Heinz-Walter Hoetter

Noch einmal drei Geschichten zum Jahresanfang

 


 

       1. Der alte Mann auf dem Marktplatz

  1. Das Gleichnis mit dem Geldschein

  2. Der alte Mann und das Dorf


 

1. Der alte Mann auf dem Markt


 


 

Auf einem belebten Wochenmarkt kam ein junger Mann an einem Verkaufsstand vorbei, der etwas abseits in einer kleinen Seitengasse angesiedelt war.

Ein ziemlich betagter Herr mit einem grauen Hut auf dem Kopf saß geduldig auf einer einfachen Holzkiste und wartete auf Kundschaft, die hier allerdings nur selten vorbei kam.

Der junge Mann ging auf den Stand zu und musste zu seiner großen Verwunderung feststellen, dass der Alte keine Ware auf dem Tisch liegen hatte.

"Sie haben hier einen Stand ohne Ware aufgebaut. Was verkaufen sie denn eigentlich?" fragte er den alten Herrn.

"Oh, ich verkaufe hier nichts, sondern verschenke nur alles, was des Menschen Herz so begehrt", antwortete dieser mit ruhiger Stimme.

Der junge Mann war ziemlich verblüfft über diese seltsame Antwort. Er dachte zuerst, dass es sich um einen Scherz handelte.

"Sie verschenken also alles, was das Herz des Menschen begehrt - oder? Aber ich sehe hier keine Geschenke liegen. Der Tisch ist doch leer", erwiderte der junge Mann mit einem mitleidigen Lächeln im Gesicht.

Der Alte zog plötzlich ein Buch aus einer vergilbten Ledertasche hervor, schlug es auf und legte es dem jungen Mann so hin, dass er darin lesen konnte.

"Nun, was ich hier anbiete, kann man eigentlich nicht sehen. Aber in diesem Buch steht alles Wichtige drin, wonach des Menschen Herz begehrt. Sie können sich davon das aussuchen, was ihnen für ihr eigenes Leben wichtig erscheint."

Der junge Mann sah sich Seite für Seite genau an. Überall standen Begriffe wie Gesundheit, Liebe, Fürsorge, Glück und vieles andere mehr. Er blättere im ganzen Buch herum, bis er sich schließlich dazu entschieden hatte, wonach sein Herz begehrte. Er wollte den alten Mann nicht enttäuschen und nahm sich deshalb vor, das Spielchen bis zum Ende durchzuziehen.

"Sie haben sich entschieden?" fragte der Alte stirnrunzelnd.

"Ja, das habe ich", antwortete der junge Mann mit einem gequälten Lächeln im Gesicht.

Dann sprach er weiter: "Ich wünsche für mich in erster Linie Gesundheit, für meine Seele stets Frieden, Ruhe, Liebe, Zufriedenheit und Glück. Ich möchte ein weiser Mensch werden und keine Angst mehr in meinem Leben haben, egal was auch immer kommen mag."

"Oh, Sie haben eine gute Wahl getroffen, junger Mann. Ich habe bereits all ihre Wünsche als Samen in ihr Herz gepflanzt. Sie werden sehen, wie er im Verlauf ihres Lebens in ihnen wächst und gedeiht, bis er sich schließlich zur vollen Reife ausgewachsen hat. Sie werden nicht enttäuscht werden, denn ich stehe immer zu meinem Wort. Außerdem ist alles kostenlos gewesen", sprach der Alte lächelnd und steckte das Buch wieder weg.

Dem jungen Mann war auf einmal etwas seltsam zumute, weil er dachte, dass er das Spiel mit dem alten Herrn einfach zu weit getrieben hatte.

Dann sagte er: "Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, da meine Wünsche doch nur Gott erfüllen kann. Sie sind ja nur ein Mensch, und Menschen können so etwas nicht. Sie haben es zwar gut mit mir gemeint, doch ich denke, dass alles wohl nur eine Art von Scherz war. Meine Wünsche werden daher bestimmt nicht in Erfüllung gehen. - Na ja, wie auch immer. Es war auf jeden Fall sehr unterhaltsam mit ihnen. Ich muss jetzt aber wieder gehen."

 

"Sie irren da gewaltig, junger Mann, aber sagen Sie es bitte nicht weiter, denn es soll ein ewiges Geheimnis zwischen ihnen und mir bleiben: "Ich bin Gott."

 

ENDE

 

(c)Heinz-Walter Hoetter

 

 

 

***

 

 

2. Das Gleichnis mit dem Geldschein


 

Auf dem Marktplatz einer großen Stadt in Deutschland stand ein bekannter Redner vor einer großen Menschenmenge, die sich um ihn herum versammelt hatte, um andächtig seinen weisen Erzählungen zu lauschen. Kurz vor dem Ende seiner Veranstaltung zog er plötzlich einen 50 Euro Schein aus der Tasche und hielt in weit nach oben in die Luft.

Dann rief er mit lauter Stimme ins Mikrofon: "Wer von euch diesen 50 Euro Schein haben möchte, der hebe die Hand."

Fast alle Hände gingen schlagartig nach oben und allgemeiner Jubel brach aus. Jeder wollte den Geldschein haben.

Der Redner bat die Zuschauer, ihre Hände wieder runter zu nehmen. Dann klemmte er den 50 Euro Schein in seine geschlossene Faust und zerknitterte ihn so stark, dass er wie ein Papierknöllchen aussah.

"Wer von euch will diesen Schein jetzt noch?" rief er abermals in die Menge.

Wieder gingen fast alle Hände nach oben. Jeder wollte den zerknüllten 50 Euro Schein trotzdem haben.

Plötzlich warf der Redner den lädierten Geldschein vor sich in den Dreck, trat sogar noch absichtlich darauf herum, hob ihn schließlich wieder auf und riss ihn grinsend vor aller Augen in vier Teile auseinander. Ein dumpfes Raunen ging durch die Menge, weil der 50 Euro Schein jetzt so gut wie unbrauchbar geworden war.

"Wer von euch möchte diesen Geldschein haben, obwohl er zerknüllt, dreckig und zerrissen ist?" frage er die Leute abermals und wartete ab, was geschehen würde.

Und siehe da, es gingen immer noch viele Hände nach oben, obwohl der 50 Euro Schein schon total kaputt vor ihnen lag.

Nach einer kurzen Pause ergriff der Redner dann wieder das Wort und sprach: "Meine lieben Zuhörerinnen und Zuhörer! Ihr werdet von mir jetzt wohl wissen wollen, was ich euch mit diesem kleinen Experiment sagen wollte? Das ist einfach zu erklären! Nun, es kommt manchmal vor, dass wir in unserem Leben zu Boden geworfen werden und sprichwörtlich im Dreck landen. Zerknittert hadern wir dann mit unserem Schicksal, weil wir uns schlecht behandelt fühlen. In solchen Situationen kommen wir uns wertlos vor, halten unser Leben für gescheitert und sind verbittert. Das muss aber nicht sein. Denn, egal was auch immer mit uns passiert, jeder einzelne von uns verliert niemals an Wert, gleichgültig, ob er schmutzig geworden ist oder sich für sauber hält. Hat der 50 Euro Schein denn auch an Wert verloren, obwohl ich ihn zerknüllte, ihn mit Dreck besudelte und am Ende auch noch zerriss? Nein! Er hat trotz allem seinen Wert behalten. Gleiches gilt für das menschliche Individuum. Jeder von uns ist unendlich wertvoll und damit unbezahlbar. Die Schöpfung kennt kein sinnloses Leben. Das Gegenteil ist der Fall. Das Leben eines jeden einzelnen von uns muss als Geschenk der Liebe betrachtet werden. Wir haben den Auftrag, etwas sinnvolles daraus zu machen. Auch wenn wir in den Schmutz fallen oder uns das Schicksal schwer zusetzt und nicht selten in die Verzweiflung treibt, so verändert sich der Mensch im Kern nicht, weil sein ursprünglicher Persönlichkeitsanteil, die Seele, unsterblich ist. Das ist unser Persönlichkeitsanteil am ewigen Leben. Ihr habt ja gesehen, was ich mit dem 50 Euro Schein gemacht habe. Trotzdem hat sich der Wert des Geldscheines nicht verändert, obwohl er von mir fast bis zur Unkenntlichkeit beschädigt wurde. Denkt immer daran, was ich euch damit sagen will. Jeder einzelne Mensch behält seinen Wert, egal was auch immer mit ihm geschehen mag, sei es nun gut oder böse. - So, die Veranstaltung ist hiermit beendet. Ich wünsche euch allen noch einen schönen Tag und kommt gut nach Hause!"



ENDE



(c)Heinz-Walter Hoetter

 

 

 

***

 

 

 

3. Der alte Mann und das Dorf

 

 

Ein alter Mann kam in ein Dorf, das in einem schönen grünen Tal lag und sagte zu den neugierigen Bewohnern, die ihm zuhörten, dass er unterwegs einen wohlhabenden Kaufmann getroffen hätte, der auf dem Weg zu ihnen sei, um bunte Papageien für gutes Geld zu kaufen. Er gab ihnen daher den guten Rat, schon mal welche zu fangen, damit sie nicht mit leeren Händen dastünden, wenn er bald zu ihnen ins Dorf käme. Sie würden bestimmt ein gutes Geschäft mit ihm machen. Außerdem verlange er für seine Information nur eine kostenlose Mahlzeit von ihnen. Danach zöge er weiter.

 

Die Dorfbewohner waren allerdings sehr misstrauische Menschen und glaubten dem Fremden nicht. Sie vermuteten nur einen üblen Trick dahinter und dachten sich, dass er sich auf diese billige Tour nur ein kostenloses Essen erschleichen wolle. Deshalb fingen sie auch keine bunten Papageien, um sie später dem wohlhabenden Kaufmann anbieten zu können und jagten den vermeintlichen Betrüger unter wüsten Beschimpfungen zum Dorf hinaus.

 

Der Tag verging, und tatsächlich behielten die Dorfbewohner Recht. Es kam kein wohlhabender Kaufmann vorbei, der bunte Papageien von ihnen abkaufen wollte. Sie fühlten sich daher in ihrem Misstrauen bestätigt und waren froh darüber, dem Betrüger nicht auf den Leim gegangen zu sein.

 

Es dauerte eine gewisse Zeit, da kam der gleiche alte Mann wieder in ihr schönes Dorf und verkündete lautstark, dass er auf dem Weg zu ihnen diesmal einen reichen König mitsamt seinem herrlichen Gefolge angetroffen hätte, der auf dem Weg zu ihnen sei, um in ihrem Dorf zu übernachten. Er hatte außerdem in Erfahrung bringen können, dass die edlen Herrschaften besonders auf ein gutes Essen und ein ruhiges, ungestörtes Nachtlager allergrößten Wert legten. Wenn sie schon mal jetzt alles vorbereiteten, würde der König bestimmt gerne bleiben und sie machten ein gutes Geschäft mit ihm. Außerdem verlange er für seine Information nur eine kostenlose Mahlzeit von ihnen. Danach zöge er weiter.

 

Da die Dorfbewohner den Alten schon kannten, misstrauten sie ihm auch diesmal. Sie vermuteten wieder nur einen üblen Trick dahinter, glaubten ihm abermals nicht und gaben ihm auch nichts zu essen, sondern jagten ihn einfach unter wüsten Beschimpfungen zum Dorf hinaus. Einige der Leute schlugen den alten Mann sogar, weil sie ihn für einen schamlosen Betrüger hielten.

 

Aber seltsamerweise behielten die Dorfbewohner auch diesmal Recht. Es kam kein reicher König mit seinem herrlichen Gefolge zu ihnen ins Dorf, um bei ihnen zu verweilen. Und weil das so war, stärkte das natürlich ihr Misstrauen noch weiter. Sie waren froh, dem vermeintlichen Betrüger nicht auf den Leim gegangen zu sein.

 

Die Zeit ging dahin.

 

Doch eines Tages kam der gleiche alte Mann wieder zu ihnen ins Dorf und berichtete den Bewohnern davon, dass er unterwegs, weit vor der letzten Weggabelung, einer schwarz gekleideten Gestalt mit einer langen scharfen Sense begegnet sei, die ihm davon erzählt hätte, dass er die Pest zu ihnen ins Dorf bringen wolle, um reiche Seelenernte zu halten.

 

Er gab ihnen daher den weisen Rat, das Dorf rechtzeitig zu verlassen, um sich vor dem Schwarzen Tod in Sicherheit zu bringen. Wenn dann alles vorbei ist, könnten sie wieder unbeschadet zurück kehren. Außerdem verlange er nur eine warme Mahlzeit für seine Information, was ja nicht besonders viel sei, da er ihnen mit seiner rechtzeitigen Warnung doch allen das Leben rette. Dann zöge er auf jeden Fall weiter.

 

Aber auch jetzt glaubten die Bewohner aus dem schönen Dorf dem alten Mann nicht, denn er hatte sie schon vorher zweimal schamlos betrogen, wie sie dachten.

 

Sie beschimpften ihn deshalb aufs Übelste, denn sie waren der Annahme, dass er sie nur mit seinem bösen Trick in Angst und Schrecken versetzen wollte, um an eine kostenlose Mahlzeit zu gelangen. Die Dorfbewohner wurden wütend. Aus lauter Ärger über seine angeblich dreisten Lügen traten sie ihn mit den Füßen, schlugen ihm ins Gesicht und stießen ihn brutal zu Boden. Zum Schluss warfen sie den Alten blutend zum Dorf hinaus.

 

Es war noch am gleichen Tag, spät abends in finsterer, mondloser Nacht, als eine schwarz gekleidete Gestalt das einsam daliegende Dorf betrat und von einer Tür zur anderen huschte. Fürchterliche Schreie drangen bald darauf aus jedem einzelnen Haus. Die erschreckten Dorfbewohner liefen hinaus auf die Dorfstraße und riefen in panischer Angst: „Der Schwarze Tod ist da! Die Pest ist unter uns! Flieht, flieht, solange ihr noch könnt!“

 

Doch es war zu spät. Einer nach dem anderen raffte der Schwarze Tod dahin, bis alle Dorfbewohner an der Pest elendig zugrunde gegangen waren.

 

 

***

 

Viele, viele Jahre später.

 

Ein alter Mann mit einem krümmen Rücken kam in ein Dorf, das in einem schönen grünen Tal lag. Er traf auf keine Menschenseele. Alles war wie ausgestorben. Die meisten Häuser waren verfallen und eingestürzt, manche sogar bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Der ganze Ort war mit Bäumen und Büschen, Gras, Moos und anderen Wildpflanzen überwuchert. So auch die Dorfstraße, die jetzt fast wie eine langgezogene Wiese aussah.

 

Der Alte sah sich nachdenklich um und murmelt halblaut vor sich hin.

 

Ich sagte ihnen stets die Wahrheit. Wenn sie mir doch wenigstens geglaubt hätten, wäre der wohlhabende Kaufmann und der reiche König mit seiner Gefolgschaft zu ihnen gekommen. Aber sie behandelten mich schlecht, gaben mir nichts zu essen, schlugen mich sogar und hielten mich obendrein noch für einen Lügner. Ich berichtete dem Kaufmann und dem König davon, was mir bei den Dorfbewohnern an üblem Unrecht widerfahren war und siehe da, beide mieden das Dorf. Und den Schwarzen Tod? Ja, ich hätte für sie sogar gelogen, gegen alle meine Prinzipien der Liebe zur Wahrheit verstoßen und diesen schrecklichen Gesellen an der Weggabelung in die falsche Richtung geschickt, um das Leben der Dorfbewohner zu retten. Aber nachdem die Leute mich so schlecht und unmenschlich behandelt hatten, wies ich ihm kurzerhand den rechten Weg zu ihrem Ort in finsterer Nacht. Ich sagte ihm nichts weiter, als die Wahrheit.“

 

Der alte Mann setzte sich mit schlurfenden Schritten langsam in Bewegung und ging gebeugt über die mit hohem Gras bewachsene Wiese, die einmal eine Dorfstraße war. Er sah kein einziges Mal zurück. Dann war er plötzlich wie im Nichts verschwunden.

 

Nur die hohen Bäume des verfallenen Dorfes rauschten sanft wie stumme Zeugen leise im Wind.

 

 

ENDE

 

© Heinz-Walter Hoetter

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.01.2024. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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