Burckhardt Fischer

Vom rollenden R

Meine Eltern waren einigen Buchhändlern in O. in tiefer Freundschaft verbunden, und insbesondere bei H. erstreckte sich diese auch auf zahlreiche Sprösslinge beiderseits: ein Sohn in nämlichen Alter wie mein größerer Bruder, ich inmitten zwischen einem weiteren Sohn und der jüngsten Tochter, die sehr zart geraten.

Wiewohl sich zahlreiche Gelegenheiten fanden zu Treffen und gegenseitigem Austausch, so hatte für mich doch eine Person dort eine besondere Bedeutung, die Mutter, die in dieser Buchhandlung fast immer zugegen, die sie in die Ehe gebracht und um die sie später dann schmählich, grausam betrogen. Zu jener Zeit aber hielt sie dort Hof, und war an ihr nicht vorbei zu kommen. Manches Mal hatte ich solches versucht, da sie mich ins Herz geschlossen, sehr, und kaum wurde Sie meiner gewahr, rief sie herzlichst, voll mir ehrlich scheinender Begeisterung „Kiki“ durch den ganzen Raum, der Spitzname, den sie mir gegeben, sonst nirgendwo mehr in Gebrauch, und alle Kunden drehten verwundert die Hälse, während die Verkäuferinnen schamhaft senkten die Häupter, da erkennbar mir, mit hochrotem Kopf, dieser Titel peinlich war, als Kind schon, mehr noch als jungem Mann.

Frau H. jedoch eilte, sobald es ihr möglich war, zu mir, mich zu herzen, mit rollendem R und lauthals, die Befindlichkeit meiner gesamten Familie zu erörtern, ihrerseits Söhne und Töchter zu beschreiben mit Erfolgen und Schwierigkeiten, dass es wohl noch über das Lädchen hinaus zu vernehmen sein mochte auch aufgrund ihrer lauten, unverkennbar fränkischen Mundart, mit dem markanten und rollenden R. Wie mochte sie wohl zwischen unsere norddeutschen Tiefen geraten sein, mitsamt ihrer Erbschaft, dem Laden?

War dieses ein gefürchteter Beginn, so ließ ich ihn doch über mich ergehen, ergeben, und auch erfreut: wer wird nicht gern gemocht, einige Male im Jahr. War dieses doch von Nöten, um, wenn, wie zumeist, ein anderes Präsent für Einen aus unser zahlreichen Familie zu allfälligen Geburtstagen, zu Weihnachten oder sonstigen Gelegenheiten nicht zu finden, zu erfinden war, dann blieb der Gang in diese Buchhandlung, immer, um ein Buch zu erwerben, zu finden für Diesen oder Jenen unserer lesenden Sippschaft.

Nun gab es eben, damals, erstaunliche viele Buchhandlungen noch in unserem Städtchen, und etliche, zu denen meine Eltern Freundschaft pflegten. Alle Beschaffungen meinerseits jedoch, welches Buch für Vater, Mutter, die Brüder zu erwerben, ging anderen Ortes grausam schief, weil ein jedes Mal der zu Beglückende das betreffende Werk bereits gelesen, den Autor nicht goutierte, für jene Sparte kein Interesse hatte, oder das schließlich erworbene Stück war einfach unzureichend, schlecht, enttäuschend. Frau H. jedoch, mit erstaunlichem Gedächtnis versehen, wusste auf Anhieb, welche Lektüre sich bereits in unserem Hause befand, welche Themen passend und en vouge, und – darüber hinaus – was vielleicht stimmungsmäßig angemessen wäre für einen jeden der Familie, in der augenblicklichen Situation, und zu berücksichtigen dabei nach Möglichkeiten auch künftige Entwicklungen, anstehendes Geschehen, Reisen, schulische Herausforderungen und mehr.

Nun erstaunte, erschütterte mich schon dieses phänomenale Wissen, aus dem Stande, überraschend abgerufen inmitten des Trubels vorweihnachtlicher Käufe, das Lädchen voller Kunden, und mir so hilfreich, so verlässlich, unverzichtbar, zumal mit bedacht ward mein schmales Budget, die Vielzahl der Erfordernisse, und waren auch daher die Vorschläge bereits abgewogen. Und dennoch: sie ermöglichte mir, dem heillos Überforderten, stets eine Wahl, bis auf seltene Fälle des Wissens um ganz eindeutige Wünsche der jeweils zu Bedenkenden, da sie, nachdem die familiären Befindlichkeiten jeweils hinreichend erörtert, mir den Inhalt der betreffenden, in Frage kommenden Werke schilderte, die Stimmung beschrieb, Stärken und Schwächen, die mögliche Wirkung überlegte und mit mir besprach. Und war dieses nur möglich, da sie alles dies, was dort gedruckt zugegen, gelesen hatte. GELESEN. Und sei es noch so neu, so mühsam, wenig erbaulich vielleicht.

Noch heute, nach langer Zeit, da viele schon gestorben der Schenkenden wie auch der Beschenkten, streift mich ein jedes Mal, da ich vor einem Büchertische stehe, zu wählen habe aus den Werken, bestens informiert zwar über Feuilletons oder Besprechungen, aber immer noch ungewiss, ein Erinnern an dieses R, diesen phänomenalen Menschen, der schwierig, unglücklich geendet, und sende ich einen dankbaren Blick, zu ihr, wo auch immer, innerlich. Wiewohl es auch nicht einfach gewesen, mit diesem Kiki.

II.
Seit jeher bin ich den Eisenbahnen besonders verbunden: allem was maschinenmäßig faucht, hämmert, stampft, dröhnt, zischt, metallene Stangen in silbern und rot, die schwere Räder langsam zu drehen begannen – schneller, und schneller.

Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist, wie meine Mutter mich vorstellte in einem Privatkindergarten, dahin ich gehen sollte, und alle Sorge vor der unbekannten, ungewissen Zukunft dort ward verflogen in jenem Momente, als wir das Zimmer der Leiterin betraten, denn vom Fenster in diesem ihrem Büro hatte man den Blick über unseren heimatlichen Rangierbahnhof, das gesamte Gleis-Vorfeld mit Signalen, Weichen, Lichter ein jeder Art, Lokschuppen und Drehscheibe, die Wasserbefüllstation, dampfende Lokomotiven. Oh, wie musste ich weinen, als es dann galt, den Dienst anzutreten in meiner Kindergruppe, zu spielen, zu lernen, mit anderen auszukommen, wo doch mein ganzes Sehnen war dieser Blick! Denn die Krippe war mittlerweile umgezogen in ein anderes, größeres Haus, mit Garten, näher, doch ohne Eisenbahn, diese weit entfernt, und der einzige kleine Trost musste sein der tägliche Gang dorthin an einer Stelle, wo, wenn die Schranken einmal geschlossen waren wegen eines nahenden Zuges, man die Gleise überqueren konnte mittels einer Brücke, und konnte man in der Dampfwolke der Lokomotive stehen, jene sich kurz um einen hüllte, durch die Bodenbretter der Brücke drang, konnte einen Blick ins Feuerloch der Maschine erhaschen hinterrücks, versuchen, in den Schornstein zu spucken.

Aber alles dies tröstete mich nicht, nie mehr. Um mein Leben sah ich mich betrogen.


Meine Eltern sahen wohl meinen Schmerz, und ersannen folgendes Spiel, all Ihren Nöten, der beständig fehlenden Zeit zum Trotze! Mein Vater fuhr alle paar Wochen zur Regierung in die Landeshauptstadt, seines Institutes wegen, das er leitete, und wählte, da sich sonstige Gelegenheiten für Fahrten sich uns nicht ergaben, mit Bedacht einen Zug, der, frühmorgens, an unserem Orte erst zusammengekoppelt wurde aus solchen verschiedener Richtungen: Wilhelmshaven, Emden, Leer.

Nun war es aber so, dass der eine dieser Züge viel früher in unseren Bahnhof einfuhr als der andere, und dort dann zu Teilen warten musste, ohne Lok, dass auch der andere käme und sie neu vereint die weitere Fahrt beginnen könnten.

Meine Eltern nun hasteten den weiten Weg zum Bahnhof, mit mir inmitten, und wir bestiegen einen der führerlos dort wartenden Waggons, was mir immer falsch, ja widersinnig erschien einen kurzen Augenblicke: was soll uns ein Zug ohne Antrieb nur?, warteten dann, dass die Rangierlok dort mit lautem Rummms, Scheppern, Zischen angekoppelt wurde und in langsamer Fahrt, ein Wummms an jeder Weiche, das Zugfragment hinausfuhr mir noch immer unerklärlich weit, bis nahezu zum Fluss, der weit vor dem Bahnhof kreuzte, auf dem platten Lande schon, und die Hubbrücke, die mir noch immer Inbegriff von Ingenieurskunst mit edler, sinnfälliger Form, dort fast zum Greifen nah – mal mehr, mal weniger – um dort ächzend, mit immer kreischenden Bremsen schließlich zu stehen, endlich zurückzufahren zum Bahnhof, jetzt schneller, dann behutsamer, zum neuen Gleis, zu den dort jetzt wartenden weiteren Waggons, die nunmehr anzukoppeln, und ein jedes Mal ein banges Warten: wie heftig der Anstoß, wenn beide Zugteile sich trafen. Manches Mal, schrecklich und schön, wurden wir dabei schon durcheinandergewirbelt, ein wenig. Wenn der Rangierer gefeiert hatte, des Abends zuvor, sagte mein Vater.

Dann stiegen wir aus, meine Mutter und ich, und Vater fuhr von dannen.

Spät abends, wenn er zurück kehrte, erhielten wir ein Mitbringsel, mein Bruder und ich, aus der großen weiten Welt: mit Zuckerwasser gefüllte Schokoladenstangen von Sprengel zumeist, die wir schleckerten, lutschten im Bett, wo wir doch schon lange schlafen sollten. Mir ist jetzt klar, wem ich die Karies danke.
 

Doch auch jenes Glück ward nicht von beständiger Dauer, vielmehr bedrängt von allerlei Nöten: Zeitmangel eben, insbesondere aber dem allgegenwärtigen Modernisierungsbe-streben, waren doch die Wagen nur wirklich schön mit einzelnen Abteilen, ein jedes mit gesonderter Tür, die Fenster mittels eines breiten Riemens zu heben, und wurden sie selten mit der Zeit, da umgebaut zu neuer Karosse. Die neue Form – wiewohl ich Sinn und klare Kante anerkannte, begeisterte mich nur kurz, und mit dem Fahrplanwechsel erstarb ohnehin dieses Vergnügen.

Nur einmal noch gab es eine gänzlich unvergleichliche Fahrt: der einzige Urlaub, den unsere Eltern mit uns Kindern machten: mit allen, endlich befreit vom Krieg, lange danach. Leutaschtal, im Tirol, der von den Eltern geliebten Berge wegen, Die doch so mühsam zu besteigen. Auf einem Bauernhof – da wurde es mir bald lang, und zum Trost erhielt ich ein Wetterhäusen, das aussah wie das alte Gemäuer, da wir logierten. Das diente mir lange, und ich hielt nunmehr Wacht, ob es wohl regnen möge.

Mir aber war bedeutend nur die Reise, in einem gänzlich neuen Touropa-Wagen mit Silber und herrlichem Blau, wiewohl wir doch auf Scharnow-Reisen gebucht, und trugen wir die Anstecker noch lange: kleine stilisierte Vögelchen in einer Art Emaille. Die Sitze im Waggon aber waren weinrot, und konnten ausgezogen werden. Meine Mutter hatte es zuvor ausgemessen und die passenden Koffer mitgeführt: die passten zwischen die Sitze, und hatten wir ein Lager für die Nacht.

Ich aber stand im Gange vor dem Abteil, mit meinen Brüdern, diese mussten mich emporheben in jeder Kurve, einen Blick zu erhaschen auf die Lokomotive weit vorne, mit gewaltigem Qualm, das Gesicht am geöffneten Fenster im Fahrtwind gebeizt.


Nun war es aber so, dass – mit neuerlichem Fahrplanwechsel – die günstigste Zugverbindung, zur passenden Zeit, in die Landeshauptstadt entfiel; nur entweder zu früh, oder zu spät. So musste in Bremen umgestiegen werden, in einen anderen Zug.

Einige Male nun, selten, wenn meine Mutter ihren Schuldienst nicht hatte irgendwelcher Ferien halber, oder aber bei sonstigen Gelegenheiten, geleiteten wir meinen Vater wiederum zum Bahnhof, bestiegen mit ihm den Zug, doch nun ging die Fahrt anders, weiter – nicht mehr das langsame Rumpeln des rangierenden Zuges, sondern in einem schnelleren Gleiten wurden die Weichenwechsel zu kurzen, harten Schlägen, bis zur Klappbrücke, darüber hinaus, und flogen an den Waggonfenstern vorbei Bäume und Wiesen, auf und ab die Telegraphenleitungen.

In Bremen nun verließ uns der Vater, stieg in einen anderen Zug, wir verließen ihn, Mutter und ich, und suchten in dieser meinen Kinderaugen groß erscheinenden Welt irgendein Glück, ein Abenteuer. Wiewohl vieles noch in Trümern gelegen, hat mich meine Mutter Rathaus und Dom gelehrt, den Roland, die Böttgergasse, Überseemuseum, die Mühle im Park. Einzigartig aber war, da wir einmal ins Kaufhaus gingen, inmitten der Abteilungen ein Gehege mit nur niedrigem Zaun, darin stolzierte ein Storch, zum Greifen nahe, setzte Schritt um Schritt, schaute mit ernsten Augen. Sah ich ihn nur dieses einzige Mal, wiewohl ich auch bettelte, den Besuch zu wiederholen – man hatte es verboten, aus Tierschutzgründen sagte Mama. Ich trug ihn aber im Herzen, ein Leben lang, mit Sehnen.


Nach solchermaßen nun vergeblichen Reisen geriet jene Stadt ein wenig aus dem Blick, und hatte ich auch andere Sorgen. Meinen Eltern wird es Recht gewesen sein, des Zeitaufwandes wegen.

Da nun aber doch wieder die Reise gemacht, da wartete von nun an am nämlichem Bahnsteig, dem Gleis gegenüber, ein neuer, anderer Zug auf Reisende: in Weinrot und Elfenbein, mit wummerndem Motor, mir von unglaublicher Kraft, elegant erscheinend: meine Eisenbahn-Begeisterung war neuerlich erwacht und ich unglücklich, dass meine Mama mich schließlich vom Bahnsteig zog, doch nette Belanglosigkeiten in der Stadt zu schaun, wo ER doch wartete, dort, ganz nahe, wiewohl unerreichbar ferne, da 1. Klasse nur, AUSCHLIESSLICH, und selbst der Vater durfte mit ihm nicht fahren. So habe ich ihn nur ein einziges Mal hinausrollen sehen, später, als ich schon Auto fuhr statt Bahn, mit einem nämlich hämmernden Diesel, alt, und nahm ich meine Barschaft zusammen, tankte, fuhr nach B., zu diesem Bahnhof, den ich liebte mit in seiner großen Halle, und wartet auf jenen Zug, den Roland, der hinein rollte, wartete lange – ein merkwürdiger Fahrplan – und schließlich doch fuhr. Ich habe ihn nie Rasen sehen, nur Rollen, mit dröhnendem Diesel, 1. Klasse nur.


So habe ich ihn mir endlich als Modell gekauft, teuer, da alle schon längst verschrottet, verschwunden von dieser Welt: in hohem Alter, ein Kindskopf allemal.
Einer ist aber doch als Museumszug gelandet, der Motor jedoch ward abgestellt.

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Burckhardt Fischer).
Der Beitrag wurde von Burckhardt Fischer auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.09.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

Bild von Burckhardt Fischer

  Burckhardt Fischer als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Rebel Crusade 2. Dunkler Schatten von Werner Gschwandtner



Im zweiten Band seiner Trilogie beschreibt Werner Gschwandtner den Angriff einer unbekannten Macht auf die Menschheit.

In seinem spannenden Science-Fiction-Roman verwirklicht der Autor seine Vorstellungen vom 6. Jahrtausend. Der Leser gewinnt Einblicke in die künftige Technik und wird gepackt von der Frage, ob die Menschen die Konfrontation mit dieser gewaltigen Bedrohung und den vernichtenden Angriffen überstehen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Sonstige" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Burckhardt Fischer

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Vom Saften von Burckhardt Fischer (Raben-Mütterliches)
Pilgerweg...letzte Episode von Rüdiger Nazar (Sonstige)
Halb-so-schLimerick von Siegfried Fischer (Reiseberichte)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen