Georg Kaiser

Nummer 1

Gestern habe ich nach so vielen Jahren meine erste Geliebte zufällig im Zug getroffen,das ist die erste Frau in meinem Leben gewesen.Wir erkannten uns sofort und obwohl fast 17 Jahren vergangen sind war erstaunt zu sehen,dass Marianne die ersten Falten hat und merken,dass die Zeit an ihr bereits spuren zu hinterlassen begonnen hatte.Trotzdem,Marianne gehört zu den Frauen die in reiferen Jahren erahnen lassen wie schön sie damals waren.

Ich lernte Marianne mit 18 Jahren kennen und hatte bereits mein erstes Semester in der Privatschule abgeschlossen wo ich 4 Jahre(und 6 WK´s) Später die Matur hätte absolvieren sollen.Marianne war damals 28 Jahre alt und mit reichlicher Erfahrung im Umgang mit Männer und vielleicht auch in der Liebe;genauer: Das Wort Liebe mag irreführend oder übertrieben sein.Marianne war ein typisches Produkt der studentischen Umgebung der Mitte der achtzigerjahren in einer Zeit als man noch felsenfest davon überzeugt war,dass AIDS nur Homosexuellen und Fixer betreffen konnte.Ihre Freunde lebten ausnahmslos ohne feste Bindungen und wollten gar keine feste Bindungen eingehen obwohl alle durchaus in der Lage waren aus Liebeskummer unsäglich zu leiden.Fast alle in ihrem Bekanntenkreis waren die klassische Vertreter der philosophischen Fakultät der Geisteswissenschaften der UNIZH in der Ära vor dem Internet und als Modern Talking von der Patagonien bis Kalkutta zu hören war.Es war eine sympatische Truppe von ewigen Germanisten (wie sie selber),ewige Ethnologen,ewige Sozialwissenschaftler und unverwüstliche 20-Semestrige hardcore-Studenten deren Hauptsorge darin bestand entweder jemanden des anderen Geschlechts ins Bett zu kriegen oder die richtige Tapeten für die ewige Studentenbude auszuwählen,so gesehen ist es nicht weiter verwunderlich,dass Mariannes Freundenkreis fast ausschliesslich aus ehemaligen Liebhaber bestand oder aus Frauen die mit diesen ehemaligen Liebhaber in der Vergangenheit das Bett teilten.

Ich kann nicht behaupten,dass ich Marianne wirklich geliebt habe,ich kann nur sagen,dass diese Frau für immer einen privilegierten Platz in meiner Erinnerung haben wird,nach ihr habe ich die Frauen mit anderen Augen gesehen.Nicht mehr wie respekteinflössende,fast unerreichbare Objekte der Begierde,sondern als Wesen aus Fleisch,Knochen,Schweiss,Blut und andere Körperflüssigkeiten,nicht mehr als ätherische Ikonen der Sehnsucht die nur Wärme und Geborgenheit spenden Können,sondern als Menschen mit eigenen Ängsten,eigenen Träumen,Alpträume,eigene blühende Landschaften in der Seele und eigene versteckte Leichen im dunkelsten Keller des Herzens.

Der Grund ist sehr einfach:wir waren 2 Jahre zusammen und erstaunten dabei jene die allein aus dem Altersunterschied dachten,dass das ganze nicht mal ein Wochenende dauern würde.Marianne zeigte ein Merkmal das alle anderen Frauen nach ihr zeigen würden,nähmlich eine niederschmetternde Ehrlichkeit.Durch Marianne schöpfte ich zum ersten Male den Verdacht,dass der Sehnsucht und die Erwartungen einer Frau in den besten Jahren an das Leben so gross sein können,dass ein Mann allein ihr Raum der unerfüllten Wünschen nicht auszufüllen vermag und dieser erste Verdacht erhärtete sich mehr und mehr wie in einem Kriminalfall wo am Schluss der Schuldige unter dem Beweislast allmählich erdrückt wird.

Nach Marianne begann für mich eine andere Zeitrechnung,ein Mal sagte sie halb im Scherz: “Alle anderen Frauen,die du nachher haben wirdst sollten sich bei mir bedanken,dass ich dir alles gezeigt habe“.Heute hat dieser Satz nicht mehr die freche Leichtigkeit von Damals,sondern die schwere,fast pompös-verhängnisvolle Eleganz einer biblischen Prophezeiung.

Als Marianne im selben Zug fuhr,war sie in Begleitung ihrer elfjährigen Tochter,die Tochter gehört zu den Mädchen die bereits in diesem Alter erahnen lassen wie schön sie sein werden.Die kleine schaute mich oft an und lauschte den Smalltalk zwischen Marianne und mir,2 Mal richtete ich den Blick auf sie und ihre Tochter starrte mich an um abrupt den Blick abzuwenden,als ich mich von Marianne mit einem Wangenkuss verabschiedete drückte sich ihre Tochter eng an sie mit dem Gesicht zwischen beiden Händen.Marianne fand das sehr lustig und lächelnd versuchte ihrer Tochter zu erklären,dass ich sowas wie ein Freund der Familie bin.Als ich ausgestigen bin war ich froh Marianne nach so langer Zeit gesehen zu haben aber der Blick ihrer Tochter mit seiner Mischung aus kindlicher Faszination und animalischer Angst werde ich nicht vergessen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.01.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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