Horst Radmacher

Der Dümmere gibt nicht nach

Franz Wolter sitzt abends zuhause auf seiner Couch und schaltet den Fernseher ein. Dies kommt häufig vor. Nicht so häufig kommt es vor, dass er dabei schlecht gelaunt ist, und das ausgerechnet am Weihnachtsvorabend.

Franz kommt gerade von seiner Familie, mit der er eigentlich dieses Fest am nächsten Tag gemeinsam begehen wollte. Diesmal sogar mit Übernachtung. Opa muss mal raus, und Platz genug haben wir ja, so lautet das Motto. Dazu kommt es jedoch nicht, da in diesem Jahr die obligatorische Debatte über die Abläufe des Festes ausufert. Es ist das erste Mal seit vielen Jahren, dass Opa Franz sich nicht anpasst. Dieses künstliche Ambiente, zu viel an buntem Plastik, zu viel an amerikanischer Weihnachtsmusik, jedes Jahr die gleiche Debatte um schrille Farben und süßliche Musik, die Diskussion über zu Bestellscheinen umfunktionierte Wunschzettel, das stört ihn. Dabei mag Franz Weihnachten, aber eher traditionell und besinnlich. Bisher hatte seine Frau Ingeborg immer die Wogen glätten können, wenn die Diskussion schärfere Formen anzunehmen droht. Ihren Gatten Franz bringt sie dann schnell wieder auf normale Betriebstemperatur zurück. Nach einem, „Franz, der Klügere gibt nach,“ ist er bald wieder im grünen Bereich. Alle besinnen sich dann irgendwann auf das eigentlich Wichtige und es wird jedes Mal ein harmonischer Heiligabend.

In diesem Jahr ist es anders; Ingeborg ist vor einem knappen Jahr gestorben. Die Trauer um sie hat den Witwer Franz verändert und das macht sich auch in der Diskussion um die Abläufe am Heiligen Abend bemerkbar. Er reagiert bissiger als gewohnt, nicht mehr im Sinne von Ingeborgs diplomatischen Ratschlägen. Franz dreht den oft benutzten Spruch nun um, und mit einem: „Der Dümmere gibt nicht nach,“ verlässt er verärgert die Familie, und alle grübeln, wen er damit gemeint haben könnte. Der wird sich schon wieder einkriegen, denken die übrigen Familienmitglieder, und bis morgen ist ja noch Zeit.

Franz Wolter macht sich auf den Weg zu sich nach Hause. Auf der verschneiten Wegstrecke muss er sich stark aufs Fahren konzentrieren und so ist der gröbste Ärger nach der knapp einstündigen Autofahrt verflogen. Er nimmt sich vor, auf keinen Fall bei seinen Leuten anzurufen, um die Wogen wieder zu glätten, damit tags darauf dann gemeinsam gefeiert werden kann. Und außerdem, das wollen wir doch mal sehen, wer hier der Dümmere ist.

Doch dazu kommt es nicht mehr. Das winterliche Wetter ist umgeschlagen und aus dem strengen Frost mit Eis und Schnee wird über Nacht Schneematsch und Regen, der sich im Laufe des Tages in Blitzeis verwandelt. Für den Nachmittag und Abend des vierundzwanzigsten Dezember ergeht wegen extremer Eisglätte eine Unwetterwarnung für die gesamte Region. Es wird dringend davor gewarnt, das Haus an diesem zu verlassen. An eine Autofahrt auf Nebenstraßen, so eine wie von Franz' Haus in die benachbarte Kleinstadt zu seiner Familie, ist überhaupt nicht zu denken.

Franz Wolter wird Heiligabend bei sich zuhause verbringen müssen, was er inzwischen bedauert, trotz des Streits. Dies hat er seinem Sohn am frühen Morgen auch so am Telefon gesagt. Bei allen Beteiligten ist inzwischen der Zorn verraucht; über die Frage, wer der Dümmere sei, können beide Seiten nun lachen, es ist ja schließlich Weihnachten. Und so verbringt Franz Wolter den ersten Heiligabend nach dem Tod seiner Frau alleine. Keine Situation, um in gehobene Festtagsstimmung zu kommen.

Er hat in dieser Lage kaum eine andere Option, als sich das wie erwartet öde weihnachtliche Fernsehprogramm schön zu trinken. Und damit kommt er gut voran. Schon nach zwei Gläsern Rotwein erscheint alles viel freundlicher. Er zecht genüsslich vor sich hin. Aber kurze Zeit später verfällt er ins Grübeln, er, der sonst so souverän im Leben steht. Dieses Leben fühlt sich nicht mehr so unbeschwert wie früher an. Kein Wunder nach dem Tod der Ehefrau.

Ein Gefühl der Melancholie steigt in ihm auf. Dass ihm der Verlust seiner Frau schwer getroffen hat, spürte er schon vorher. Aber nun noch das Hick-Hack um die Familie und das Weihnachtsfest, dazu das beschissene Wetter, das alles macht ihm jetzt doch zu schaffen. Aber ist es wirklich nur das verpasste Fest? Wie auch immer, es ist der Abend, an dem er im angetrunkenen Zustand ein neues, klareres Bild von sich gewinnt, zumindest scheint es ihm so. Franz Wolter reflektiert sein Dasein, er kommt zu einem Ergebnis, er fühlt sich isoliert. Möglicherweise ist es das Gefühl der Einsamkeit, das ihn über sich und das Verhältnis zu anderen Menschen grübeln lässt. Vielleicht sind es ja nicht in erster Linie Liebe und Zuneigung, die man ihm entgegenbringt, sondern eher Respekt und Achtung vor seiner präsenten Persönlichkeit, die von Bildung und Wissen dominiert wird. Und möglicherweise ist er zu schwerhörig und zu ungeduldig gegenüber den Gefühlsäußerungen anderer Menschen. Franz zweifelt an sich.

Seine Gedanken verlieren allmählich an Klarheit. Gleichwohl, er ist noch Herr seiner Sinne, als er in sein Arbeitszimmer geht, um den Humidor mit der letzten dort verbliebenen Zigarre zu holen. Die hat er eher als Mahnmal denn als Erinnerungsstück aufbewahrt. Nach seinem Herzinfarkt vor zwei Jahren hatte er aufgehört zu rauchen, was ihm nicht leicht gefallen ist. Aber heute, in dieser bedrückten Stimmung, will er sie noch einmal genießen, seine einst so geliebte Havanna Cohiba No. 1. Die ersten Züge dieses schweren, stark aromatischen Rauchs schmecken befremdlich; dann kommt er in vertraute Genusserlebnisse dieses starken Tabaks.

Mit einem exzellenten Rotwein, einer guten Zigarre und grottenschlechtem Fernsehprogramm endet Franz Wolters erster Weihnachtsabend allein zuhause. Es ist gleichzeitig sein letzter Tag im Leben. Er erliegt einem Herzinfarkt in dieser Weihnachtsnacht. Die frischeste Erinnerung, die seine Familie an ihn hat, ist die überflüssige Diskussion über die Deutung des Spruchs: „Der Dümmere gibt nicht nach.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.12.2023. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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