Klaus Eylmann

Multiversum

Männer stritten sich an der Theke, als Daniel zur Mittagspause die Chromium Bar betrat. Er bestellte einen Burger, griff nach der Tageszeitung und nahm seinen Platz am Fenster ein. Das Kopfsteinpflaster der Straße glänzte unter dem Regen, der gegen die Scheiben prasselte. Zwei Robotpolizisten liefen Streife. Ein Roboter setzte sich an Daniels Tisch und fixierte ihn mit rot glimmenden Augen, während Daniel seinen Burger verzehrte. Die metallene Haut schimmerte bläulich. Der Roboter war von robuster Statur, besaß Arme wie Röhren. Der Kopf glich einer Kugel. Der Mund, ein Gitter.
Der Wirt zuckte mit den Schultern, als Daniel zu ihm hinüber sah. Roboter verzehrten nichts. Warum saß er dort? Seine Automatenstimme ging im Thekenlärm unter. Dann hörte Daniel: “Ich hätte sie nicht töten sollen.” Verwirrt sah Daniel in die Zeitung. Was redete der da? Roboter und töten. Da sei Asimov vor.
“Daniel!”, rief der Roboter. Daniel zuckte zusammen. “Woher kennst du mich?”
“Wir waren Kollegen.”
“Kollegen?” Daniel zog die Augenbraue hoch.
“Und ich hatte einen Namen: Ferdinand Bliesheim.”
“Ferdinand Bliesheim.” Daniel wurde bleich. Bliesheim, den sie Ferdi genannt hatten, massiv wie ein Schrank mit einem roten widerspenstigen Haarschopf, fahlblauen Augen, Sommersprossen und trockenem Humor.
“Ich erinnere mich. Du hast Deine Frau vom Balkon gestoßen.” Bestürzt und wütend rang Daniel um seine Beherrschung. Der Metallmensch vor ihm, ein ehemaliger Kollege, ein Mörder.
“Was hat der Zentralcomputer zu dir gesagt?”, rief er. “Dass du dein menschliches Leben verwirkt hast? Du wusstest doch, dass er Dein Bewusstsein in das Hirn eines Roboters laden würde. Wie fühlst du dich nun?“
“Daniel.” Das Rot der Augen flackerte. “Daniel, ich kann nicht weinen.” Die Männer an der Theke drehten sich zu ihnen hin. Daniel dämpfte seine Stimme. “Was willst du von mir?”
“Dass du mich anhörst.”
“Ich höre.”
“Ich komme mit dir ins Institut. Du würdest es nicht glauben, wenn ich es dir nur erzählte. Ich muss es dir zeigen.”
Daniel zahlte an der Theke und verließ das Lokal. Der Roboter ging neben ihm her.
Sie ließen die Straße hinter sich. Über dem Platz der menschlichen Einsicht lag Regendunst. Das Kybernetische Institut war kaum auszumachen. Mit lautem Getöse kam eine Raumfähre hinter einem der Gebäude hervor und verschwand in den Wolken.
“Ich habe Anna geliebt.”
“Warum hast du sie dann umgebracht?”
Sie betraten das Hauptgebäude. Daniel folgte Ferdinand in den Lift. Sie fuhren in den fünfzigsten Stock.
“Der Zentralcomputer hatte mir eine neue Aufgabe zugewiesen. Er selbst hat genug damit zu tun, die Welt mathematisch zu ergründen.”
“Ich weiß”, erwiderte Daniel. “Gedanken, Träume, Pflanzen, Tiere, Himmelskörper, das Universum selbst lassen sich nach seiner Aussage auf mathematische Gleichungen reduzieren. Wäre der Zentralcomputer nicht Atheist, würde er wohl sagen: Gott ist ein Rechner.”
Ferdinand führte Daniel in einen Raum mit einem Stuhl, einem Tisch und einem Bildschirm, der auf einer Konsole stand.
“Hätte ich diesen Raum doch nie betreten!”, rief Ferdinand.
“Vor zwei Monaten, als ich Mensch war, führte mich ein Roboter in dieses Zimmer und zeigte mir dies hier.” Ferdinand bediente die Tastatur der Konsole. Auf dem Bildschirm war der Erdball zu sehen.
“Ein Satellitenbild, sagte ich. Ist das alles? Der Roboter zoomte auf eine Stadt. Ich sah den Platz der menschlichen Einsicht, das Kybernetische Institut. Den Spaceport dahinter suchte ich vergeblich. Es war nicht Dunbar.”

Der Raum war fensterlos. Aus den Wänden drang diffuses Licht. Ferdinands Augen flackerten im Halbdunkel, als er fortfuhr: “Dann zoomte der Roboter auf den Gernotplatz, auf meine Wohnung und ich sah mich: Ferdinand Bliesheim vor dem Fernseher, mit einer Flasche Bier in der Hand. Meine Gedanken rasten. Es war eine Kopie von mir. Ich trinke kein Bier.”
Roboter trinken überhaupt nicht. Daniel schüttelte den Kopf und sah auf die Konsole. Ein Joystick und vier Tasten.
“Der Ausschnitt eines Parallel-Universums. Finde heraus und dokumentiere, worin die Unterschiede zwischen dir und deiner Kopie in dem anderen Universum bestehen. Es ist der Wunsch des Zentralcomputers. - Dann entfernte sich der Roboter und ließ mich mit dem Bildschirm allein.”

Daniel setzte sich vor den Monitor. Ferdinand beugte sich über ihn und bewegte den Joystick. Dunbar tauchte auf, dann das Kybernetische Institut.
“Das sind ja wir”, rief Daniel. War er es, oder eine Kopie? Sie saß vor dem Bildschirm. Die hagere Gestalt, das schmale Gesicht mit den tiefliegenden Augen und eingefallenen Wangen. Hinter ihr ein Roboter.
Ferdinand schaltete den Ton dazu. “Der Roboter ist Anna, meine Frau in der Parallel-Welt.”
“Anna”, hörte Daniel seinen Doppelgänger sagen. “Und auf diesem Bildschirm hast du gesehen, dass dein Mann dich in der Parallel-Welt vom Balkon gestoßen hat?”
“Mein eigener Mann”, sagte der Roboter auf dem Bildschirm. “Ich hatte Angst. Ein Parallel-Universum”, fuhr er fort. “Gab es Unterschiede zur realen Welt? Ich wusste es nicht. Die Furcht überwältigte mich. Was war, fragte ich mich, wenn der Unterschied zur Parallel-Welt nur darin bestand, dass er mich nicht vom Balkon stieße sondern erdrosselte? Ich betäubte diese Gedanken mit Alkohol, doch sie kamen wieder. Stimmen in meinem Kopf. Sie beherrschten mich, wurden so eindringlich, dass ich es nicht mehr aushielt. Eines Abends stieß ich Ferdinand das Küchenmesser in den Rücken.”

Daniel lehnte sich zurück und atmete langsam aus. “Ein Multiversum. Erstaunlich. Wieviel Universen hat es?”
“Unendlich viele,” erwiderte Ferdinand. “Der Zentralcomputer meint, auf diese Weise gäbe es von uns und unseren Aktionen immer neue Varianten.” Ferdinand deutete auf den Bildschirm. “Ich habe nur Zugang zu diesem hier. Für mich war es eines zuviel.” Er ging auf die Tür zu. “Nun weißt du, wie ich mich fühlte, als ich sah, wie mein Doppelgänger von seiner Frau erstochen wurde. Ich habe Anna vom Balkon gestoßen.”
‘Und der Zentralcomputer hat mit dir getan, was er mit jedem Mörder macht.’ Daniel blieb benommen vor dem Bildschirm sitzen. Kaum hörte er, wie Ferdinand sagte: “Meine Aufgabe hier war in dem Moment erfüllt, als mein Doppelgänger auf dem Friedhof lag. Ich bin ein Roboter. Dieser Unterschied ist dauerhafter Natur.” Dann schlug die Tür hinter dem Roboter zu. Mit zitternden Fingern navigierte Daniel die Anzeige des Bildschirms auf seine Wohnung in der Parallel-Welt. Seine Frau saß im Wohnzimmer auf dem Sofa. Sie trug das Kleid mit den Rosen, das er so an ihr mochte. Sie trüge es nur für ihn, hatte sie gesagt. Doch es war ein Anderer bei ihr.
“Komm”, sagte der junge Mann, stand auf und zog Ellen zu sich hoch. Sie lehnte sich an ihn. Gemeinsam gingen sie ins Schlafzimmer.
Der junge Mann aus der Buchhandlung in der Gernotstraße! Daniel sprang vom Stuhl hoch, ging unruhig hin und her. Eine Parallel-Welt, beruhigte er sich. Sein Blick fiel auf den Bildschirm. Hier gab es einen Unterschied, den Ferdinand hätte dokumentieren können. Ellen war an diesem Tag bei ihrer Mutter. Ohne seinen Blick vom Monitor zu lösen, tastete er die Nummer der Schwiegermutter in den Kommunikator.
“Daniel hier. Kann ich Ellen sprechen? – Was, sie ist nicht bei dir?” Wie gelähmt stand Daniel vor dem Monitor, dann schaltete er ihn aus und verließ den Raum.
Ellen und ein Liebhaber. Unmöglich. Er war zu jung für sie.
“Was rede ich mir ein.” Es war nicht seine Frau, sondern eine Kopie. Wieso wurde er dann wütend?

Als Daniel am Feierabend in der Chromium Bar vor seinem Bier saß, dachte er an Ferdinands Bewusstsein, dessen Emotionen, Gedanken und Erinnerungen, eingeschlossen im Hirn eines Roboters, und er sagte sich, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte, nicht in blinder Wut nach Haus zu fahren und sich zu unüberlegten Handlungen hinreißen zu lassen. Warum auch? Die Frau auf dem Bildschirm war nicht seine Ellen gewesen, sondern die der Parallel-Welt. Daniel versuchte, nicht an das Multiversum zu denken, während seine Finger das Bierglas umspannten und drückten, dass es in tausend Scherben zersprang.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.05.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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