Die Hündin sah ihren Herren aufmerksam an. Schon seit Monaten hatte sie die Dunkelheit in seinem Blick bemerkt. Nun war der Moment gekommen, in dem sie an die Oberfläche kommen würde.
Er bedeutete ihr zu bleiben, keinen Mucks von sich zu geben. Diesen Befehl kannte sie gut, doch zum ersten Mal ignorierte sie ihn. Sie wusste, dass er der dunklen Macht in seinem Inneren gehorchen, etwas Furchtbares tun würde. Furchtbarer, als sie es je zuvor erlebt hatte, trotz der vielen gemeinsamen Jahre. Deshalb konnte sie ihn nicht allein lassen, folgte ihm in den Wald. Verstohlen erst, zögerlich, dann entschlossen. Schließlich ging sie nah bei Fuß. Wollte ihn schützen, abhalten von seinem Tun. Er packte sie am Halsband. Schüttelte, drohte. „Bleib!“
Sie war nie ungehorsam gewesen, deshalb nie bestraft worden. Kannte nur das Beisammensein mit ihm. Spaziergänge über die Heide oder im dichten Wald. Am Flussufer entlang oder über das Moor. Saftige Knochen, der Teppich vor dem warmen Kamin, seine Hände, wenn er ihr das Fell kraulte.
Sie war nie ungehorsam gewesen, doch jetzt sah sie das Dunkle hinter seinen Augen, konnte nicht gehorchen, denn sie liebte ihn.
„Bleib!“ Er hob sie von Boden hoch, stieß sie von sich. „Geh zurück.“
Wieder ignorierte sie seinen Befehl, ließ sich nicht beirren.
„Verdammt, dann eben so.“ Der Mann hatte einen dünnen Strick dabei, schlang ihn ihr um den Hals, band das andere Ende um einen Baum, entfernte sich eilig.
Aber sie war klug, pfiffig. Wandte sich aus der Schlinge, holte ihn schnell wieder ein. In ihrer Verzweiflung bellte sie ihn an, sagte ihm, dass sie ihn unter keinen Umständen allein lassen würde. Wollte ihn zurückholen aus der Dunkelheit. Zurück in die helle, heile Welt, die sie mit ihm geteilt hatte.
Er raufte sich die Haare, fand den Weg zurück zu ihr nicht. Holte mit dem Fuß aus, legte alle Kraft in diesen Tritt. „Verdammtes Mistvieh!“
Weißglühender Schmerz durchfuhr sie. Er hatte ihr einen Hinterlauf gebrochen. Doch noch immer beschwor sie ihn nicht weiter zu gehen. Folgte ihm, zog das gebrochene Bein hinter sich her, heulte vor Schmerz, aber auch vor Verzweiflung und Liebe, leckte die Hand, die sie nach unten drückte. Wieder holte er aus. Dieses Mal trat er sie in die Rippen, dann vor den Kopf.
Sie fiel um, blieb betäubt liegen.
Er wandte sich um, war überzeugt davon, dass sie ihm nun nicht mehr folgen würde. Aber sie versuchte es, schleppte sich weiter, rief lautlos hinter ihm her. Doch er wollte und konnte sie nicht mehr hören, war vollkommen in die Dunkelheit eingetaucht, würde heute Nacht noch mehr Leben nehmen.
Schließlich verließen sie die Kräfte. Sie ließ sich auf den Boden sinken. Ihre Augen wurden trübe. Sie würde ihn loslassen müssen ...
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.02.2024.
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