Sandra Berner

Michael

Die Firma, in der ich arbeite, ist eine der größten Deutschlands. Es gibt bloß noch zwei andere dieser Art, die bessere Verkaufszahlen haben. Zu Recht schwimmen wir oben, sind an der Spitze und können uns deshalb stolz und glücklich schätzen.

Mein erster Tag in dieser Firma liegt nunmehr eineinhalb Jahre zurück. Es war so beeindruckend, dass es mir schwer fiel, meine selbstbewusste Miene und meine furchtlose Art beizubehalten. Ich war fast eingeschüchtert von soviel Kompetenz, Leistung und Wissen, dass ich selbst mir winzig und unbedeutend vorkam. Warum die mich hatten haben wollen, war mir in diesem Moment regelrecht schleierhaft.

"Einen PC, Sie brauchen einen PC", rief mein Chef, als er hastig, einem neuen Geschäft auf den Fersen, an mir vorbeieilte. Zur Sekretärin gewandt, mit der ich gerade ein Pläuschchen über die artgerechte Haltung von Hamstern führte, brüllte er im Hinausgehen: "Los, Schröderchen, besorgen sie der Neuen einen PC. Heute Nachmittag steht das Ding da." Dann verhallte sein Rufen und Frau Schröder und ich sahen uns wissend an. Wissend, dass die ruhigen Zeiten für mich nun vorbei waren.
Ich saß auf meinem Bandscheiben schonenden Bürostuhl, schaute aus dem Fenster und sinnierte über meinen nächsten Auftrag. Ich sollte über ein neues Warenlager mit Hochregalen in Hannoverschreiben. Nun ja, das sind nun mal die wahren Geschichten, die das Leben schreibt.
Als ich gerade zu dem Schluss kam, dass ich selbst mich vermutlich von diesem Hochregalroboter hin und her schieben lassen müsste, um diese Sache interessant zu machen, öffnete sich die Tür und ein großer Mann, der Mr. Proper nicht unähnlich sah, kam herein. Vor sich her trug er einen riesigen Karton, darauf stand ein noch größerer und am kleinen Finger hatte er eine schmale, längliche Schachtel eingehakt.
"Sie brauchen eine neue PC-Ausstattung?", fragte er und ich hatte große Schwierigkeiten, ihn hinter den Papplawinen zu verstehen.
"Eigentlich würde eine ältere auch reichen," gab ich grinsend zurück, "aber wenn´s unbedingt neu sein muss, dann sträube ich mich natürlich nicht."
Ich war erstaunt über das Aussehen dieses Menschen, denn ITler kenne ich persönlich nur in dieser Ausführung: Klein, leichenblass, gekrümmter Rücker, verschreckter Gesichtsausdruck und in der Regel fast vollständig verstummt.
Dieser Mann war aber eher das Gegenteil. Michael war ungefähr einen Meter neunzig groß, hatte einen modisch kahl rasierten Kopf, eine stattliche Statur, war Sonnenbank gebräunt und ausgesprochen kommunikativ. Wir verstanden uns auf Anhieb. Es ist ja nun einmal auch so, dass es immer, ja wirklich immer ratsam ist, sich mit den IT Leuten gut zu verstehen und ich freute mich, dass es mir in dieser Firma vermutlich sehr leicht fallen würde.
Michael und ich sahen uns fast jeden Tag. Er kam in mein Büro und wir tratschten über den neusten Klatsch, stellten Vermutungen über die neuen Verhältnisse der Kollegen an, lästerten über das schreckliche Outfit der Assistentinnen und fachsimpelten über Autos.
Manchmal rief ich ihn an, wenn ich ein Problem mit meinem Notebook hatte und wenn sich später herausstellte, dass ich lediglich vergessen hatte, ein Kabel einzustöpseln, jagte er mich scherzhaft durchs ganze Büro. Wenn ich neue Schuhe gekauft hatte - und das kam immerhin mindestens einmal die Woche vor - dann musste ich sie ihm immer vorführen. Nicht, weil er das unbedingt wollte, sondern weil es schön war, dass er sich immer mit mir freute und - zumindest scheinbar - vollstes Verständnis für meinen Tick hatte.
Wenn er mich ärgern wollte, schlich er sich in mein Büro, sperrte meinen PC-Account und wartete, bis ich völlig hilflos bei ihm anrief und ihn bebetteln und bestechen musste, er möge mich wieder freischalten.
In den Pausen gingen wir manchmal gemeinsam essen und er gab mir dann immer einen kleinen Einblick in sein Privatleben. Er hatte einen Sohn im Teenager-Alter, den er bisher noch nie gesehen hatte. Nun hatte sich die Mutter des Jungen gemeldet, da der Junior ein paar Pubertätsprobleme hatte und scheinbar seinen Vater brauchte. Michael hatte ihn nur ein paar wenige Male gesehen, doch bereits jetzt war aus seinen Erzählungen herauszuhören, wie stolz er auf seinen Sohn war. Er war scheinbar ein sehr guter Handballspieler und Michael erzählte gerne, dass er der Star des Teams war. Michaels Tochter war zwei Jahre alt und auch zu deren Mutter hatte er kaum Kontakt. Die Kleine, die er liebevoll "das Monster" nannte, besuchte ihn alle zwei Wochen und spielte dann mit seinen Nichten und Neffen, die in seiner Nähe wohnten.
Obwohl er ein ausgeglichener, freundlicher, lieber und einfach netter Mensch war, drängte sich mir manchmal der Eindruck auf, dass er auch einsam war. Da wir beide Singles waren wusste ich, dass jeder von uns ab und an ein paar einsame Momente durchlebte. Das ist nun mal der Preis des Junggesellen Daseins. Heute frage ich mich, warum wir nicht das Beste daraus gemacht und mehr Zeit miteinander verbracht haben.

Am siebten Dezember wollte unsere Abteilung eine Weihnachtsfeier veranstalten. Ein paar Stunden zuvor, es war gegen Mittag, rief mich ein Kollege aus der IT-Abteilung an und sagte, ich könne mein Notebook - mittlerweile schon wieder ein Neues - oben abholen. Ich stieg oben aus dem Fahrstuhl aus und sah Kai, Michaels Kollegen, an meinem Laptop rumfummeln.
"Da hast Du es", sagte er und überreichte mir ein nagelneues Centrino-Notebook, "Du weißt ja hoffentlich, dass normale Angestellte in der Regel nicht so ein Megateil bekommen, oder?" Ja, das wusste ich. Michael hatte dafür gesorgt, weil ich ihm tagelang in den Ohren gelegen und gewinselt hatte.
"Wo ist Micha eigentlich?", fragte ich.
"Der muss beim Chef zu Hause was installieren, der kommt aber gleich noch."

Eine Stunde bevor wir uns auf den Weg zur Feier machten, erreichte mich die bisher schlimmste Nachricht meines Lebens: Michael war tot.

Das Gefühl, was augenblicklich in mir aufstieg, war so schrecklich und so überwältigend schmerzhaft, dass man es mit Worten niemals ausdrücken kann. Ich sank förmlich in mich zusammen und für ein paar Sekunden war ich zu wackelig auf den Beinen, um mich überhaupt zu bewegen.

Die nächsten Tage zogen an mir wie ein grauer Nebel vorbei und ich bekam nichts wirklich mit. Mit 39 Jahren war mein lieber Kollege, mein Freund an natürlichem Herzversagen gestorben.
Sobald das Gespräch auf diese Tragödie kam wusste jeder eine schreckliche Todesgeschichte zu erzählen. Freunde, Familienangehörige oder Bekannte waren "Morgens aufgestanden und einfach tot umgefallen". Ich hörte all diese Geschichten, von denen ich mich fragte, warum man mir diese erzählte. Wollte man mich trösten? War ich, weil ich die einzige war, die diesen engen Kontakt zu ihm gehabt hatte, nun eine Art Witwe, dass alle meinten, mich trösten zu müssen? Ich fand es schrecklich, wenn man mir sagte "Ja, Sandra, das ist echt superscheiße, aber das Leben geht weiter, glaub´ mir."
Unser Praktikant erzählte die Geschichte irgendeines Stammes, der die Meinung vertrat, wir Menschen seien nur im Traum hier auf der Erde und wenn wir aufwachten, würden wir zurück in den Himmel gehen. Als seine 86 jährige Nachbarin neulich gestorben war..
An dieser Stelle konnte und wollte ich es nicht mehr hören. Es ging nicht um eine alte Frau, nicht um den Onkel von jemandem und auch nicht um die Oma der Verlobten. Es ging um Michael, meinen Michael. Der Mann, der fast täglich auf meinem Sideboard gesessen und sich mit mir unterhalten hatte. Der Michael, der mich oft tröstend in den Arm genommen hatte, wenn es ein bisschen heiß her ging und ich gestresst war. Der mich Süße, Mäuschen, Schnuckelchen oder Darling genannt hatte. Über dessen eMails ich mich amüsiert hatte, der mich aufgemuntert und liebevoll geneckt hatte. Es ging darum, dass ich jetzt ohne ihn klarkommen musste, dass ich ihn nicht mehr täglich sehen würde, dass er für immer - wirklich für immer - aus meinem Leben verschwunden war.
Tagelang dachte ich, sein Name würde gleich auf dem Display meines Telefons erscheinen, er wäre dran und würde sagen, es sei alles nur ein Scherz gewesen. Er würde gleich im Türrahmen lehnen, den Kopf schütteln und mich zurechtweisen, weil meine e-Mailbox wieder völlig überfüllt war.
Es ging darum, dass ich vorher noch nie um einen Menschen getrauert hatte und mit der Gewalt der Emotionen, die mich stündlich aufs Neue überkamen, nicht umgehen konnte. Ich fuhr abends mit dem Auto und geriet in eine brenzlige Situation. Mein erster Gedanke, als ich in die Eisen stieg, war, dass ich Micha wieder sehen würde, wenn ich nun sterben würde. Ich malte mir tausendfach unser Wiedersehen aus. Ich wünschte mir mit aller Kraft, noch einmal fünf Minuten mit ihm verbringen zu dürfen um ihm zu sagen, wie sehr ich ihn mochte. Ich wünschte mir, die Zeit zurückdrehen zu können und etwas zu tun, was sein Herzversagen ungeschehen machen würde.
Es ging darum, dass ich Angst hatte, mich nie wieder besser zu fühlen. Ich dachte, dass dieses Gefühl, diese Schwermut, nun für immer anhalten würde. Erst Michas Tod hat mir gezeigt, was wahre Trauer bedeutet. Liebeskummer, den ich bisher für die schlimmste Qual überhaupt gehalten hatte, würde ich in Zukunft viel gelassener begegnen können, denn ich weiß, dass es ein Kinderspiel sein wird.
Es ging darum, dass das Leben eben nicht weitergeht, egal wie oft ich es noch zu hören bekomme. Natürlich läuft im Fernsehen das normale Programm, auf den Straßen fahren Autos und in den Geschäften wird eingekauft. Ich habe alles gesehen und getan. Habe Sex and the City geguckt, bin zur Arbeit gefahren und bin einkaufen gegangen. Aber ich kann mich kaum daran erinnern. Das Leben geht nicht weiter. Mein Leben blieb stehen und was ich tat, tat ich mechanisch, weil es eben sein musste.

Es ist mir erst seit ein paar Tagen möglich, von Michael zu sprechen oder über ihn zu erzählen, ohne dabei in Tränen auszubrechen und ohne wütend zu sein auf das Schicksal. Ganz langsam geht es mir besser und ich bin glücklich, wenn in ein paar Tagen das Jahr 2005 beginnt und ich Michael sTodalseinenTeilmeinerVergangenheitundnichtmeinerGegenwartbetrachtenkann.br
Vergessen werde und will ich ihn nie und ich werde ihn immer als das in Erinnerung behalten was er war: ein großartiger Mensch, guter Freund und mein liebster Kollege.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.12.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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