Klaus Mattes

Lektüre 01/a: 3096 Tage. Roman und Verfilmung

 

Im Kino verließ mich das Gefühl nie: Das ist eine Fantasie, eine Geschichte, eine weibliche Opferfantasie zwischen SM-Subkultur und Krimi. Es sollte jedoch die Wahrheit sein.

Natascha Kampusch hat es nicht selbst geschrieben. Dazu war sie nach achteinhalb Jahren gestohlenen Lebens, Vergewaltigung, Todesangst und ohne einen Tag Schulbesuch nach der vierten Klasse nicht in der Lage. Sie hat es zwei Frauen erzählt, die es dann aufgeschrieben haben.

Nicht, dass die allzu viel auf literarisches Handwerk gegeben hätte. In jedem Schreibforum für Laien erzählen einem die Kollegen, etwas vom Bedeutendsten wäre die Regel: „Show, don't tell!“ In Kampuschs Aufzeichnungen ihrer Gefangenschaft in einem Keller in einem Vorort von Wien stehen pausenlos Sachen von dieser Art: „Nachdem er mich schon all diese letzten Monate mit großer Grausamkeit gequält hatte, strafte er mich jetzt mit seinem Schweigen. Er sah mich an und ging wieder hinauf.“ Also, die ausgesuchte Grausamkeit gegen ein pubertierendes Mädchen ist, nicht zu hören, was es sagt und es alleine zu lassen. Alle anderen Bestialitäten beschreibt sie nirgendwo. Es kommen hingegen regelmäßig derartige „Tell“-Passagen vorbei. Seine Hinterhältigkeit war unglaublich. Er hatte es fast geschafft. Ich war nahe daran, die Hoffnung zu verlieren. Er demütigte mich immer weiter. Tag um Tag, Woche um Woche.

Es ist so gemein, eine verdruckste Schülerin, die mit ihren beiden Eltern, die seit Jahren getrennt leben, nicht wirklich zurechtkommt, zu rauben und zwischen ihrem zehnten und ihrem achtzehnten Jahr vor der Restwelt versteckt zu halten. Da will man es nicht allzu genau wissen. Das wäre pietätlos, nur eine einzige der brutalen Stunden ganz genau nachzuerzählen. Das macht man in Romane so, aber nicht in Schicksalsberichten, wo es um noch lebende, reale Personen geht!

Es ging nach ihrem Wiederauftauchen allerdings nicht lange, bis Natascha Kampusch sich so weit erholt hatte, um als Selbstvermarkterin durch ganz viele Medien tingeln zu können. Sie musste ins Kraut schießenden Lügen und Legenden entgegentreten. Sie macht das bis heute, wo sie andererseits eine Firma für Schmuckdesign hat. Den Schmuck fertigt sie nicht selbst an, sondern sie konzipiert ihn und dann übernehmen hilfreiche Angestellte die konkrete Ausführung. Wie bei den Büchern, von denen eines sich gegen den „Neid“ der Internetmeute richtet.

Beim Neid geht es darum, dass heute schon fast alle Menschen eigene Bücher schreiben, aber kaum je eines so tadellos verkauft wird wie „3096 Tage“ von Natascha Kampusch (und ihren Helferinnen). (Und verfilmt ist.) (Und ihr für kurze Zeit eine TV-Talk-Show im Privatfernsehen mit Niki Lauda und Veronica Ferres beschert hat.) (Teilen Sie die Zahl 3096 mit dem Taschenrechner kurz noch durch 365. Es sind wirklich acht Jahre und ein paar Monate. Fast ihr halbes Leben, als sie dann wieder rauskam. Und heute ist sie wieder normal. Schrecklich. Aber man neidet ihr das ganze Geld und den Ruhm.)

Übrigens hat sie das Haus gekauft, in dem sie damals vor zwanzig Jahren gefangen war. Der Wolfgang Přiklopil war ja eh schon tot. Der hat sich am Tag ihrer Flucht selbst gerichtet. Er war zu feig, selbst mal ins Gefängnis zu gehen.

. Die Geschichte spielt zwischen 1998 und 2006. Wolfgang Přiklopil ist ein verklemmter Anfangsdreißiger, hat früher als Nachrichtentechniker gearbeitet, ist aber schon lange arbeitslos. Schlecht lebt er nicht, allein in seinem Einfamilienhaus mit Garten, Garage, Lieferwagen, Skiausrüstung und so weiter. Die Fenster sind immer verschlossen, die Rollläden auch am Tag drunten. Wolfgang ist Single, Einzelgänger, Sonderling, Freunde oder Gäste hat er nie. Einziger Kontakt ist Ernst H., dem man später Mittäterschaft nachweisen will, der dann vom Gericht entlastet wird. Am Tag von Nataschas Flucht hat Wolfgang vor seinem Tod den Ernst noch angerufen.

Auch Natascha Kampusch hat später, als sie wieder draußen war, mehr als hundert Mal mit Ernst H. telefoniert. Sie brauchte einen, mit dem sie über Wolfgang Přiklopil sprechen konnte. Von Ernst H. haben die Behörden einen Abschiedsbrief Přiklopils bekommen, der vom Tag des Suizids stammen soll und nur vier Buchstaben enthält: MAMA. Das hat nicht gereicht für ein grafologisches Gutachten. Kurz nach Nataschas Verschwinden hatte Ernst H. 500.000 Schilling an den Přiklopil überwiesen. Wenig später hat Přiklopil ihm das zurück überwiesen, die Summe unwesentlich vermindert. Dabei soll es sich um „Schwarzgeld“ gehandelt haben, das Přiklopil für den „Freund“ aufbewahrt hat.

Übrigens hat Ernst H. Natascha mehrmals in jenen gut acht Jahren bei Wolfgang Přiklopil und auch draußen in der freien Welt mit ihm zusammen gesehen. Eine Bekannte wäre sie. Damit hat H. sich zufrieden gegeben. Wirkliche Freunde waren sie wohl doch nicht. Freunde hatte dieser Přiklopil sowieso keine.

Přiklopils Mutter und seine Großmutter haben ihn aber dauernd besucht und dann Stunden mit ihm verbracht in dem Haus, nur nie was mitbekommen. Unten drunter saß die kleine Natascha in der Hölle. So steht es im Buch. Hält man sich an den Film, muss die Mutter ihren Wolfgang zirka vier Mal pro Woche besucht haben. Sie kochte immer für ihn und brachte ihm vorgekochtes Essen in Töpfen für mehrere Tage. Achteinhalb Jahre aß da noch jemand mit. Das merkte sie aber halt nicht. Na ja, im Buch steht auch, dass Přiklopil sie, die immer ziemlich pummelig gewesen ist, systematisch ausgehungert hat. Als die Polizei auftauchte, wog sie 38 Kilo. Im Film freut die Mutter sich, als ein blondes Frauenhaar am Sohn hängen sieht. Wäre doch auch an der Zeit. Natascha Kampusch schreibt, dass sie, als sie kein Kind mehr war, sondern eine weibliche Jugendliche, im Haus oben zusammen als „Ehepaar“ gelebt haben. Wolfgang und die große Liebe. Wie die Schießhunde müssen sie aufgepasst haben, ob gerade jetzt die Mama und die Oma auf den Vorplatz einbiegen.

