Klaus Mattes

Ideen&Sex 8/2 - Die ganze Jugend in einem Aufwasch

 

Ich bin in den 70-ern aufgewachsen, als man, ohne es recht zu ahnen, im Kielwasser von Beat, Pille, Sexwelle, Hippies, bewusstseinserweiternden Drogen, 1968, Woodstock, Vietnam segelte. Schon lange enttäuscht mich, dass von der Jugend keine gesellschaftlichen Umwälzungen mehr ausgehen. Gesellschaftliche Umwälzungen kommen natürlich, sie gibt es immer wieder. Aber weder von der Jugend her oder primär für sie. Würde man sich für die Jugend stark machen, würde man sich für ein katastrophenfreies Überleben der Menschheit, für ein gerechtes Rentensystem in Deutschland, für das Stoppen des immer krasseren Auseinandertreibens von Reich und Arm, für bessere Schulen und mehr Teilhabe von Unterschichtkinder an höherer Bildung, das Erschließen von Millionen Jahre sicheren Endlagern für radioaktiven Müll stark machen. Und nicht für „sichere“ Grenzen, das Vergraulen von Migranten islamischen Glaubens, die Bestrafung von faulen Arbeitslosen, das Rebooten der Atomenergie, die wirtschaftliche Besserstellung von Landwirten und Lokführern, die beide nicht gerade die Art Leute sind, die bei uns am Hungertuch nagen müssen. Das sind alles eher Agendapunkte für die ältere Generation, nicht für die Jugend.

Die Jugend selbst allerdings ist gekauft und mit vielerlei Mediengadgets auf Blöd gestellt. Empfindet das selbst aber natürlich nicht so. Würde uns auch so gehen, wenn wir erst 17 Jahre lang auf der Welt wären. Bisher ist es immer noch ganz gut gegangen. Man hat auch wieder das richtige Handy und die richtigen Turnschuhe und bewegt sich mit einem Haufen aus lauter super Leuten.

Ich habe ein ambivalentes Verhältnis zu dieser Jugend. Zum Einen - und nicht zuletzt - bin ich so gepolt, dass Jugend einen erotischen Zauber auf mich ausübt. Jedenfalls entschieden mehr als allerlei sozial und kulturell verdienstvolle Menschen um, sagen wir, vierzig. Auch finde ich, dass von mancher gemischtgeschlechtlichen, vorlauten Jugendmeute, die irgendwo an einer Haltestelle lagert, eine Menge Charme, Energie und Lebenslust ausgeht. Da brutzelt die Luft manchmal. Aber nach einigem Zusehen kommt dann auch eine Menge an Dümmlichkeiten, Konformitätsdruck innerhalb der Gruppe und - aus innerer Unsicherheit voreilig übernommener – Ghetto-Kid-Aufschneiderei herüber.

Die Achte ist eine gefährliche Scharnierklasse. Es ist die letzte Klasse, in der Rechtschreibung noch gepaukt wird. Die Achte muss den Menschen aufs ordentliche Orthografie-Niveau heben, was im Berufsleben aufs genormte Schreiben, insbesondere Kommasetzung, herausläuft. Mit der Achten endet die Phase der Lesebuch-Stücklein und der Jugendbücher. Es beginnen die Meisterwerke deutscher Schreibkunst wie der Götz von Berlichingen oder Wilhelm Tell.

„Durch diese hohle Gasse denkt der brave Mann in großer Not zuletzt an seine Axt und erspart den Zimmermann von Altdorf. Der ist des Tells Genoss.“

In diesem letzten Jahr müssen auch noch viele Kreidestückchen geworfen, Schultaschen (heute Rucksäcke) ausgeschüttet und Tags hinterlassen werden, die der Welt sagen: „Achim fickt Laura, Maik ist fett und Schwuli“.

Es ist ein anstrengendes Jahr, das wir später vergessen werden.

Es gibt dann Sachen, die sind voll Mädchen-typisch. Diese Pferdebegeisterung. Und vor allem die Gitarristen. Auf einer: akustischen! Gitarre. Die elektrischen und die Musiksoftware wurden für Jungs entwickelt. Objektiv betrachtet sind die allermeisten Musikwirkenden menschliche Langweiler und Pedanten. Aber ganz junge Frauen entdecken in ihnen die Haupt-Eroten. Viele Jungs ahnen das. Sie werfen sich aufs Gitarrenspiel, um ihre Unschuld auch noch zu verlieren. „Country road, take me home to the place I belong!“ Ich als Mansplainer würde fragen: „Ihr meint das ernst, dass ihr die Sexualität, die letztlich wohl ein männliches und weibliches Genital (mindestens) umfassen wird, euch als flauschiges Teddy-In zwischen Mattel-Figuren ausmalt? Ihr vertraut dem Sex von Action-Figuren wie Elvis Presley und Michael Jackson? Oder wie heißen sie heute, diese kleinen Koreaner? Die Boomtown Rats?

Und doch erstaunte es mich dann wieder im Sommer 2016, wie schnell das Strohfeuer abgeflammt war. Pokémon Go kam auf im Frühsommer. Im Sommer fragte man sich, ob die meist nicht mehr Kleinen, fast immer Nerdigen auch im Winter in den Fluren herumsuchen würden. Dazu kam es nie. Schon im Herbst war keine Sau mehr irgendwo unterwegs. Neulich dann, im spätesten, nachts eiskalt verlängerten Winter, saß ich im Park, da wanderten vier Pokémon-Spieler mit ihren glimmenden Handys umher.

Fast will mir scheinen, dass die „sozial Deklassierten“, zumindest die eines gewissen jugendlichen Alters, ihre Perspektiven aus den Medien entnommen haben. Man gedenkt, es zu schaffen. Entweder per Sieg im Casting-Wettbewerb, als Fashion Influencerin oder aber, indem man eine Art von American Gangster wird. Somit erreicht man einen Status, wo man regelmäßig bumsen kann und zwar in jeglicher Beziehung, wie immer man möchte. Und endlos kann man konsumieren, kaufen und wegschmeißen. Noch mehr geile Sachen aus dem Internet kommen lassen!

Die Jugend von, sagen wir acht bis dreiundzwanzig, führt das Wort „schwul“ recht oft im Mund. Selten bedeutet das aber was Gutes. Alles, was nicht gut ist, ist „schwul“. Dabei wird an wirklich schwul meist gar nicht gedacht. Ein Drink schmeckt schwul. Der DJ war schwul. Der Bus hatte schwule Sitzbezüge. Inas Gitarrenlehrer ist schwul und fingerfertig wie Paco de Lucia.

Man ist mit sich so weit im Reinen, dass man von Haus aus annimmt, man sei ein gültiger, vollwertiger Mensch. Das strahle irgendwie nach außen. Man denkt nicht daran, dass die Anderen einen nicht auf Anhieb als Schwulen identifizieren, auch nicht als Juden, Gottesleugner, Sozialhilfe-Empfänger, Christen, AfD-Wähler, Swinger-Club-Kunden und SUV-Fahrer. Dabei würden sie es auf Anhieb und überhaupt alle und jede und auf ewig und immerdar bemerken, wenn man schwarz und wäre und auf dem weißen Walfischzahnstumpf unter seiner FFP3-Augenklappe einherginge.

Schwul hat verloren, das ist schon klar. Und ein bisschen erschreckend für mich, denn als ich selbst noch Jugendlicher war, fing das gerade an, dass man ein paar seiner Vorurteile aufgab und tolerant zu werden versuchte. Damals ist das Wort „schwul“ viel seltener gefallen als heute. Wir waren Gymnasiasten, die haben sowieso eine behütete Kindheit und von nichts eine Ahnung. Da haben sich die Sechzehnjährigen, die einen Hass aufeinander hatten, nicht vorgeworfen, schwul zu sein. Schwule saßen nicht die ganze Zeit mit einem im selben Klassenzimmer oder hatten es bis zum verbeamteten Lehrer gebracht. („Beamt me up, Scottie!“) Dann haben wir gelernt, dass alle Menschen gleich sind und darum gleich kostbar und alle Queeren, ohne eine einzige Ausnahme, netter als Übliche, nämlich uns bereichernd durch ihre Diversität. Das waren die Achtziger oder Nuller. Ich weiß nicht mehr genau.

Die CDU ist jetzt dafür, die AfD also dagegen.

Die Abgründe und Schattierungen im Gebrauch des Wortes „schwul“ unter Jugendlichen sind nicht ausreichend erforscht. Ging dir das nicht auch so, dass du mit dem Vordringen des Wortes „Alter“ unter Jugendlichen dich fragtest, wie lange es noch gehen wird, bis Mädchen sich mit diesem Wort ansprechen? (Weil „Alte“ ganz doof klingt.) Und, wir wissen es mittlerweile, dieses wurde dann auch Wirklichkeit.

Neulich kriege ich mit, wie ein Junge zu einem Mädchen sagt: „Und dann, Alter, habe ich ...“

Das machen sie den Rappern, Gangstern, Kickboxern und Pimps nach: „Du Fisch! Du Schwuchtel! Ich fick dich!“ Kameradschaftlich gemeint. Und doch kehrt Stück um Stück die alte Schwulenfeindlichkeit schon wieder zurück. (Die Linken sind dagegen, die AfD also dafür.) Ghetto-Kids halten Schwuchteln für Weichlinge oder Kranke, um die es nicht schade wäre. Weil sie auch keinen Einzigen näher kennen. Sondern nur von Ferne, vom Verspotten.

Wenn sie es am Ende geschafft haben, die Kohle verdienen, um sich neben ihrem Auto ein Motorrad fürs Wochenende zu halten, Spielzeug der Männlichkeit, darum ist das toll, wenn immer mehr Frauen es heute auch haben, dann wird man sagen: Die Frage ist, ob sie durchs Motorradheizen über Berg und Tal mehr von Gottes Schöpfung ruinieren, als sie an Staunen und Wohlgefallen daraus je gewinnen werden. Motorradfahren ist was, wo die Genießer kaum etwas für den Schaden und das Unrecht hinlegen, das sie allen anderen, die absolut nichts außer Leid und Schaden davon haben, zuschanzen. Also ein Beispiel unserer Externalisierungs-Gesellschaft.

Die AOK sagt, dass wir auf gesunde Lebensweise aber auch achten müssen. Alle sagen, dass wir in Bewegung bleiben müssen. Weniger sitzen, weniger Handy, Computer, mehr Bewegung an der frischen Luft. Dann sehen wir auch besser aus, bumsen öfter und fühlen uns glücklich, dass das immer noch geht und erlaubt ist. Man versteht, warum die AOK es sagt. Es spart Ausgaben, aber ich höre jedes Mal: „Mach dich so fit, dass du ein Kämpfer in deinem Beruf sein kannst!“ Ist nicht Sportlerei immer schon Kriegsertüchtigung, wie man sie unter Hitler und in zahlreichen totalitären Regimes bemerken konnte?

Am geschicktesten für unser Wirtschafts- und somit Wohlfahrtssystem ist, wenn so eine Sportlerei laufend mit dem Abverkauf neuer und verbesserter Produkte einhergeht. Haben alle ihre dritte Generation von Nordic-Walking-Stöcke gekauft, kommt was brandheiß neues Gesundheitsfördernderes.

Später, wenn sie nicht mehr jung sind, fahren die einen Audi oder BMW, die anderen suchen Mülltonnen nach Geldquellen ab. Somit hätten wir einen gesellschaftlichen Widerspruch, der Marx'sche Dimensionen annimmt, was gigantische Umwälzungen ins Werk setzen wird, wie sie keine Jugendbewegung mehr bringt.

Die „sozial Klassierten“ haben sich darauf eingestellt, dass irgendwann alles als Mahlstrom aus Klimakatastrophe, Hunger-Migranten-Schwemme, Straßenkriminalität und Aufstand unserer Dienstleistungssklaven (Paketausfahrer, Pflegehelfer, Backshopverkäuferinnen) zum Teufel rauscht. Und dennoch werden genau sie immer weiter sehr sicher und ganz weit draußen sitzen und die FAZ oder Welt lesen. Eingenistet in ihrer Senioren-WG aus freundlichen, tütteligen Grüne-Wählern, mit denen man nachhaltig lebt, ob nun als schwules oder heterosexuelles Ehepaar.

Dass diese Welt für Unsresgleichen und nicht für Loser gemacht ist, merkt, wer nicht ewig und bei allem rechnen muss. Solange man Miete, Lebensmittel, Versicherung, Strom, Müllabfuhr, Heizung, Hausmeister, Telefon, Zeitung, Kleidung, Waschmittel, Waschmaschine und so weiter nicht selbst zahlt, denkt man nicht oft daran. Viele Teenager und Twinks haben es nie anders erlebt mit ihren 17 Jahren. Ich hoffe, das wird eine Weile so noch bleiben. Hier ein kleines Beispiel für Menschen, die mit Peanuts um sich werfen.

Nachdem die Sonne einem zwei Stunden auf den Kopf gestochen hat, nimmt man sich im Vorbeigehen eine Cola oder ein Wasser. Wenn das Fläschchen leer ist und gerade ein Abfalleimer am Wege steht, wirft man es weg und geht weiter auf seinem Weg. Manche denken auch daran, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis der nächste Mensch vorbeikommt, der hineinlangt in den Abfalleimer, um nach derartigen Pfandflaschen zu angeln, von denen jede einzelne das Kapital von einem Viertel Euro umfasst. Sie werfen ihre PET-Flasche, die wird im städtischen Heizkraftwerk verbrannt werden, um der Energieerzeugung dienen, Fernwärme vielleicht, nicht in den Kübel hinab, sondern stellen sie auf die Abdeckhaube, sodass man sie von Weitem gesehen und angesteuert werden kann. Natürlich kommt keiner dieser Jugendlichen jemals auf die Idee, sein eigenes Dasein könnte irgendwann auch mal so eine Wendung nehmen. Er kann ja immer noch BMW-Gangster werden, bevor es so weit ist. Fast und furios.

Wäre es nicht interessant zu erfahren, bei passender Gelegenheit, was in den Corona-Jahren aus den Sexarbeitern geworden ist? Es glaubt niemand, dass es Monate hindurch keinerlei Prostitution mehr gegeben hat und sie steuerfreie Mini-Jobs als Personal Coaches und Hundeausführerinnen kriegten!

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Klaus Mattes).
Der Beitrag wurde von Klaus Mattes auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.02.2024. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

Bild von Klaus Mattes

  Klaus Mattes als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Befreit - Ermutigende christliche Gedichte von Cornelia Hödtke



Wer sehnt sich nicht nach Befreiung, Annahme und Ermutigung. Die durchlebten christlichen Gedichte haben dieses Ziel.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Gedanken" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Klaus Mattes

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Lektüre 01/a: 3096 Tage. Roman und Verfilmung von Klaus Mattes (Liebesgeschichten)
Nur ein Stein - Lebendige Gedanken zur toten Materie von Christa Astl (Gedanken)
Die dritte Person von Norbert Wittke (Glossen)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen