„Lucan, beeil dich doch mal!“
Gabriel spähte über seine Schulter und suchte nach seinem besten Freund, dessen schemenhafte Gestalt in der Dunkelheit nur schwer erkennbar war.
Sie waren mitten in der Nacht aufgebrochen, weil zu dieser Zeit die besten Chancen für sie bestanden, oder vielmehr, die einzige Chance.
Die Gelegenheit, auf die sie so lange gewartet hatten, war nun endlich gekommen: Heute Nacht würden sie fliehen.
Der Tunnel wurde immer enger und schmutziger; ein Anzeichen, so wusste es Gabe, dass sie bald die Kanalisation erreichen würden. Plötzlich packte ihn von hinten jemand an der Schulter – es war Lucan.
„Hörst du das auch?“ zischte er gedämpft.
Gabriel lauschte. Zuerst hörte er nur das Plätschern des Rinnsals, welches sich seinen Weg durch den matschigen Gang bahnte. Doch dann nahm der Junge noch etwas anderes wahr: Suchhunde. Dicht hinter Lucan und Gabe ertönte aufgeregtes, wütendes Bellen und die lauten Rufe der Wächter.
„Laß uns weitergehen“, flüsterte Gabriel seinem Freund zu, „vielleicht schaffen wir es noch.“
Die beiden Jugendlichen setzten ihren Weg durch den Fluchttunnel fort. Es waren nur noch wenige Meter, und sie würden in die Freiheit gelangen…
Der Abend war für die zwei Freunde noch lange nicht vorüber, jedoch fühlte sich Lucan schon jetzt wie zerschlagen. Gabriel und ihm würden ein weiterer Abend voller Dreck und Schlafentzug bevorstehen. Ein Abend an den Verbrennungsmaschinen.
Kohle und Torf in die glühend heißen Öfen der Fabrik einzuschaufeln war nicht nur anstrengend, sondern auch sehr ungesund auf Dauer. Bereits nach wenigen Stunden hatten die beiden Jungen entzündete Augen durch den aufgewirbelten Staub; außerdem konnten sie kaum Luft holen, ohne dass es in der Lunge schmerzte.
Als die zwei nach stundenlanger Arbeit endlich ins Bett gehen durften, fiel Gabriel, kaum dass er sich auf die Matratze gelegt hatte, in tiefen Schlaf. Lucan jedoch konnte trotz seiner Erschöpfung nicht einschlafen. Sein Kopf war voller Gedanken, die ihm jegliche innere Ruhe stahlen. Er dachte an seine Familie. Fast zehn Jahre war es nun her, seit er seine Eltern und seine jüngeren Geschwister zuletzt gesehen hatte. Lucan erinnerte sich, wie es damals gewesen war.
Er war eines der ersten Kinder gewesen, für die das neue Gesetz galt. Da der Landeskreis aus politischen Gründen seit Jahren militärisch abgesichert war, waren die Einwohner isoliert, und es drohte Überbevölkerung. Deshalb hatte die Regierung der Hauptstadt Riverstone das Gesetz erlassen, dass die Bewohner des Landkreises nur eine bestimmte Anzahl an Kindern haben durften. Pro Sippe waren zwei Kinder erlaubt. Jedes Kind, welches die gesetzlich festgelegte Zahl überschritt, wurde in dieser neuen Gesellschaft als Ausgestoßener behandelt. Nützlich waren diese Mädchen und Jungen höchstens als Sklaven.
Die meisten Familien beugten sich diesem Schicksal, weil sie keine andere Möglichkeit zum Überleben sahen. So hatten auch Lucans Eltern gedacht, als sie ihn im Alter von sechs Jahren der Gewalt der Regierung überließen. Sie waren der Meinung, ihrem Sohn würde so ein besseres Leben gewährleistet werden, als auf der Straße, wo sich die verstoßenen Kinder zu Banden zusammenrotteten.
Als sie Lucan an die Regierung verkauften, ahnten seine Eltern nicht, dass sie ihrem eigenen Sohn seine Kindheit stahlen.
Vorheriger TitelNächster Titel"Riverstone" ist ein Roman, den ich zusammen mit meiner Freundin Kristina Sindt verfasst habe. Die Handlung der Geschichte sowie die darin vorkommenden Charaktere sind von uns beiden frei erfunden.
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Viel Spaß beim Lesen wünscht euch
Viola HuberViola Huber, Anmerkung zur Geschichte
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.10.2004.
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