Per Zufall sieht ein schüchterner Anfangsdreißiger in einem Geschäft ein zehnjähriges Mädchen an der Seite seiner Mutter. Das Mädchen lächelt, da weiß er, die ist es. Wenn die dann groß ist, wird sie mich heiraten. Das Haus habe ich schon. Zuvor werde ich sie abrichten, mir hörig machen, damit sie treu bleibt. Es vergeht noch ein Jahr vom ersten Sichtkontakt bis zur Entführung, in welchem er einen Raum unter der Garage ausschachtet und mit allerlei Technik und Bequemlichkeiten einrichtet. Die Erde überführt er in kleinen Portionen mit seinem Lieferwagen in die Wälder. Immer wieder neue Plätze. Fenster gibt es keine, aber immerhin ein Klosett, Waschbecken, Ventilator, Kochplatte und Belüftungsrohr für die kleine Gefangene.

Verheiratet sind die Eltern der Kampusch nie gewesen, getrennt lebten sie schon vor der Entführung. Die Mutter intrigiert gegen den Vater und neidet ihm jeden Besuch seiner Tochter. Der Mann neigt dem Alkohol zu. Im Film sieht man ihn angeheitert mit einer Freundin beim Wein, Natascha verkümmert so am Rande. Zur Schule wird Natascha täglich von ihrer Mutter begleitet. Im Film laufen sie durch eine Betonburgensiedlung und wissen nicht, dass da der Mann sie immer wieder beobachtet hat. Einmal bleibt die Mutter zu Hause, weil sie mit Natascha gestritten hat. Der Mann stürzt aus seinem weißen Lieferwagen, packt die Kleine, schmeißt sie in den Laderaum - und sofort weg. Als sie die Augen aufmacht, liegt sie in einem Kellerkabuff unter der Erde. Der Ort ist nur wenige Kilometer von der Wohnung ihrer Mutter entfernt, aber das wird ihr nicht gesagt. Der Mann schüchtert sie ein. Wenn sie ihm nicht folgt, wird sie verkauft. Da sind noch andere Männer hinter ihm.

Einzige Zeugin dieser Tat ist ein anderes kleines Mädchen. Sie sagt - und wiederholt es bis heute -, dass sie nicht einen, sondern zwei Männer beim Lieferwagen gesehen hat. Einer saß am Steuer, der andere riss das Mädchen vom Bürgersteig und steckte es in den Rückraum. Die Polizei protokolliert es für die Akten. Aber die Justiz vernimmt diese Zeugin nie mehr, man sieht keine Veranlassung. Denn das Opfer, Natascha Kampusch, hat bezeugt, dass es nur diesen Einen gab, Wolfgang Přiklopil. Sie muss es ja wohl wissen und ihn kann man nicht mehr fragen.

Sehr schön fotografiert hat diese Verfilmung Michael Ballhaus, der Oscar-gekrönte Kameramann von, einstens, Fassbinder und Scorsese. Oft sieht der Film, besetzt mit dänischen und englischen Schauspielern, man merkt die Sychronisation, sehen die käsigen, verdrucksten, nicht brutalen, aber doch gestörten Menschen wie Gäste aus frühen Fassbinder-Arbeiten aus. Waren das nicht Satiren auf den spießbürgerlichen Traum vom abgesicherten Glück in der heterosexuellen Ehe und die verrutschten Visionen von Homosexuellen, diese Strukturen fürs Glücken der eigenen Existenzen übernehmen zu können? Kurt Raab und Margit Carstensen redeten damals in München so ähnlich wie Wolfgang Přiklopil im Film: „Ich liebe dich, wie dich sonst nie einer lieben wird. Du musst wissen, dass ich dein Glück bin. Du musst mir gehören, mir gehorchen. Je mehr ich dich beherrsche, desto größer ist die Liebe.“

Regisseurin des Lichtspiels ist die Deutsch-Amerikanerin Sherry Hormann, eine, die früher auf Komödien abonniert war, in denen Männer leicht verblödet und Frauen gewitzt sind. Also das Hauptgenre des deutschen Kinos seit Mitte der achtziger Jahre. (Und war es nicht irgendwie bei Heinz Rühmann und Hertha Feiler schon so?) Eine besondere Autorinnen-Handschrift ist dem Film allerdings nicht anzusehen. Verfilmt wurde das Buch nicht Frau Hormann zuliebe, sondern im Zuge des Constantin'schen Erfolgsrezepts von Bernd Eichinger: Verfilme nach Möglichkeit jedes bekannte belletristische Werk der letzten 30 Jahre, das viel Geld verdient hat, aber doch zu speziell für die Deutschsprachigen gewesen war, als dass man es im Ausland schon mal gemacht hätte. (Von „Momo“ bis zum „Baader-Meinhof-Komplex“.) Die Eichinger'sche Vorgehensweise: Es ist ziemlich egal, was da verfilmt wird, die Illustriertenleserin (gibt’s die noch, heute sieht man's im Handy) muss halt danach gieren. „Der Bestseller im Film!“

Die Kritiker schreiben dann, der Film ist nicht mal schlecht geworden, nur überflüssig. Im konkreten Fall von „3096 Tage“ meinten sie, es gebe Bücher, die man nicht verfilmen sollte. Okay, ich finde auch, man hätte lieber geschaut, wie Michael Haneke damit umgeht, aber Sherry Hormann macht es nicht schlecht.

„Ich habe unablässig darüber nachgedacht, wie ich ihm entkommen kann.“

Was passiert mit dem Körper und dem Geist von einem Mädchen, das jahrelang in einem, sagen wir, 7 Quadratmeter großen Raum unter der Erde eingesperrt ist, in dem es nur Kunstlicht und Luft aus einem Rohr gibt? Nur wenige Bewegungen sind für sie vorgesehen. Niemand richtet das Wort an sie, nur dieser eine Mann. Ich sage nicht, dass es so war. Es ist das, was Natascha Kampusch erzählt. Also stellt es der Film, der ihr Buch abbilden möchte, auch so nach.

Sie kann so oft und so laut schreien, wie sie will. Das Luftrohr endet in der Höhe überm Hausdach. Das Haus steht nicht fern der Zivilisation, sondern in einer gepflegten Siedlung mit Einfamilienhäusern, in der grünen Ebene Niederösterreichs, vor den Toren der Stadt Wien. Die Häuser hier sind ein paar Jahre alt und darum haben sie recht geräumige Gärten und dicht und hoch gewachsene Hecken. Die Nachbarn sprechen schon mal mit Přiklopil und er mit ihnen. Aber sie hören keine Schreie über den Dächern. Nachts lässt er das kleine Mädchen hin und wieder raus in den Garten. Unter seiner Überwachung darf sie laufen, muss still sein und sieht in den Mond am Himmel. Alles so im Film.

Sie hat eine Toilette. Das dürfte dann wohl eine Sickergrube befüllen, die vielleicht mal geleert werden muss. Hat nie jemand mitbekommen. Oder hat er das Klo unter der Garage hervor mit der Kanalisation der Gemeinde verbunden und das hat niemand bemerkt?

Mit der Zeit übernimmt die Maske des Filmteams und sie sieht sehr krank und abgemagert aus. Sie ist ein Mädchen, ein dickes Mädchen war sie, nicht erwachsen, Přiklopil kann sie weghauen. Es vergehen achteinhalb Jahre. Mit der Zeit einigen sich sich, dass sie ganze Tage oben in der abgeschlossenen Wohnung sein darf, auch alleine, wenn er weg ist, weil ihr klar ist, die Strafe wird fürchterlich, wenn sie sich auflehnt. Wolfgang Přiklopil wird nicht ein einziges Mal in der Welt oder der großen Stadt Wien für Stunden oder Tage an der Heimkehr gehindert. Also, ich fuhr früher Fahrrad. Eines Tages fuhr mich einer um. Da kam ich mehrere Tage nicht mehr heim. Wasser hatte sie zwar, aber Essen war meistens kaum im Haus. Seine Mutter wäre gekommen. Oder nicht? Er hätte sie aus dem Krankenhaus angerufen, bin im Krankenhaus, hat keinen Wert, komm nicht!

Früh hat Wolfgang erklärt, dass sie ein Liebespaar sind. Später werden sie heiraten. Sexuell hergefallen über sie, als Pädophiler, ist er nie. Schreibt Natascha Kampusch im Buch. Einer entführt eine dickliche Zehnjährige, weil er sie später zur Frau haben will. Sie darf dann auch neben ihm im Bett schlafen. Der Film zeigt, sie bekommt Handfesseln. Es ist, man gestatte mir diese Bemerkung, irgendwie komisch, wie oft im Buch kommt, er habe sie grausam behandelt, und zugleich mehrfach behauptet wird, sexuell habe er sie nicht angefasst. Während der Vorbereitung zur Verfilmung hat sie sich dann darauf eingelassen, dass schon auch mal Sex vorgekommen sei, als sie dann zur jungen Frau geworden war. Mit achtzehn kam sie ja raus. Im Film sieht man nur ihr Gesicht, wie sie unter ihm liegt und wegschaut. Sie will gar nicht da sein.

Die Läden am Haus sind unten, aber einmal ist der Rollladen vom Schlafzimmer halb oben und das Fenster ist auch auf. Man hört Autos fahren und die Vögel pfeifen. Man merkt, sie erkennt die Situation als besondere, als Chance vielleicht. Sie denkt nach. Sie schreit dann nicht.

Wenn er zum Skifahren in die Voralpen fährt, belädt sie sein Auto in der Garage. Er möchte sie doch endlich mal mitnehmen! „Vielleicht, wenn du brav bist.“ „Ich bin ja brav.“ „Dann ist ja gut.“ Im Buch steht, sie sind manchmal zusammen beim Skifahren gewesen. Sie glaubte nicht, dass sie genug Zeit hat, von ihm loszukommen und von fremden Leuten gerettet zu werden. Im Film eine Szene, sie erscheint anders als der Rest, sie könnte ihr Traum sein, da lässt er sie am Berg auf die Toilette gehen, die Damentoilette. Innen spricht sie eine erwachsene Frau an: „Helfen Sie mir! Bitte helfen Sie mir!“ Die Frau guckt sie nur an. Sie hat nicht verstanden. Eine Touristin, kann kein Deutsch.

Přiklopil renoviert das Haus. Das Schlafzimmer soll Fliederfarbe bekommen. Auf in den Baumarkt! Natascha, gebeutelt von ihren Emotionen, ein Häufchen Elend im Beifahrersitz. Draußen taucht die Innere Stadt von Wien auf. Freie Menschen, nur Glas davor. (Der kaltherzige Betrachter in mir erinnert sich gewisser SM-Kontaktanzeigen. Die Bottoms malten sich aus, wie sie gefesselt und geknebelt im Kofferraum zum Verlies gebracht werden.) An einem der viel zu großen und schweren Farbeimer überhebt sie sich, dann fällt ihr auf, dass er nicht mehr zu sehen ist. Nicht in diesem Gang, nicht im nächsten. Menschen kommen vorbei. Das Mädchen ist allein. Es muss ein Test sein, eine Falle. Er will sie erwischen und bestrafen, weil sie immer noch nicht gehorcht.

„Gehorche mir! Gehorche mir! Gehorche mir!“, schreit der Mann in den Hörer der Sprechanlage, die er in den Keller verlegt hat. (Oma und Mama müssen diesen Hörer nie bemerkt haben. Das sind Frauen, die achten nicht so auf Technik.)

Mir fällt ein, dass sie geschrieben hat, sie hat jeden Tag darüber nachgedacht, wie sie ihm entkommt, dabei irgendwie auch immer gewusst, dass es eines Tages mal gehen wird. Jetzt wohl doch noch nicht. (Die Schulpflicht, die elterliche Gewalt, der sie als Minderjährige unterlag?)

Sie renovieren. Sie sind ein gutes Team. Überall liegen schwere und scharfkantige Werkzeuge, Schraubendreher, Hammer, Bohrer, Spachtel, Messer. Doch der Wolfgang ist ein Mann und stark und brutal. Sie lässt es sein. Er hat sie abgemagert, eingeschüchtert, dressiert.

Übrigens schreibt sie zu seinem Tod, als sie davongelaufen war und er unter den Zug ging, im Grunde habe sie längst das Gefühl gehabt, dass die Geschichte nur noch mit dem Tod eines von ihnen beiden enden kann.

Im Jahr 2006 kommt Přiklopil zum Schluss, dass er seinen Lieferwagen, den er früher mal fürs Arbeiten gebraucht hat, eigentlich verkaufen kann, dann haben sie mehr zum Leben.

Wir denken an den Anfang des Films zurück. Eben erst hatte man das Mädchen mit Mutter und Oma zusammen gesehen, zwei, sagen wir mal, sehr eigenwillige und unsensible Menschen, von denen sie im Buch aber schreibt, sie hat sie immer geliebt. Sie hat ihre Tantiemen mit der Mutter geteilt und mit ihr eine neue Wohnung genommen. Dann war im Film ein harter Schnitt und man sah, wie die Polizei Autobesitzer befragte. Einer hat einen weißen Lieferwagen. „Wofür haben Sie den?“ „Für die Arbeit, ich bin Elektriker.“ „Machen Sie hinten mal auf.“ Dann liegen aber nur Kabeltrommeln drin. „Ich hab mir das schon gedacht, dass sie mich fragen. Wegen dem Mädchen im Fernsehen, das soll ein weißer Lieferwagen gewesen sein.“ „Wieso haben Sie die Rollläden unten, wenn heller Tag ist?“ „Ach, das ist so eine alte Gewohnheit von mir.“

Im Internet kann man nachlesen, dass die Polizei ihn nicht weiter verdächtigt hat, weil die Zeugin, jenes andere Mädchen, das gesehen haben will, wie die zwei Männer Natascha verschleppten, ausgesagt hatte, da wäre ein schwarzer Höcker am weißen Lieferwagen gewesen. So was hat er nicht. Übrigens kann man im Internet lesen, ein paar Leute hätten der Polizei den Tipp Přiklopil gegeben, dieser sei ein Pädophiler, der öfters um Mädchen herumgestrichen sei. Man hat das nicht wichtig genommen. Nachrede missgünstiger Gestalten, die sich aufspielen. Er war auch nicht pädophil, wie Kampusch im Buch doch bestätigt.

Jetzt lässt er sie raus, den Lieferwagen waschen. Anruf auf Přiklopils Handy, zu viel Lärm, er versteht es nicht richtig. Jetzt geht er ins Haus hinein. Jetzt schaut sie über den Vorplatz ans Tor. Das Tor steht – unfassbar – ein Stück weit offen. Es zerreißt sie. Es heute noch wagen? Jetzt rennt sie los. Sie läuft durch mehrere Straßen, um mehrere Ecken. Im Film scheint es die Zeit der Mittagsruhe zu sein. August, die Sonne scheint, das Wetter tadellos, alles hell, nirgendwo Menschen. Nun ja, Einfamilienhaussiedlungen können schon sehr leer sein.

Natascha rennt, warum auch immer, an den Häusern vorbei und in eine Kleingartenkolonie hinein. Bei einer Hütte eine Frau. Ihr vertraut Natascha sich an, die Polizei wird gerufen. Er, Přiklopil, als er erkennt, sie ist ihm auf und davon, streift sofort auch durch die Siedlung. Er ist fertig, Tränen in den Augen. Was hat sie nur getan, seine Liebe? Alles ist zu Ende. Er geht unter den Zug und ist dann gleich tot. Im Film ist das eine kleine Rangierlok mit einem einzigen Wagen, die über eine eingleisige Strecke ins Teleobjektiv zuckelt. Mag in der Wirklichkeit ein rasender Zug gewesen sein, die Nordbahn. Die Internetschreiber bringen das Gerücht auf, Přiklopil sei erst als Toter auf die Schienen gelegt worden. Es existiert aber der erwähnte Abschiedsbrief: „MAMA“ (Du wirst doch nicht um deinen Jungen weinen.)

