Timon Kromer

Abgrund

Zwei Freunde stehen am Rande des Abgrunds ihrer Welt.

Wörtlich.

 

„S’ist dunkel.“

„Joa.“

„Tendenziell tief.“

„Relativ.“

„Und wahrscheinlich ungesund.“

„Willst du’s ausprobieren?“

„Ne… Eigentlich nicht.“

„Das Schlimmste was passieren kann ist ein unendlicher Fall in die Dunkelheit.“

„Oder einfach direktes Ersticken.“

„Oder das.“

„Werf mal was.“

„Was?“

„Hast du ne Münze, oder so?“

„Wieso?“

„Nur so.“

„Wir werden nichts mitbekommen. Sie wird einfach verschwinden.“

„Ja, dann wäre das sicher.“

„Also, wieso dann?“

„Ja was, wenn nicht?“

„Dann ist alles ganz anders.“

„Dann ist das doch nur ein normales Loch, statt eine… reelles Loch.“

„Können Löcher, definiert durch ihr Nicht-Enthalten, jemals reell sein?“

„Ich meinte ein Loch in der Realität.“

„Oder es ist doch nur ein alter Brunnen.“

„Dann werf‘ mal was rein.“

„Mach du.“

„Es wird nichts passieren.“

„Warum also?“

„Ja falls was passiert…“

„Aber es wird ja nichts passieren.“

„Aber was, wenn doch?“

„Wenn wir jetzt irgendwas reinfallen lassen, und es kommt wieder raus, dann wären unsere Erwartungen zwar nicht getroffen, aber erklären könnten wir es trotzdem nicht.“

„Aber dann wüssten wir, dass es nicht so ist, wie man denkt.“

„Aber so ist es wahrscheinlich schon.“

„Kannst du’s beweisen?“

„Nein, kannst du’s?“

„Also haben wir hier ein Loch ohne Inhalt mit nichts drin und außen drum stehen wir ohne Inhalt und mit nichts drin.“

„Aber wenn wir jetzt irgendwas reinwerfen, dann wäre sowohl im Loch als auch in uns etwas. Zumindest eine Information, dass alles genauso ist, wie man denkt.“

„Ne, denn wenn wir nichts mitbekommen, heißt es ja nicht, dass nichts passiert ist.“

„Das stimmt.“

„Ich glaube es gibt nur eine Möglichkeit, bei der mindestens einer von uns weiß, was beim Herunterfallen passiert.“

„…“

„Gibst du mir dabei recht?“

„…“

„Also nur theoretisch. Wir machen es natürlich nicht.“

„Aber wir könnten ja trotzdem mal die Münze versuchen. Vielleicht bringts ja Glück.“

„Aber wir werden es halt nicht wissen.“

„Dann könnten wir ja eine Kamera oder so nach unten heben.“

„Mach doch.“

„Und dann hätten wir in Video und Audio genau gewusst, was da passiert.“

„Es sei denn… Wir wissen ja nicht, ob wir die Kamera auch wieder rausziehen können.“

„Dann könnten wir ja mit einer Münze oder so anfangen.“

„Mach doch.“

„Und wir könnten die Münze ja anbinden, damit wir sie wieder hinaufziehen können.“

„Dann mach.“

„Und dann können wir die Kamera benutzen.“

„Ok, mach.“

„Und im dritten Teil, schauen wir, ob wir das Loch freigraben können.“

„Mach halt.“

„Und dann kann man versuchen das Loch zu bewegen. Stell dir doch nur mal unser Loch in einem Museum oder so vor.“

„Mach ich.“

„Okay, dann gib mir eine Münze.“

„Aber alles wird uns nichts helfen, wenn nichts funktioniert.“

„Das stimmt.“

„Wie wär‘s: Du bindest dich an ein Seil, ich lasse dich langsam runter, und du rufst, wenn du wieder hoch möchtest.“

„Und was, wenn ich nicht mehr hochkomme?“

„Tja.“

„Aha.“

„Sollten wir vielleicht besser nicht machen.“

„Nützlich wäre es schon. Aber…“

„Ungesund. Vielleicht.“

„Stimmt, man weiß es ja nicht.“

„Vielleicht geht es einem im Loch ja besser als hier draußen.“

„Könnte sein.“

„Und dann wäre es doch nur sinnvoll dort hineinzuspringen.“

„Stimme ich dir zu. Es gibt genug Situationen, wo ich lieber in einem mysteriösen Loch statt in der Realität wäre.“

„Absolut. Sollte man machen.“

„Ja.“

„…“

„…“

„Aber es könnte auch ziemlich tödlich sein.“

„Oder ziemlich schmerhaft.“

„Vielleicht heben wir ja eine Münze rein, und sie kommt verformt wieder raus. Oder so.“

„Müsste man testen.“

„Besser als mit Menschen.“

„Oh Gott, stell dir vor: Irgendwelche Personen, die einfach nur vorbeilaufen und dann für immer im Loch verschwinden.“

„Die Armen!“

„Oder die ganzen Museumsbesucher, die nur mal das Loch testen wollten, und ihre Hand jetzt niemals mehr freibekommen.“

„Muss schrecklich sein.“

„Vielleicht sollten wir das Loch verstecken.“

„Wir könnten es im Wald aussetzen und mit Blättern und Ästen bedecken.“

„Und ein großes Schild aufstellen: ‚Hier ist kein Loch! Gehen Sie hier nicht hin! Kein Grund zur Besorgnis!‘“

„Und dann kommt jemand der nicht lesen kann.“

„Oh, der Arme!“

„Und ehe er sich versieht, stecken seine Beine im Loch fest.“

„Grausam. Einfach grausam.“

„Und er schreit nach Hilfe, aber ehe du ihm helfen kannst, hörst du nur noch seinen letzten Schrei.“

„Ich würde nie wieder schlafen können.“

„Oder noch schlimmer, du bist bei ihm und ihr realisiert gemeinsam, dass er nie wieder rauskommen wird, und irgendwann lässt er freiwillig los.“

„Wäre wirklich nicht schön.“

„Aber stell dir mal vor…“

„Es ist wahrscheinlich besser, wenn keine Menschen hineinfallen.“

„Ja. Wir haben jetzt die Aufgabe, zu verhindern, dass sich irgendjemand diesem Loch nähert.“

„Außer wir wissen, dass es sicher oder besser ist.“

„Ja, dann ist es jedermanns freie Entscheidung.“

„Müssten wir halt testen.“

„Aber ne Münze reicht dann nicht.“

„Und einen Menschen dürfen wir auch nicht reinschmeißen.“

„Wollen wir nicht.“

„Man braucht halt was dazwischen.“

„So wie bei kontroverser Medizin.“

„Du meinst so als Test?“

„So einfach einmal ins Gehege greifen, drei Stück rausnehmen…“

„Und nach und nach schauen, wie das weiße Fell im Loch verschwindet.“

„Oder nicht!“

„Oh, die armen Süßen!“

„Aber stell dir mal vor:“

„Könntest du das? Mäuse fallen lassen?“

„Man könnte sie ja so provozieren, dass sie einen sonst beißen.“

„Ja, aber ist beißen unendliches Fallen wert?“

„Stell dir vor, irgendjemand erfährt von dem Loch und entschließt es als Bestrafung für Menschen zu benutzen!“

„Das wäre furchtbar!“

„Und wir wären dann die Entdecker davon.“

„Grausamer Weltruhm ist das Schlimmste was man habe kann!“

„Wir müssten das Loch ausgraben und in ein großes Netz packen, durch das nichts durchgehen kann.“

„Oder wir gehen einfach und hoffen niemand hat uns hier gesehen.“

„Aber dann würde ich vielleicht zuerst herausfinden, ob es sicher wäre.“

„Ok, ich habe hinten ein großes Seil. Ich hol’s kurz.“

„Opferst du dich?“

„Ne, eigentlich dachte ich…“

„…“

„…“

„…“

„Ne lass mal. Ich glaube das Seil bringt nichts.“

„Dann doch lieber die Münze.“

„Aber was bringt es?“

„Wenn wir sehen, dass die Münze verschwindet, wissen wir schon mal, dass Münzen im Loch verschwinden.“

„Dass müssten wir dann nur noch mit allen anderen Objekten machen, und dann wüssten wir, was alles im Loch verschwindet.“

„Und das was nicht verschwindet wäre dann umso interessanter.“

„Und wir müssten alle Objekte auch auf allen unterschiedlichen Weisen ins Loch werfen, und schauen, ob es einen Unterschied macht.“

