alter war und zum Gymnasium ging. Er muss einen Verwandten über seine Vergangenheit befragen und in der Schule darüber ein Referat halten. Er hat, wie es sich gehört, einen Schreibblock und Stifte bei der Hand und macht sich Notizen. Was soll ich Manfred erzählen? Schließlich fällt mir etwas ein: Ein Freitagnachmittagsgeschichte mit meiner Schwester Susanne.

 

„Es ist ein ziemlich peinliches Erlebnis“, sage ich ihm. „Vielleicht wird dein Lehrer dich die Geschichte gar nicht zu Ende erzählen lassen, wenn er merkt, worauf es hinausläuft. Wer heutzutage bei uns, das weißt du, von Körperstrafen spricht, der kriegt ganz schnell gesagt, darüber spricht man nicht.“ Manfred sitzt vor mir mit weit geöffnetem Mund und erschreckten Augen. „Und du hast….?“Er vollendet den Satz nicht. Ich nicke nur. „Manchmal hat es mein Papa gemacht, es stand sogar im Gesetzbuch drin, dass er das darf.“ Irgend etwas zwischen Scham und Sensationsgier überflutet sein Inneres. Ich sehe, wie es in ihm arbeitet. Er schreibt sich etwas auf. „Erzähl, Opa, wenn ich sowas in der Klasse vortrage, dann bin ich der absolute Freak.“

 

„Ich führe dich jetzt in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts“, erzähle ich. „Ich sitze an meinem Arbeitstisch, wo Hausaufgaben gemacht werden. Es ist Freitag. Samstag ist Schule, es gibt keinen freien Samstag. Die Eltern sind unterwegs, meine 14jährige Schwester Susanne ist allein mit mir zu Hause. Ich bin froh, dass weder Papa noch Mama ins Zimmer hereinkommen können. Ich fühle mich sicher. Ich bin elf Jahre. Ich müsste Mathe machen. Ich hasse Mathe! Ich habe mir ein Mikey-Mouse-Heft von meinen Freund Jürgen ausgeliehen und das verschlinge ich.

 

Plötzlich steht meine Schwester neben mir. Sie nimmt mich an den Haaren und hebt so meinen Kopf. „Und was würde jetzt Papa machen, wenn er dich mit dem Schund-Heftchen erwischt hätte?” Ich bekomme einen roten Kopf. Susanne hat mich erwischt. Auf dem Tisch das Rechenbuch, falsch herum liegend, unter dem Tisch jetzt das geborgte Mickey-Mouse-Heft. Susanne vertritt an diesem Samstag meine Eltern. „Ich weiß nicht, was du meinst”, sage ich unsicher. Der Versuch, das Comic-Heft heimlich in dem Schulranzen verschwinden zu lassen, misslingt. Es fällt auf den Boden. Susanne hebt es auf. Sie blättert darin herum. „Was würde Papa jetzt machen, wenn er dich schon wieder mit ‚Schmutz und Schund‘ erwischen würde?“ Ich war schon mehrmals mit einem ausgeliehenen Comic-Heft aufgefallen. Diesmal würde Papa tun, was er mir schon lange angedroht hat: Er würde mir den Hintern hauen. Ich schaue Susanne hilflos an. Und sie weiß, was Papa jetzt machen würde.

 

„Also, was würde er machen?”- „Ich weiß nicht. Er würde schimpfen!”, flüstere ich. Sie schüttelt den Kopf. „Damit würde er anfangen. Das stimmt. Aber dabei würde es nicht bleiben.“ Sie legt das Heft auf meinen Arbeitstisch, ohne es zu zerreißen, und dreht das Buch richtig herum. „Was meinst du, was würde Papa jetzt sagen, wenn er da wäre?” Der Atem geht mir schwer. Ich beginne zu ahnen, worauf es hinausläuft. „Was würde Papa tun, wenn er da wäre?” Es kommt mir ganz ausgeschlossen vor, ihr die richtige Antwort zu geben. „Bitte!”, murmele ich, „ich fange sofort mit der Rechenaufgabe an.” - „Das ist nicht die Antwort auf meine Frage. Nicht die Antwort, lärmt es in meinem Kopf. Nicht die Antwort. „Bitte Susanne!”, flehe ich. „Die Antwort! Was würde er tun?” - „Mir den Hintern versohlen!”, flüstere ich.

 

Sie nickt freundlich. Dann greift sie mit der Hand unter mein Kinn, hebt meinen Kopf hoch, sodass ich sie ansehen muss. „Also, sag mir, was ich jetzt tun muss, wenn ich heute hier den Papa vertreten soll.” - „Das darfst du aber nicht. Nur der Papa darf mir den Hintern versohlen, sonst niemand.” - „Und was meinst du, was los ist, wenn ich Papa morgen die ganze Geschichte erzähle? Meinst du, dann kommst du besser weg? Das Heft da, das wandert wieder zerrissen in den Müll. Du hast mir ja selbst erzählt, was du für einen Krach mit Michi bekommen hast wegen einem zerrissenen Heft. Also, sag mir, was ich tun soll?” Ich nehme an, mein Gesicht hat wie eine Tomate ausgesehen. Ich – ich soll meiner Schwester sagen, sie soll mir den Hintern hauen? Sie zieht einen Stuhl an meinen Schreibtisch. Und dann sehe ich es. So wie sie jetzt neben mir sitzt, bekäme sie genauso Ärger wie ich. „Das kann ich nicht“, sage ich triumphierend. „Ich kann aber Papa sagen, dass du die Lippen geschminkt und die Fingernägel rot angemalt hast, und das mag Papa überhaupt kein bisschen. Dafür hast du vor einem halben Jahr den Hintern versohlt bekommen.“ Sofort weicht alle Farbe aus ihrem Gesicht. „Du bist gemein!“, schreit sie und rennt aus dem Zimmer, und als wir am Abend zusammen Abendbrot essen, sind ihre Lippen und ihre Fingernägel wieder normal und mein Mikey-Mouse-Heft liegt unzerrissen neben meinem Brettchen. „Glaubst du, dass sie dich versohlt hätte, Opa?“ – Ich zucke mit den Achseln. „Eigentlich war sie immer lieb zu mir. Ich glaube, sie wollte damals rauskriegen, was das für ein Gefühl ist, wenn man über einen anderen unkontrollierbare Macht hat. So war das damals“, sage ich. Manfred ist unzufrieden. „Ich dachte du erzählst mir, wie das ist, wenn man verhauen wird. Als Papa nach Hause kam, hat da niemand von euch beiden gepetzt?“ – „Na ja, das war gar nicht nötig. Die nächste Mathearbeit hat mich verpetzt. Die war fünf, und dafür gab es natürlich den Hintern voll.“ – „Und wie hat sich das angefühlt?“ - „Das können sich heutige Kinder gar nicht mehr vorstellen: Mein Hintern ist richtig tiefrot, der brennt und brennt und brennt und man trippelt hin und her, weil man nicht mehr richtig gehen kann. Aber geheult habe ich nicht. Ich war zu stolz zum Heulen.“ Manfred steht auf und drückt sich an mich. „Armer Opa! Dann warst du aber richtig tapfer.

 

Haust du mir mal hinten drauf?“- „Das darf ich doch nicht, Manfred. Wenn ich das tun würde und es käme raus, lch eine Strafe bekommen.“ Er streichelt mich. Ein süßes Flehen malt sich in seinem Gesicht. „Wie soll das denn rauskommen? Ich schweige wie ein Grab.“ Ich lege meine Hand auf seine Hose. Ich spüre, dass er zittert. „Nur, damit ich die richtigen Worte finde, wenn ich von dir und Tante Susanne erzählen soll.“ Ich klatsche ihm einen kleinen Schlag auf den Po. Er verzieht seinen Mund. „Das tut ja schon weh. Und du hast sie mit dem Lineal gekriegt?“ Ich nicke. Er kramt in seiner Tasche und zieht ein Holzlineal heraus. „War das so ein Lineal?“ Ich nicke. Er drückt mir das Lineal in die Hand. „Machst du es mal mit dem Lineal? Bitte!“ Ich merke, dass mein Verstand sich verabschiedet. Es klatscht wunderschön. Er jault auf. „Jetzt übertreibst du es aber!“ Ich lache. „Das Lineal hat es bei Papa auf den nackten Hintern gegeben.“ Er ist entsetzt. „Machst du das mal?“ Die Vernunft kommt zurück. Ich stehe auf und nehme ihn in die Arme. „Es tut mir leid!“, sage ich. „Es ist verboten. Ich habe in meinem Leben nie, nie, ein Kind geschlagen, und dabei bleibt es auch.“ Er sucht mit den Händen nach meinem Gesicht. Als er es gefunden hat, flüstert er: „Du musst mir ganz viel von damals erzählen und wie es damals zugegangen ist. Und es braucht dir nicht leid zu tun. Echt Opa, ihr wart noch richtige Helden damals. Ihr habt noch was ausgehalten und habt euch nicht klein kriegen lassen. Ich möchte auch einmal so ein Held sein.“

 

Übrigens: Das Referat hat er gehalten, ohne von der Tracht Prügel nach der Mathe-Arbeit zu erzählen. „Weißt du, Opa, deine Geschichte kann man heutzutage nicht erzählen. Ich hab einfach die Prügel ausgelassen. Ich hab erzählt, dass deine Schwester Susanne mit dir geschimpft hat und dass sie schon damals dagegen war, einen Jungen zu prügeln, und dass sie dann mit dir die Mathe-Aufgaben durchgegangen ist. Und ich hab erzählt, dass die Schwester das Mickey-Mouse-Heft vor dem Vater versteckt hat, weil er ja nicht einfach fremdes Eigentum zerreißen darf. Und ich hab eine sehr gute Note gekriegt. ‚Seht ihr‘, hat der Lehrer gesagt, ‚auch damals gab es schon vernünftige Leute, die wussten, dass man Kinder nicht schlägt, sondern ihnen bei ihren Problem hilft.‘ Bist du mir böse, Opa, dass ich deine schöne Geschichte so schrecklich verhunzt habe?“ – Ich winke ihn zu mir, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und sage freundlich: „Deine Lügengeschichte gefällt mir fast besser als die wirkliche mit der Tracht Prügel nach der Mathearbeit.“ – Er quietscht vor Lachen. „Opa, du bist ein Schwindler.“

 

 

 

In den fünfziger Jahren war ich durchaus Opfer von Prügelstrafen. Heute bin ich meinem Vater nicht mehr böse. Er praktiziere, was viele praktizierten. Es gehörte einfach zur Kindheit und Jugend dazu.Wolfgang Hoor, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.11.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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