Nach dem Roman und vor dem Film ist die Kampusch mit ihren Vater zerstritten gewesen. Sie hatte sich auf die Seite ihrer Mutter geschlagen. Mit diesem Přiklopil hätte sie sich heimlich länger angefreundet gehabt und als sie nicht mehr zur Schule und nicht zur Mutter gewollt habe (und nicht zu ihm, der im Film wie ein Hirni aussieht), habe sie dem Jugendamt, an das sie sich hätte wenden müssen, um in ein Heim zu kommen, diesen Pädophilen (oder eher Sadisten?) vorgezogen.

Das ließ die Autorin nicht auf sich sitzen, sondern trat, im Exil, in München, vor die Presse und sagte: „Ich bin erschüttert, wie mein Vater öffentlich so über die eigene Tochter reden kann.“

Noch mal ein Bestseller ist dann nicht mehr gekommen, weitere Bücher schon noch.

Es hat eine Sonderermittlungskommission gegeben um zu klären, wie das überhaupt geschehen konnte. Im Abschlussbericht stand, dass die Geschichte so stimmt, wie Natascha Kampusch sie erzählt. Es hat keine Ermittlungsfehler gegeben. Es hat keine Mittäter gegeben. Es hat keine Zeugen des unmittelbaren Menschenraubs und dann auch keine ihrer Sklaverei gegeben. Der Einzige, der was anderes hätte sagen können, ist tot. Der Chef von der Ermittlungskommission ist auch tot. Hat sich auch selbst getötet. Was die Kampusch von ihren Neidern im Internet unterscheidet: Sie konnte ihren Roman nach dem beispiellosen Medienrummel extrem gut verkaufen, weil es eben gar kein Roman war. Niemand kann ihr nachweisen, dass es doch ein Roman ist. Es gibt keine Zeugen. Der perfekte Roman eigentlich. (Traum des Belletristen.)

Im Film sehen Nataschas Mutter und ihre Großmutter irgendwann die Schlagzeile einer Boulevard-Zeitung: „Kampuschs Mutter: Ich glaube nicht, dass meine Tochter noch lebt“. „Wie konntest du so etwas nur sagen!“, regt Oma sich auf. „Das habe ich nicht gesagt. Die schreiben doch, was sie wollen.“ Später sieht man, wie Großmutter und Mutter Pullis für Natascha stricken. Sie muss bald heimkommen. Der Film endet mit ihrer glücklichen Umarmung. In „3096 Tage“ schreibt sie, ohne diese Mutter wäre sie heil und gesund aus dieser Sache nie mehr herausgekommen. Neider-Stimmen des Internets tratschten, Wolfgang Přiklopil und die Mutter habe man mehrmals zusammen gesehen in den achteinhalb Jahren.


 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Klaus Mattes).
Der Beitrag wurde von Klaus Mattes auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.09.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

Bild von Klaus Mattes

  Klaus Mattes als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

übers Jahr im Kastanienbaum: Gedichte von Regina Elfryda Braunsdorf



lyrische Momente übers Jahr eingefangen, verinnerlicht und aufgeschrieben: Auszug: Der Letzte ist gekommen. Ich habe gemacht und geträumt, mich auf Wiesen gerollt, in Wolken gelegt und in der Zeit die Zeit verloren...

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Liebesgeschichten" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Klaus Mattes

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Ich habe auch einen Roman geschrieben / 0020 von Klaus Mattes (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Stanniolvögel von Ingrid Drewing (Liebesgeschichten)
An mein Blatt Papier von Adalbert Nagele (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen