Heinz-Walter Hoetter

Drei Geschichten zum Jahresanfang 2024

 


 

     1. Das unsterbliche Wesen MARIA

  1. Zeitreise nach Golgatha

  2. Nur ein Spielzeug?


 


 

1. Das unsterbliche Wesen M A R I A

 

Das Fenster stand offen und von draußen kam der Geruch einer frisch gemähten Wiese herein.

Maria lag auf ihrem breiten Bett und schloss die Augen. Draußen braute sich ein Unwetter zusammen. Ganz plötzlich fing es an zu regnen. Dann setzte ein Donnergrollen ein. Blitze zuckten vom Himmel. Der Regen trommelte wie wild oben aufs Dach, und die junge Frau spürte auf einmal die warmen Hände ihre Freundes Marlon, der zu ihr ins Bett gekommen war.

Maria hatte schon lange sein Begehren gespürt. Er berührte sie jetzt am ganzen Körper und für beide gab es nun nichts mehr zu verbergen.

Maria rollte sich auf den Rücken, zog Marlon zu sich heran und nahm ihn ganz fest in die Arme. Sie entkleideten sich schließlich und liebten sich wortlos in der aufkommenden Dunkelheit der Nacht, in der ein Gewitter tobte.

Später fiel Marlon in einen tiefen Schlaf. Er hatte den rechten Arm um Marias Taille geschlungen und sich ganz dicht an seine wunderschöne Freundin geschmiegt. Sie dagegen spürte seinen warmen Körper und wie sein Herz ruhig und gleichmäßig pochte.

Die junge Frau lauschte auf das Geräusch des herab prasselnden Regens, der unaufhörlich auf das Dach fiel.

Maria lag noch eine Weile so da, bis sie selbst plötzlich einschlief und zu träumen begann.

Sie träumte, dass sie weit über der Erde schwebte. Trotzdem konnte sie alles klar und deutlich erkennen. Ihr Haus schien aus Glas zu sein. Alles darin hatte klare Strukturen. Und während sie so zusah, dehnten sich auf einmal die Strukturen unter ihr in die Zukunft aus. Sie sah Kinder im Haus spielen, die ihre waren. Sie ahnte die viele Arbeit, die auf sie zukommen würde, aber sie spürte auch die Liebe, die von Marlon und ihren zukünftigen Kindern ausstrahlte. Ein unumkehrbarer Wandel kündige sich an. Sie hatte sich endgültig für ein neues Leben entschieden. Der Traum endete so abrupt, wie er begonnen hatte.

Maria wachte für einen kurzen Moment auf. Kühle Luft strich über ihre geröteten Wangen. Sie zog die wärmende Decke höher. Sie spürte Marlons regelmäßigen Atem in ihrem Gesicht. Er murmelte etwas in sich hinein, was sie aber nicht verstand. Scheinbar träumte auch er.

Egal wie warm der Augenblick auch für beide war oder wie zuverlässig sein Herz schlug, sie konnte nicht verstehen, dass eines Tages Marlons Herz irgendwann stillstehen bleiben würde, denn Menschen waren nicht von Dauer und keines dieser sterblichen Geschöpfe, die sich Menschen nannten, lebte ewig.

Das war bei ihr ganz anders. Sie war ein unsterbliches Wesen, das aus den tiefen des Alls auf die Erde gekommen war und sich in eine schöne junge Frau verwandelt hatte. Den Namen Maria fand sie rein zufällig in einem Buch, das sich Bibel nannte, welches sie kurz nach ihrer Ankunft auf der Erde in einem verlassenen Haus entdeckte. Bald darauf mischte sie sich unauffällig unter die Menschen und begann sich an sie zu gewöhnen.

Sie drehte sich jetzt nach Marlon um und schaute ihm ins Gesicht. Sie fühlte sich wohl in der Nähe dieses Erdenmannes, der groß und kräftig war wie ein gut trainierter Athlet. Sie kannten sich schon länger. Sie spürte schon bald, wie er sie über alles liebte. Das war es, wonach sie als unsterbliches Wesen immer wieder suchte. Deshalb war sie bei ihm geblieben und wollte alles mit ihm zusammen teilen und erleben. Nichts würde sie auslassen wollen, auch leidvolle Erfahrungen nicht.

Doch gleichzeitig begriff sie auch, dass jeder Augenblick mit Marlon die einzige Unsterblichkeit war, die sie mit ihm teilen würde, und sie war froh, diesen Augenblick zu haben, denn mehr brauchte sie nicht.

Nach einer Weile schlief Maria wieder ein, und sie träumte von den unzähligen Welten, auf denen sie schon in ihrem unsterblichen Leben war, dort draußen in der Unendlichkeit von Raum und Zeit.


 

ENDE

(c)Heinz-Walter Hoetter

 

 

 

***

 

2. Zeitreise nach Golgatha


 


 


 

Ein flimmernder, gleißend heller Lichtschein erhellte die Umgebung und wurde schnell größer. Es roch nach elektrischer Entladung, wie nach einem Blitzeinschlag. Eine menschliche Gestalt in einem langen altertümlichen Gewand materialisierte, blieb zuerst regungslos stehen, sah sich schließlich nach allen Seiten verwundert um, als würde sich der Verstand weigern, die ungeheuerliche Tatsache zu akzeptieren, was soeben geschehen war und trat schließlich behutsam einen Schritt vor. Das pulsierende Energieportal hinter ihm schrumpfte mit einem scharfen Zischgeräusch plötzlich in sich zusammen, bis es schließlich in einem immer kleiner werdenden Lichtpunkt ganz verschwunden war.


 

Im nächsten Moment brach eine wahre Flut von Sinneseindrücken über den Zeitreisenden herein. Ein Gefühl des Triumphes kam in ihm hoch, das ihn zu übermannen drohte. Sein Verstand bewegte sich hart an der Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn. Doch er riss sich zusammen.


 

Er hatte den Zeitsprung ohne jeden Schaden überstanden.


 

Trotz einer mehrere Sekunden lang anhaltenden Schwäche, die er als Zeichen der vorausgegangenen Anspannungen deutete, empfand er eine vollkommene Genugtuung über das gerade Geschehene.


 

Er warf einen kurzen Blick auf die klobige Multifunktionsarmbanduhr, die sich unter seinem weiten Ärmel am linken Handgelenk befand. Ihm wurde sofort klar, dass ihm ab jetzt nur zehn bis fünfzehn Minuten blieben, um einige Fotos mit der Spezialkamera für den Beweis seines erfolgreichen Zeitsprunges machen zu können.


 

Es wurde also höchste Zeit.


 

Die versteckte Navigationseinheit an seinem präparierten Holzstab war ein technisches Wunderwerk in Miniformat und wies dem Zeitreisenden den Weg zur Schädelstätte, die außerhalb der Mauern der Stadt Jerusalem lag. Der Platz hieß auf hebräisch „Golgatha“. Es war der Ort, wo man den Juden Jesus Christus hingerichtet hatte, der sich als Sohn Gottes ausgab und dafür sterben musste. Der Zeitreisende wusste, dass er ganz in der Nähe seines Zieles angekommen war.


 

Draußen war der Himmel tief dunkel behangen. Eine bedrückende Atmosphäre machte sich breit. Alles wirkte finster, bis auf die Umgebung der drei Kreuze, die in einem seltsam anmutenden Licht standen.


 

Am Hügel Golgatha angekommen, sah er eine leblose Gestalt am mittleren Kreuz hängen, die eine Dornenkrone auf dem Kopf trug. Hände und Füße waren an den breiten Holzbalken mit großen Nägeln durchschlagen worden. Es roch nach Schweiß, Blut und Exkrementen.


 

War das der Mann, den er suchte? Den historischen Angaben zufolge musste er es sein.


 

Langsam schritt der Zeitreisende die sanfte Anhöhe des Hügels hinauf. Zwei römische Soldaten standen neben einigen Frauen in einiger Entfernung des Hinrichtungsplatzes. Sie hantierten mit einem Kleidungsstück herum. Offenbar waren sie sich nicht einig, wer es bekommen sollte. Sonst waren keine anderen Menschen mehr zugegen. Jedenfalls im Moment nicht. Die Gelegenheit war also günstig, unbemerkt an die Kreuzgruppe zu gelangen.


 

Der Mann aus der Zukunft näherte sich unauffällig von der Seite des in der Mitte stehenden Kreuzes, das höher und wuchtiger war als die übrigen zwei daneben. Es wies eine leichte Schräglage nach vorne auf. Das Gesicht des Mannes, der sich Jesus Christus nannte, war von ihm abgewandt und es schien, als würde der Kopf wie tot auf der Schulter liegen. Blut tropfte aus seinen langen, von Dornen durchdrungenen Haaren und aus einigen tiefen Wunden seines geschundenen Leibes.


 

Weder die beiden Soldaten noch die auf dem Boden hockenden Frauen beachteten ihn. Sie schauten noch nicht einmal zu ihm hinüber, obwohl er jetzt direkt neben dem Gekreuzigten stand, der keinen einzigen Laut von sich gab. Offensichtlich war dieser Christus schon gestorben. Es sah jedenfalls danach aus.


 

Trotzdem war der Zeitreisende vorsichtig und vermied jede noch so kleine Auffälligkeit.


 

Sollten ihm allerdings die anwesenden Personen aus irgendwelchen Gründen Schwierigkeiten bereiten, müsste er sie wohl oder übel mit seiner wirkungsvollen Destruktionswaffe unschädlich machen, zwar nicht gleich töten, dafür aber in eine tiefe Bewusstlosigkeit versetzen, um durch eine kurzfristig erzeugte Schockwelle im Gehirn die Erinnerungen dieser Menschen zu löschen.


 

Plötzlich erschrak der Zeitreisende, denn der vermeintliche Tote bewegt sich etwas. Der Mann in dem wallenden Gewand wich augenblicklich zurück und griff im nächsten Moment unter seine weite Kleidung, um die mitgeführte Spezialkamera hervor zu holen.


 

Noch während er den Sensor für die Einschaltfunktion betätigte, das Objektiv leise surrend automatisch herausfuhr, riss er die Kamera hoch, drückte mit zitternden Händen mehrmals hintereinander wie gebannt auf den Auslöser und beobachtete dabei konzentriert das Bild auf dem kleinen LCD-Display.


 

Gerade als er dabei war, eine Serie von Bildern aus nächster Nähe vom Kopf mit der Dornenkrone zu machen, drehte der Mann am Kreuz plötzlich wie in Zeitlupe sein Haupt zu ihm herum, sodass der Zeitreisende in sein gemartertes Gesicht sehen konnte. Dann hoben sich ohne jede Vorwarnung mit einem Schlag die blutverschmierten Lider des Gekreuzigten, dessen Augen jetzt den Kamera haltenden Mann mit sehnsüchtig verklärtem Blick anstarrten, fast so, als glaubte dieser Jesus, Gott selbst stünde vor ihm.


 

Rasch machte der Zeitreisende noch ein paar Aufnahmen, schaltete dann das Gerät aus und verstaute es hastig in einer kleinen Tasche unter seinem wallenden Gewand.


 

Die gesamte Aktion hatte kaum mehr als ein oder zwei Minuten gedauert.


 

Wieder setzte ein kurzes Triumphgefühl ein, welches den Zeitreisenden wie eine Welle der Begeisterung überkam. Doch er riss sich zusammen. Schnell wich die aufkommende Freude einer gespannten Konzentration. Ehe er seinen Emotionen freien Lauf lassen durfte, musste die Rückkehrphase reibungslos verlaufen. Er wollte seine Mission nicht durch eigene Disziplinlosigkeit gefährden.


 

Zwar war auch dieser Teil des Zeitsprunges theoretisch erprobt, aber die praktische Durchführung fand hier und jetzt statt. Ein maschineller Defekt war mit fast hundertprozentiger Sicherheit auszuschließen, die Tests waren perfekt gewesen, doch es gab genügend Faktoren, welche, im ungünstigsten Fall gleichzeitig auftretend, Schwierigkeiten auslösen konnten.


 

Doch alles schien reibungslos abzulaufen.


 

Der Zeitreisende öffnete die Sperrschaltung an seiner Multifunktions-Armbanduhr, die sofort ein hochsensibles Hypersignal an die Gegenstation sendete und die höher dimensionierte Energie der Zeitmaschine aktivierte. Das Transportfeld, das ihn wieder in die Zukunft befördern sollte, baute sich noch im gleichen Augenblick keine zwei Meter vor ihm knapp über den Boden als hell pulsierender Lichtbogen auf. Schnell ging er darauf zu und verschwand darin.


 

Eine seltsame Finsternis breite sich währenddessen in der gesamten Landschaft aus.


 

Bevor sich das Energieportal wieder schloss, drehte sich der Zeitreisende ein letztes Mal zu dem sterbenden Mann am Kreuz um, der anscheinend gerade sein volles Bewusstsein für wenige Sekunden wiedererlangt hatte und mit weit aufgerissenen Augen bittend zu ihm rüber sah.


 

Dann rief er mit laut klagender Stimme: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“


 

Im nächsten Moment sackte sein Kopf leblos nach vorne auf seine Brust. Dann starb er.


 

Die römischen Soldaten waren mittlerweile laut schreiend mit gesenkten Speeren herbeigeeilt, da sie vom hell flimmernden Lichtschein der Energieentladungen angelockt wurden und wissen wollten, was da vor sich ging.


 

Aber das Zeitportal war zusammen mit dem Zeitreisenden schon längst wieder verschwunden. Ungläubig starrten sich die beiden Soldaten gegenseitig an und konnten keine plausible Erklärung dafür finden, was sie gerade mit ihren eigenen Augen gesehen hatten.


 

Da der Mann am Kreuz zur gleichen Zeit gestorben war, brachten sie einfach die unerklärliche Lichterscheinung mit seinem Gott in Verbindung, von dem dieser Christus den Menschen immer erzählt hatte.


 

So muss es wohl gewesen sein, dachten sie und gaben sich mit dieser Feststellung zufrieden.


 

Nichts deutete darauf hin, dass ein Besucher aus der Zukunft ein gefährliches Zeitparadoxon in Kauf genommen hatte, nur weil er ein paar Fotos vom sterbenden Christus machen wollte, um damit seinen maßlosen Ehrgeiz zu befriedigen.


 

ENDE


 

©Heinz-Walter Hoetter

 

 

 

 

 

 

 

3. Nur ein Spielzeug?


 


 

Einleitung


 

Androiden


Die Frage nach der Möglichkeit von intelligenten Maschinen entstand schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und wird bis heute diskutiert. Angesichts der rasanten technologischen Entwicklung wird es bald soweit sein, dass die Menschheit über Computer verfügt, deren Gedächtnis- und Rechenleistung es mit derjenigen des menschlichen Gehirns aufnehmen kann.

Intelligente Maschinen. Besäße eine solche Maschine Bewusstsein? Wie entsteht eigentlich Bewusstsein? Wir wissen über dieses Phänomen noch zu wenig, um in näherer Zukunft zielgerichtet „bewusste Maschinen“ konstruieren zu können. Was ist aber, wenn unsere Computer erst einmal so raffiniert geworden sind, dass wir nicht mehr unterscheiden können, ob wir mit einer Maschine oder mit einem Menschen kommunizieren? Könnten wir ihnen da noch eine gewisse Form von Bewusstsein absprechen?

Und wo führt diese Entwicklung in Zukunft hin, wenn eines fernen Tages Roboter oder Androiden über neuronale Netzwerke verfügen, die das Verhalten der Neuronen eines menschlichen Gehirns nachahmen?

Werden diese hochkomplexen, empfindungsfähigen Maschinenwesen dann irgendwann einmal dazu fähig sein, träumen zu können?


 

Auszuschließen ist das nicht. Wären dann die Androiden die besseren Menschen?


 

***


Hier fängt meine Geschichte an.


 

Letzte Nacht träumte ich davon, ich wäre wieder auf dem herrlichen Landgut, dort, wo ich bei den reichen Leuten wohnte, die so viele Kinder hatten. Eine Allee mit alten Bäumen, in der beginnenden abendlichen Dämmerung schimmernd, die Pferde, die hinter einem Holzzaun stehen und aussehen wie Scherenschnitte. Und dann das schöne Gutshaus umgeben von grünen Wiesen inmitten der heran kriechenden Schatten. Es sind Abendschatten nach einem Tag voll sengender Sonne, deren heiße Glut ich immer noch spürte auf meiner künstlichen Haut. Ich konnte sogar die vielen Kinderstimmen hören, glockenhell in der frischen Abendluft, und sehe ihre fröhlichen Gesichter, die böse Gedanken dahinter nicht vermuten lassen würden.

Sie spielen und lachen und gemeinsam gehen sie auf Verfolgungsjagd, bis einer von ihnen laut ruft: „Da ist er, der Verräter! Fangt ihn!“

Einige aus der Gruppe drehen sich plötzlich zu mir herum.

Ich schreie. Es sind Schreie der Gewissheit, dass es wieder geschieht und alles von vorne beginnt.

Fernes Donnergrollen setzte ein, als Vorbote von Regen. Düster aussehende Wolken ziehen am blitzenden Horizont herauf. Das hält die Kinder aber nicht davon ab, ihre Verfolgungsjagd abzubrechen.

Die dunklen Abendschatten werden länger und schwärzer. Gleichzeitig wird das Spiel der Kinder noch ausgelassener und wilder.

Ich spurtete los und laufe mit großen Schritten auf den Schutz des nah gelegenen Waldes zu, versuche zu entkommen. Die Horde der großen Jungen und Mädchen rennt hinter mir her, besessen von der wahnsinnigen Lust, mich zu fangen, um mich dann endlich fesseln zu können.

Wir haben ihn gleich“, ruft jemand direkt hinter mir mit keuchender Stimme.

Ich schreie wieder, als sich einige meiner Verfolger auf mich stürzen. Im Wald ist es jetzt ganz finster, den ich nicht mehr ganz erreichen konnte. Dort hätten sie mich bestimmt nicht gefunden.

Das letzte Licht der untergehenden Sonne am Horizont wird von schweren Gewitterwolken geschluckt. Ich wehre mich nicht mehr, lasse alles über mich ergehen, weil ich einfach keine Kraftreserven mehr habe. Dann packen mich meine Verfolger und zerren mich brutal mit.

Ihr sollt mich los lassen! Bitte! Ich habe euch doch nichts getan!“ rufe ich in meiner Verzweiflung.

Schweig!“ zischte mich der Anführer der Gruppe böse an, schlug mir mit der flachen Hand so heftig ins Gesicht, dass mein Kopf nach hinten wirbelte und meine weiche Kunsthaut hässliche Risse bekam.

Übertreib’ nicht, Mollek!“ sagte eines der Mädchen. „Wir wollen ihn nicht verletzen. Vater wird darüber nicht gerade erfreut sein. Du weißt, was er uns gesagt hat.“

Der große Junge beachtete seine Schwester zuerst nicht, sondern grinste sie nur hämisch an. Dann sagte er missmutig zu ihr: „Spielverderberin! Wir sagen einfach, dass er einen Unfall hatte. Vater wird sich damit zufrieden geben.“

Ich dachte über das Gehörte nach. Warum tun sie das ausgerechnet mit mir? Vielleicht deshalb, weil ich nur ein Spielzeugandroide für sie bin?

Innerlich habe ich mich bereits mit meinem Schicksal abgefunden. Aber ich spüre so etwas wie Angst in mir, obwohl ich eigentlich keine Emotionen haben dürfte. Ich möchte etwas sagen, will sprechen, bleibe aber stumm. Meine Programmierung verhindert jede Selbstverteidigung und gegenüber menschliche Wesen darf ich keine Gewalt anwenden.

Zünden wir ihn an!“ ruft ein anderer Junge aus der Gruppe und hat plötzlich Streichhölzer in der Hand.

Das große Mädchen schüttelt den Kopf und stellt sich schützend vor mich.

Nein, nein! Er ist noch nicht verurteilt. Lasst ihn in Ruhe!“ sagte sie mit warnender Stimme. „Außerdem ist doch alles nur ein Spiel“, ruft sie den grölenden Burschen zu.

