Wolfgang Küssner

Ein regnerischer Tag

Die Fenstervorhänge hätte Bernd an diesem Juni-Morgen noch so weit aufziehen können, heller, freundlicher wäre es dadurch nicht geworden. Eine Wolkendecke, geschlossen, trächtig, grau, lag über der Bucht von Patong auf der Insel Phuket. Es regnete seit Stunden. Schon die ganze Nacht über prasselten dicke Regentropfen auf die flachen Dächer der umliegenden Häuser, erzeugten eine beruhigende, entspannte, monotone, ja einschläfernde Geräuschkulisse.

Der Muezzin konnte sich mit seinen ersten Rufen zum Gebet kein Gehör verschaffen. Bei den Buddhisten gibt es dieses Prozedere erst gar nicht. Die zu anderen Morgenstunden so aktiv zwitschernden Vögel hatten ihr Früh-Konzert vertagt, verschoben; wenn nicht ganz darauf verzichtet; es eindeutig für ratsamer gehalten, ein trockenes Plätzchen zu suchen, das Federkleid unter einer Überdachung vor Nässe zu schützen. Kein Sonnenstrahl kündigte den neuen Tag an. Kein Regenbogen malte erste Farben aufs Grau. Die kleinen Berge, die sonst die Bucht einrahmen, waren hinter der dunklen Regenwand verschwunden. Das nahe Hochhaus konnte mehr erahnt als erkannt werden. Ein regnerischer Tag.

Tage wie diese sind in den Zeiten des Monsuns keine Rarität. Und auch für Bernd war es nicht der erste Monsun, den er hier im Süden Thailands, an der Andamanensee, erlebte. Er musste an Situationen denken, wo gigantische Donnerschläge heftigste Vibrationen und bei abgestellten Fahrzeugen die Alarmanlagen auslösten. Oder an Stunden, in denen die schweren Wolken ihre Schleusen so großzügig öffneten, dass die Regenmassen den Ort an vielen Stellen bis zu 50 cm unter Wasser setzten; Strassen zu mitreißenden Flüssen wurden. Bernd erinnerte sich an einen abendlichen Besuch in einem Restaurant. Kaum angenommen, Platz genommen, die Bestellung aufgegeben, konnte der dunkelgraue Himmel nicht mehr an sich halten. Auch ein drittes, viertes Glas Wein bereiteten dem Regen kein Ende. Taxis hatten den Betrieb bereits eingestellt. Ein Jetski wäre ideal gewesen. Da kam ein Mitarbeiter auf die Idee, einen kleinen, höherliegenden Lastwagen für den Rücktransport ins Hotel zu ordern. Kreativität, Improvisation waren angesagt. Nach Katastrophen der Art sah es an diesem Tag nicht aus; wobei konkrete Vorhersagen in tropischen Regionen nahezu unmöglich sind. Es war grau, dunkel, nass. Ein regnerischer Tag.

Das Thema Strandbesuch erübrigte sich für Bernd somit. Die vergangenen Wochen waren pandemiebedingt durch stay home gekennzeichnet gewesen. Das hatte Lesen und Schlafen und Schlafen und Lesen bedeutet. War man damit durch, begann man in umgekehrter Reihenfolge von vorn. Der Bedarf war mehr als gedeckt. Solch ein Tag wäre ansonsten für Aktivitäten dieser Art ideal gewesen, und hätte kein schlechtes Gewissen wegen nichtgenutzem Sonnenbad bereitet. Eine andere Alternative hätte den Namen shopping tragen können, die verführerischen Einkaufs-Center waren wieder geöffnet. Doch um durch Auslagen in den Geschäften zu wandeln, fehlte es ihm seit jeher an Muße. Bernd arbeitete lieber zuvor erstellte Einkaufslisten ab. Punkt. Aus. Fittness-Studios, in solchen Situationen auch denkbar, zählten auch nicht zu seinen Präferenzen. Dafür nahm eine andere Idee an diesem regnerischen Tag konkrete Formen an.

Vor ein paar Monaten hatte sich auf seiner Kopfhaut ein leicht juckender Pickel, vielleicht waren es auch zwei, drei oder etwas Ähnliches, bemerkbar gemacht, zu einer kleiner Kruste oder Schorf geführt. Aufgetragene normale Hautcremes oder Aloe Vera Gel veränderten die Situation nicht. Im Gegenteil, die Fläche wurde langsam größer, der Juckreiz nahm leicht zu. Streuselkuchen-Gesicht. An dieses Wort musste Bernd dabei denken; so hatten sie früher Kinder mit unglatter, leicht vernarbter Haut, tituliert, gehänselt. Davon war er weit entfernt. Ein Selfie der etwas anderen Art bildete die angegriffene Kopfhaut ab, ließ die Veränderungen erkennen. Was konnte das sein? Schlag nach bei Google, bei dem steht was drin! Eigentlich sollte man genau das nicht tun, denn die Recherche landet meistens bei den Extrem-Situationen; der Suchende kann die Zeit bis zum letzten Atemzug errechnen, wundert sich, überhaupt noch am Leben zu sein.

Bernd hatte bei Google einige Bilder zu Haut-Krankheiten mit dem gemachten Selfie abgeglichen, um der Ursache auf die Spur zu kommen. Er durfte von Neurodermitis, von atopischer Dermatitis, von Schuppenflechte, von Kopfhaut-Pilz, von seborrhoischem bzw. atopischem Ekzem usw. lesen. Nur die erhoffte Antwort auf sein Problem fand er nicht. Daraufhin präsentierte er einfach seinen betroffenen Schädel in einer Pharmacy und bekam eine scalp application als Gel empfohlen. Zielführend war die Therapie mit diesem Mittel leider nicht. Interessant allerdings die Entdeckung auf der Verpackung: Die Arznei kam von einem Pharmaproduzenten aus dem 10.000 Kilometer entfernten Bad Oldesloe, nicht weit von Bernds früherer Haustür entfernt.

Wie sollte, konnte es nun weitergehen? Google wirkte nach. Ein regnerischer Tag. Der ideale Tag, um im Bedarfsfall einen Arzt aufzusuchen. Arzt war für Bernd hier in Thailand identisch mit Krankenhaus-Besuch. Die Fachärzte aller Disziplinen waren dort tätig. Kurz entschlossen griff Bernd zum Telefon, bestellte sich ein Taxi für die Fahrt zum Hospital. In der dortigen Dermatology würde das Problem schnell erkannt, eine Diagnose erstellt, therapeutische Maßnahmen eingeleitet werden. Gesagt - getan. Nach 30 minütiger Fahrtzeit und fast ebenso kurzer Wartezeit saß Bernd dem Facharzt gegenüber.

Mit speziellen Lupen und Lampen besah sich der Doktor den Casus knacksus, den Kopf natürlich. Seine Diagnose: Kein Problem. Sieht nach ein bisschen zuviel Sonnenschein aus. Das bekommen wir mit einer entsprechenden Creme schnell wieder hin. Das hatte er in einem nicht gerade leicht verständlichen, genuschelten Englisch gesagt. Die positive Botschaft kam rüber. Und was hatte Bernd zuvor auf Google alles über Ekzeme und Neurodermitis gelesen. Wieder einmal bestätigte sich, was er zuvor bereits wusste: Alles halb so schlimm wie bei Google. Die Fahrt zum Facharzt war also eine richtige Entscheidung für diesen regnerischen Tag.

Das Gesicht des Arztes legte sich allerdings in leichte Falten. Ganz so einfach wollte und konnte er es seinem Patienten nun doch nicht machen. Da kam plötzlich die Frage an Bernd gerichtet, ob er schon einmal Probleme mit Hautkrebs gehabt habe? Das konnte dieser klar verneinen, doch der Doktor hielt es für ratsam, sich einige Veränderungen auf der Haut genauer ansehen zu wollen. Und dann wurde er an der linken Stirnseite fündig. Eine vergrößerte, dunkle Hautstelle und das Umfeld nährten seine Befürchtung, hier könnte etwas schlummern, unter Umständen eine krankhafte Erscheinung vorliegen. Es wäre ratsam, die Stelle näher zu untersuchen. Eine kurze, kleine, schmerzlose Operation würde Klarheit bringen. Der konkrete Terminvorschlag: Um 13 Uhr, Bernd könnte die Zeit bis dahin zum lunch nutzen. Einverstanden.

Ein kurzes Gespräch mit dem Chirurgen und wenig später lag Bernd in dem kleinen OP-Saal des Emergency-Bereichs im Licht klarer, kühler Leuchten. Kleine Spritzen zur Betäubung und 30 Minuten später stand er mit einem Pflaster an der Schläfe wieder auf den Beinen. Der Assistent des Chirurgen präsentierte ihm noch kurz vor dem Verlassen des OPs das entnommene Stückchen Haut, eine Fläche von 20 x 5 mm. Gespürt hatte er – wie versprochen – fast nichts. Zum Ende hin war da mehrfach ein kleines, irgendwie zerrendes Gefühl gewesen. Logisch, die Wunde musste mit einigen Stichen genäht werden. Das Ergebnis sollte in einer Woche folgen. Der neue Termin wurde vereinbart. Die Rechnung bezahlt. Rückfahrt. Nun hieß es zu warten.

Dieser regnerische Tag hatte Erinnerungen geweckt. Bernd musste an Karin denken, die gute, immer optimistische, positiv denkende Bekannte vieler Jahre. Den Kampf mit dem Krebs hatte sie leider verloren. Ein Brustkrebs beendete ihr Leben viel zu schnell. Der weiße Hautkrebs hatte Karin dagegen über viele Jahre begleitet. Sie war immer unter ärztlicher Kontrolle, hatte jedes Jahr mindestens eine kleine OP über sich ergehen zu lassen; deshalb aber der Sonne keineswegs den Rücken gekehrt. Mit einer solchen Beeinträchtigung würde auch Bernd über die Runden kommen. Dieses Erlebnis machte Mut, bereitete momentan – für den Fall eines negativen Befundes - keine großen Sorgen. Er sah es ganz gelassen.

Bernd musste daran denken, wie vor Jahren ein Kardiologe auf der Suche nach der Ursache einer erlittenen Lungenembolie mittels Herz-Ultraschall-Untersuchung in der Herzkammer einen Hautlappen entdeckte und sofort wusste, das sei ein Herz-Tumor. In unverantwortlicher Weise verkündete der Arzt seine Resultat. Das war mehr als ein leichter Schock. Um seine Diagnose allerdings zu untermauern, sollte noch eine MRT des Herzens erfolgen. Der Spezialist sei aber gerade im Urlaub und so müsste Bernd sich zwei Wochen gedulden. Das hieß zwei Wochen lang mit der Diagnose Herz-Tumor zu leben. Was hatte sich der Arzt dabei gedacht? Nach nicht ganz einfachen, quälenden 14 Tagen kam für Bernd dann die erleichternde Experten-Auskunft: Kein Herz-Tumor. Es war nur ein kleiner Geburtsfehler, der nicht einmal einer Korrektur bedurfte. Schwein gehabt. Und dieses Mal?

Geduld. Hoffnung. Warten auf das Ergebnis dieses Tages, der eindeutig mehr als nur ein regnerischer war.

PS: Das Warten könnte dieser Geschichte spannungsvolle Momente bringen. Fortsetzung folgt? Wäre das zumutbar? Nein, der Leser soll hier und jetzt das Ende der Geschichte erfahren:

Die vom Dermatologen verschriebene Creme zeigte schnell heilsame Wirkung. Das entfernte Stück Haut beinhaltete eine bösartige Veränderung, ein sogenanntes Basalzellkarzinom. Die OP hatte es restlos beseitigt. Die Fäden wurden gezogen. Eine kleine Narbe wird bleiben.

Und das sprichwörtliche Schwein hatte an Bernds Seite die Stellung gehalten.

Juni 2020

© 2020

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