„Aber in der Zwischenzeit müssten wir alle Objekte bekommen, ohne, dass jemand anderes was mitbekommt.“

„Eigentlich schon traurig. Das wir auf dieser Seite des Lochs damit leben müssen, dass es Menschen gibt, die andere in mysteriöse Löcher schmeißen würden.“

„Oder Mäuse.“

„Sähe zwar wahrscheinlich lustig aus, wäre aber kaum besser.“

„Ich würde mich wahrscheinlich dann für die Mäuse opfern. Denn wenn es schon diese Welt ist, wo man Mäuse fallen lässt, so ist alles was im Loch ist sicherlich besser.“

„Echt?“

„Vielleicht.“

„Also wenn ich jetzt hier Mäuse halten würde, würdest du vor ihnen ins Loch springen, um sie davon wegzuhalten.“

„Möglicherweise.“

„Aber wenn diese Welt dann durch Leute wie mich eh so verdorben wäre, warum erlaubst du den Mäusen dann nicht in die bessere Welt zu gehen?“

„Wissen wir ja nicht.“

„Und da ich ja vorhatte, die Mäuse in eine bessere Welt fallen zu lassen, bin ich nicht dann gut? Ist die Welt in der wir sind dann nicht die bessere?“

„Und die Lochwelt wäre damit schlechter.“

„Und damit bin ich wieder böse.“

„Also ist die Welt böse.“

„Also ist die andere Welt für Mäuse gut.“

„Ich glaube das bringt ein Paradoxon.“

„Also ist die andere Welt wahrscheinlich nicht besser als unsere.“

„Müsste man testen.“

„Wir könnten ja diskret nach Freiwilligen fragen.“

„Und wir bauen uns ein Forschungsgeschäft rund um das Loch.“

„Und schauen zu, wie Menschen in der Dunkelheit verschwinden.“

„Und unsere Anwälte stellen sicher, dass wir für nichts haftbar sind.“

„Wieso, alle Beweise sind doch im Loch?“

„Und was wenn was rauskäme?“

„Das würden wir ja erforschen.“

„Vielleicht ist ja genau die erste Person die reingeht die Ausnahme.“

„Vielleicht ist die erste Person ja die Einzige, die wieder rauskommt.“

„Demnach sollte einer von uns jetzt reinspringen.“

„Ja, das wäre gut.“

„Dann wüssten wir‘s.“

„Müssten wir probieren.“

„Und wir sollten’s am besten jetzt gleich machen, wo niemand das Loch kennt und sich nichts geändert hat.“

„Stimme ich dir vollkommen zu.“

„Eigentlich jetzt einfach mit kurzem Anlauf direkt mit den Füßen voran in das Loch springen.“

„Wäre sicher cool.“

„Und dann.“

„Dann.“

„Dann wissen wir wahrscheinlich was passiert.“

„Ob das passiert, was man denkt, oder das was man glaubt.“

„Sollten wir eigentlich testen.“

„Ja. Wirklich.“

„…“

„…“

„…“

„…“

„Oh es tut mir leid! Ich kann nicht!“

„Die Versuchung besteht. Und sie ist stark.“

„Wir sollten nicht.“

„Wir sollten gehen.“

„Lassen wir das Loch.“

„Gehen wir davon aus, dass alles so schlimm ist, wie wir es uns nur vorstellen könnten.“

„Und gehen wir davon aus, dass niemals jemand das Loch finden wird.“

„Und hoffen wir, dass wir nicht die beiden Ausnahmen waren, die als einzige unbeschadet rein und wieder rauskämen und noch alle anderen die drin sind retten könnten.“

„Dann müsste einer von uns ja fast reinspringen.“

„Gut das es wahrscheinlich vielleicht möglicherweise nicht so ist.“

„Es gäbe eine Methode es zu testen…“

„Zusammen?“

„Hand in Hand?“

„…“

„…“

„…“

„…“

„…“

„…“

„…“

„…“

„…“

„…“

„…“

„…“

„…“

„Nein.“

„Lass uns gehen.“

„Reden wir nie wieder davon.“

„Ein böses Loch.“

„Und nicht schucken.“

„…“

„…“

„Gehen wir in unterschiedliche Richtungen.“

„Gute Idee.“

 

 

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