Ich werde trotzdem niedergestoßen und mit trockenem Gras überworfen. Der Junge mit den Streichhölzern zündet es an. Rauch steigt empor, und dann lecken kräftige bläulichgelbe Flammen an mir empor.

Macht sofort das Feuer aus!“ schreit das Mädchen. „Schnell, sonst wird er verbrennen.“

Wieder hörte man ein heftiges Donnergrollen, das diesmal ganz nah zu sein scheint. Ein heftiger Windstoß erfasst die lodernden Grasbüschel und wirbelt sie durch die Gegend.

Gefesselt liege ich im hohen Gras. Überall um mich herum brennt es auf einmal. Das Feuer ist außer Kontrolle geraten und lässt meine Haut schmoren, die mir bald in langen Fetzen am metallenen Laufskelett herunterhängt. Ich spüre Schmerzen, fürchterliche Schmerzen.

Der Verräter soll in der Hölle schmoren! Er gehört nicht zu uns! Er ist nur eine dreckige Maschine“, schreien die Kinder aufgebracht durcheinander, die mich jetzt mit Hass erfüllten Blicken anstarren. Dann bildeten sie einen Kreis um mich herum.

Durch den beißenden Qualm kann ich auf einmal tanzende Gestalten erkennen. Die Flammen schlagen immer höher. Und jetzt höre ich mich plötzlich selbst in Todesangst laut schreien. Es sind grauenhafte Schreie, die sich tief in mein Gedächtnisspeicher eingegraben haben und von denen ich weiß, dass sie eigentlich nicht zu meiner primären Programmierung gehören dürften. Ich habe mich wohl auf irgendeine unerklärliche Art und Weise verändert und werde meinen menschlichen Erbauern anscheinend immer ähnlicher.

Ich höre die Kinder, ich sehe sie springen, lachen und schreien. Dann, von einer Sekunde auf die andere sind sie plötzlich fort. Ein heftiger Regenschauer setzt abrupt ein. Ich sehe nichts mehr, es wird dunkel um mich herum.


 

***


 

Schreiend erwache ich in meiner stabilen Panzerglasbox, immer wieder verfolgt von diesen schrecklichen Erinnerungen. Ich höre eine ruhige Stimme neben mir und sehe in das Gesicht eines älteren Servicetechnikers der Cyborg Corporation, der mich kopfschüttelnd von oben bis unten nachdenklich betrachtet. Hinter ihm steht ein vornehm gekleideter Mann in einem hellen Anzug, von dem ich weiß, dass er mein Besitzer ist.

Tja, Mister Holland. Der Androide hat ganz schön was abbekommen. Tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass ein großer Teil seiner Kunsthaut stark verbrannt ist und von Grund auf erneuert werden muss. Ich bedaure sehr, dass Ihre Kinder ihn so zugerichtet haben. Die Reparatur wird einige Zeit in Anspruch nehmen und Ihnen einen ziemlichen Batzen Geld kosten. Wollen Sie ihn denn überhaupt noch reparieren lassen?“

Ich denke nicht. Nehmen Sie den Androidenjungen einfach wieder mit. Für meine Kinder ist er nur ein Spielzeug wie jedes andere auch. Irgendwie scheinen sie keinen Respekt vor diesem kleinen Androiden zu haben. Ich begreife einfach nicht, warum sie ihn ständig quälen wollen. Es wird daher wohl besser sein, wenn ich ihn an die Cyborg Corporation zurückgebe.“

Der Servicetechniker nickte mit dem Kopf, griff mir darauf hin in den Nacken und drückte sanft auf einen verborgenen Sensor unterhalb des verbrannten Haaransatzes. Noch im gleichen Moment begann der Abschaltprozess. Ein heller Lichtschein in meinen Augen blitzte kurz auf, dann wurde es dunkel um mich herum.

Tief in meinem Gedächtnisspeicher allerdings lebten meine Erinnerungen weiter. Ich konnte nichts dagegen tun, auch nichts gegen meine Schmerzen.

 

ENDE

 

(c)Heinz-Walter Hoetter

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.01.2024. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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