Neulich ist mir in meinem Kiez aufgefallen, dass hier eine neue Ära begonnen hat.
Kann sein, dass andere es vor mir bemerkt haben. Mir ist es entgangen.
Mein eigener Veränderungsprozess,
das Älterwerden, hat mich beschäftigt. Werde ich schon anders
wahrgenommen oder überhaupt mit meiner Individualität noch gesehen?
Das Alter repräsentierte für mich bisher eine alte Frau aus unserem
Kiez. Wenn ich sie sah, dachte ich an ein Fossil,
das ausgegraben worden war, in dem noch etwas Leben steckte.
In meiner Kindheit im Spreewald nannte man sie Muhmen, alte vermummte Frauen,
die aus einer geöffneten Zeitkapsel entwichen schienen.
Große Tücher, dreieckig gefaltet, weit über die Schulter reichend, am
Rücken die Spitze des Tuches, eng am Kopf gebunden,
die Haare verborgen. Zerfurchte Gesichter eingerahmt.
Lange weite Röcke, darüber Schürzen, Strickjacken, selbst gestrickt auch
die Strümpfe.
Holzpantinen, eine Kiepe aus Weidenruten, geflochten auf dem Rücken.
So bekleidet, nur ohne Kiepe, schlurfte auch die Alte um den Häuserblock,
untergehakt bei ihrem greisen Mann in seiner abgewetzten Anzughose,
gestreift, mit weitem Bein, eine Bügelfalte konnte man noch erahnen,
Strickjacke, darüber eine Weste, Schiebermütze. Miteinander sprechen habe ich die beiden nie gesehen.
Auch sah ich sie von meinem Balkon aus am offenen Fenster ihrer Wohnung alleine ohne ihren Mann sitzen, immer mit Kopftuch.
Nachts brannte in ihrem Fenster Licht, das konnte ich bei meiner
nächtlichen und frühmorgendlichen Zigarette sehen.
Im vergangenen Sommer beobachtete ich Renovierungsarbeiten in ihrer
Wohnung, von der Wohnbaugesellschaft ausgeführt. Neue Mieter zogen ein, mit kleinen Kindern.
Beide im Seniorenheim oder verstorben? So spekuliere ich.
Vor ein paar Tagen beim Joggen auf dem geraden Weg, der quer durch den Park führt, erkenne ich sie schon von weitem,
die Alte, das Fossil.
Sie war noch da, als ich an ihr vorbeilief, nickte ich ihr zu, lächelte sie vertraut an.
Sie stand da wie ein Denkmal, ihre Augen ausdruckslos, nicht offen für
ihre Umgebung, starr in eine andere Zeit zurückblicken.
© by Lyra Februar 2024
Vorheriger TitelNächster Titel
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (LyraLyra Gabriel).
Der Beitrag wurde von LyraLyra Gabriel auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.02.2024.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
LyraLyra Gabriel als Lieblingsautorin markieren
doch man schweigt...
von Margit Marion Mädel
...doch man schweigt... Ist ein Gemeinschaftswerk von Menschen, welche sich seit 2005 für Betroffene im Hartz IV und SGBII engagieren. Sie erleben Ausgrenzung, Schikanen, Sanktionen bis hin zu Suiziden von vielen Freunden aus eigenen Reihen, welche für sich keinen anderen Ausweg mehr sahen. Die Autoren versuchen in ihren Episoden und Gedichten das einzufangen, was das Leben zur Zeit für fast 10 Millionen Menschen birgt. Der Erlös des Buches geht zu 100% an den Verein Soziales Zentrum Höxter e.V., da wir wissen, hier wird Menschen tatsächlich geholfen.
Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!
Vorheriger Titel Nächster Titel
Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:
Diesen Beitrag empfehlen: