Iris Feller

Susi, die kleine Wolldecke

Es war 19.45 Uhr bei Karstadt. Der Mann hatte seinen Einkaufszettel fast erledigt, bis auf eine Wolldecke, die er für seine Frau noch besorgen wollte. Also rannte er die Rolltreppe hinauf zur Abteilung „Heimtextilien“. Dort angekommen, suchten seine Augen ruhelos den Raum ab. Er musste sich beeilen, denn um 20.00 Uhr würde das Kaufhaus schließen und er wollte nicht unverrichteter Dinge nach Hause fahren. Auf einem der Wühltische erblickte er sie dann. Dutzende Wolldecken in den verschiedensten Farben, Mustern und Größen. „Oh je“, stöhnte er, „wie soll ich da die Richtige finden?“

Währenddessen herrschten auf dem Wolldeckenwühltisch Eifersüchteleien und Missgunst. Jede Wolldecke wollte die Schönste sein und so schnell wie möglich von einem Menschen gekauft werden, um endlich ein gemütliches Zuhause zu haben. Also gab es ein Gedränge und Geschubse, denn jede wollte an die Oberfläche. „Mama! Wo bist du?“ schrie Susi, eine kleine braune Wolldecke, mit tränenerstickter Stimme. Sie hatte ihre Mama schon seit Tagen nicht mehr gesehen, denn der tägliche Kampf der Wolldecken um die besten Plätze an der Oberfläche des Wühltisches hatte sie beide auseinander gerissen. Ängstlich kauerte Susi auf dem Boden des Wühltisches und hoffte, dass ihre Mama sie finden würde.

Der Mann wühlte verzweifelt in der großen Masse Wolldecken und fand einfach nichts Passendes. Er wollte seiner Frau eine schöne neue Wolldecke schenken, in die sie sich während eines kleinen Nickerchens vor dem Fernseher einkuscheln konnte. Ihre alte Wolldecke war schon sehr verschlissen, aber seine Frau konnte sich einfach nicht von ihr trennen. Daher hatte er nur für sich vor einiger Zeit eine Wolldecke gekauft und sie hatte ihm schon gute Dienste während seiner kleinen Schlafpausen geleistet. Der Mann hatte jedoch nicht die sehnsüchtigen Blicke seiner Frau übersehen und sich gedacht, dass sie jetzt doch bereit war, ihre alte Kuscheldecke loszulassen. Jetzt stand er also vor dem Wühltisch und versuchte eine Wolldecke zu finden, die seiner ähnlich war, weil er wusste, dass seiner Frau seine Wolldecke gut gefiel. Sie hatte sich sogar mal – probeweise – seine Decke geschnappt. Es blieb ihm daher keine andere Wahl, als den gesamten Wühltisch unter die Lupe zu nehmen.

Unterdessen lag Susi zusammen geknüllt in den tiefsten Tiefen des Wühltisches, immer noch in der Hoffnung, dass ihre Mama sie finden würde. „Was mache ich nur, wenn meine Mama mich nicht findet“, schluchzte sie leise vor sich hin. „Was ist, wenn sie schon gar nicht mehr hier ist!“ Panik kam in Susi auf. Wenn ihre Mama nämlich noch auf dem Wühltisch gewesen wäre, hätte sie ihr Kind doch bestimmt schon längst gefunden. „Mama ist nicht mehr hier!“ Diese entsetzliche Erkenntnis brannte sich in ihr kleines Hirn. Susi nahm ihren ganzen Mut und ihre ganze Kraft zusammen und stieß sich vom Boden des Wühltisches ab in Richtung Oberfläche. Susi kam jedoch nicht weit. Sie geriet voll in die Machtkämpfe der anderen Wolldecken um die Vorherrschaft an der Oberfläche. Susi wurde hin und her gestoßen, vor und zurück. Nach einigen Minuten wusste Susi gar nicht mehr, wo sie sich befand. Ganz benommen blieb sie liegen.

„Oh nein, geht das schon wieder los!“ dachte Susi mit Erschrecken, als sie jäh von ihrem Ruheplatz fortgezerrt wurde. Sie schaute sich um und sah ... einen Menschen ... einen Mann ... Susi hatte noch nie einen Menschen, noch nie einen Mann gesehen. Ihre Mama hatte ihr jedoch von ihnen erzählt. „Susi“, sagte ihre Mama einmal vor langer Zeit, „wir müssen immer ganz hübsch und kuschelig aussehen, damit die Menschen uns mit nach Hause nehmen.“ „Warum sollen wir denn mit zu ihnen gehen?“ fragte Susi ihre Mama. „Schau dich doch um, mein Liebes. Möchtest du denn hier bleiben? In dieser hektischen und aggressiven Umgebung? Wir wollen doch ein schönes, gemütliches Zuhause haben, wo es uns gut geht und wo man lieb zu uns ist, nicht wahr?“ „Oh ja, Mama!“ rief Susi. „Das wollen wir!“

„Da ist sie!“ frohlockte der Mann. „Endlich habe ich sie gefunden!“ Der Mann griff nach Susi und vergrub sanft seine Hände in ihr. „Ja, sie fühlt sich genauso kuschelig an wie meine Decke“, freute er sich. „Sie hat auch die gleiche Farbe, sie ist allerdings ein bisschen kleiner ... aber meine Frau ist ja auch kleiner als ich ... sie wird sich total freuen!“ Der Mann nahm Susi mit zur Kasse, bezahlte sie und stürmte mit ihr freudestrahlend aus dem Geschäft.

Susi wusste gar nicht wie ihr geschah. Sie konnte noch gar nicht begreifen, was passiert war. „Ich bin ausgewählt worden“, dachte sie mit einem Kloß im Hals. „Ich bin tatsächlich ausgewählt worden!“ Susi wagte es kaum, sich zu freuen. Konnte das wirklich wahr sein? War sie von dem netten Mann aus ihrer verzweifelten Lage gerettet worden? Bekam sie jetzt ein neues Zuhause? Ihre Mama hatte ihr damals gesagt, dass die Menschen ihre Kuscheldecken gut behandeln und lieb haben würden. Sollte sie soviel Glück haben? Glück im Unglück ... denn ihre Mama war nicht da ...

„Christel!“ rief der Mann, als er nach Hause kam. „Wo bist du, Schatz?“ „Ich bin hier“, brummelte eine Stimme aus dem Wohnzimmer. „Hm“, staunte der Mann „das hört sich ja fast so an, als ob mein Schatz auf der Couch eingeschlummert und gerade wach geworden wäre ... aber schon um diese Zeit?“ Als er ins Wohnzimmer kam, sah er seine Frau mit SEINER Decke auf der Couch liegen. Außerdem sah er noch einen dampfenden Tee auf dem Couchtisch stehen und ein ganzes Arsenal an Erkältungsmedizin daneben. „Ich wollte schon mit dir schimpfen, weil du dir wieder meine Decke gekrallt hast!“ neckte der Mann seine Frau. „Aber in diesem Fall“ und er zeigte dabei auf den Couchtisch „drücke ich mal ein Auge zu. Für die Zukunft gehört meine Decke aber wieder mir ... mir ganz allein!“ „Du bist gemein!“ schniefte Christel. „Deine Decke ist so schön kuschelig!“ „Ich weiß.“ „Und ich darf sie mir nicht mehr ausleihen?“ „Nein.“ „Niemals?“ „Nein.“ „Das meinst du nicht ernst!“ „Doch.“ „Und wieso grinst du dann so?“ Der Mann hatte es ziemlich genossen, seine Frau ein wenig zu quälen. Aber nun griff er in seine Einkaufstüte und zog ... ganz langsam ... Susi aus der Tüte. Christels Augen wurden riesengroß. „Das darf doch nicht wahr sein!“ jubelte sie. „Du hast mir eine Kuscheldecke mitgebracht!“ Christel war außer sich vor Freude. Aber da war sie nicht die einzige. Nachdem der Mann Susi hervorholte, ließ sie ihre Blicke durch das gemütliche Wohnzimmer schweifen und sah ... sah? ... sah! Ihre Mama! Ihre Mama war hier! „Mama! Mama!“ rief Susi, für menschliche Ohren allerdings nicht wahrnehmbar, „Mama! Hörst du mich?“ Susis Mama schreckte aus ihren Träumen auf, dachte aber, sie würde immer noch träumen, denn war das gerade die Stimme ihres Kindes? Das konnte doch nicht sein. Sie war hier und ihr Kind auf diesem grässlichen Wühltisch. „Mama! Hier bin ich!“ „Nein, das ist kein Traum!“ Schlagartig war die Mama wach. „Mein Kind ist hier! Mein Kind ist wirklich hier! Danke, lieber Gott! Danke! Danke! Danke!“

Es ist 21.30 Uhr und eine kleine Gruppe glücklicher Seelen schlummert friedlich vor dem Fernseher: Christel, ihr Mann, Susi und ihre Mama.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.11.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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